Fiktion oder Wirklichkeit?
In dem Kunstmärchen „Peter
Schlemihls wundersame Geschichte“ von Adelbert von Chamisso erhält der
Hauptprotagonist im Rahmen eines Tauschhandels von einem namenlosen Mann im
grauen Rock ein verlockendes Angebot: die Herausgabe seines Schattens gegen den
Erwerb eines Glückssäckels, aus dem sich endlos Gold herausnehmen lässt. Die
Einwilligung in diesen Handel zieht für Peter Schlemihl negative Konsequenzen
nach sich. Ohne seinen Schatten erlebt er Ausgrenzung durch die Umwelt, eine
Frau wendet sich von ihm ab. Erst die Bekanntschaft mit seinem treuen Helfer
Bendel, der Peter seinen eigenen Schatten leiht und ihm zu diesem Zwecke nicht
von der Seite weicht, lässt ihn wieder an ein halbwegs normales Leben denken.
Sogar die Verwirklichung seiner Liebe zu Mina scheint plötzlich möglich. Doch
ein Verrat stürzt Peter in eine tiefe Krise, aus der der namenlose Mann
plötzlich mit einem weiteren Handel seinen Nutzen ziehen will. Doch gewarnt
durch den ersten Handel, lehnt der Protagonist das Angebot dieses Mal ab. Doch
der geheimnisvolle Fremde lässt sich so leicht nicht abschütteln…
Neben dem Primärtext enthält die
XL-Ausgabe weitere Materialien zu Leben und Werk des Autors. Neben Erläuterungen
zu Textgestalt und zu sprachlichen Ausdrücken werden auch Hintergründe zum
Lebenslauf des Autors sowie biographische Interpretationsansätze im Anhang
präsentiert. Zudem werden interpretatorische Informationen zum Schattenmotiv,
zur Gattung der Erzählung sowie zu Epochenhintergründen gegeben. Nicht zuletzt
folgen vier exemplarisch ausgewählte Abbildungen und weiterführende
Literaturhinweise auf Sekundärliteratur.
Der Inhalt der Erzählung ist
vielschichtig und komplex, zudem wird an vielen Stellen ganz im Sinne der Epoche
der Romantik mit den erzählerischen Ebenen von Fiktion und Wirklichkeit
gespielt, was mir besonders gefallen hat. Schon zu Beginn des Werks möchte der
Erzähler durch die Schaffung eines scheinbar realistischen Rahmens in Form von
Briefen, die er dem eigentlichen Haupttext voranstellt, den Eindruck erwecken,
dass es sich um eine autobiographische Begebenheit handelt, von der erzählt
wird, und Peter Schlemihl tatsächlich existiert. Diese Gestaltung kann
überzeugen und lässt den Leser irritiert zurück, schließlich folgt sich den
Briefen ein Text aus der Ich-Perspektive, erzählt aus der Sicht von Peter S.,
der an vielen Stellen magische, märchenhafte Elemente aufweist. Dieser Bruch
zwischen Fiktion und Wirklichkeit ist gut inszeniert, zumal dann auch wieder
kurze Passagen vorkommen, in denen sich der Erzähler ganz unvermittelt an
seinen Freund Chamisso wendet. Weiterhin hat mir gefallen, dass die Erzählung
an vielen Stellen Dialogizität erzeugt, z.B. immer dann, wenn der Ich-Erzähler
begründet, warum er nun einen Zeitsprung beim Berichten der Geschehnisse
einbauen muss. Was mich auch beim Lesen begeistert hat, ist die Umsetzung der
Idee des Verlusts des Schattens und welche Konsequenzen dieser Verlust nach
sich zieht, bis hin zu Peter S. Versuchen, seine Umwelt zu täuschen, ebenso wie
die Gestaltung der Teufelsfigur, die mysteriös, bösartig und listig daherkommt.
Allerdings gibt es auch Passagen, die mich als Leser so sehr irritiert haben,
dass sie mich ratlos zurückließen, denen ich also nicht viel abgewinnen konnte,
teilweise auch weil die Nachvollziehbarkeit der Handlung eingeschränkt war:
z.B. die absurde Szene mit dem unsichtbaren Vogelnest oder das Kapitel, in dem
Peter S. die Welt mit Siebenmeilenstiefeln durchschreitet.
Die XL-Ausgabe von Reclam bietet
darüber hinaus eine gelungene Auswahl von Materialien, die eine Deutung des Werks
erleichtern. Besonders hilfreich, aber auch kontrovers geführt, erscheint die
Diskussion um die Frage, inwieweit die Erzählung biographisch gedeutet werden
kann. Mit Hilfe der Lektüre des Anhang wird man selbst zum Nachdenken darüber
angeregt, ob der verlorene Schatten Peter Schlemihls für Chamissos verlorene
Identität als „eingedeutschter Franzose“ stehen kann.
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