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Dienstag, 5. April 2022

Chamisso, Adelbert von - Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Textausgabe mit Kommentar und Materialien


4 von 5 Sternen

Fiktion oder Wirklichkeit? 

In dem Kunstmärchen „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ von Adelbert von Chamisso erhält der Hauptprotagonist im Rahmen eines Tauschhandels von einem namenlosen Mann im grauen Rock ein verlockendes Angebot: die Herausgabe seines Schattens gegen den Erwerb eines Glückssäckels, aus dem sich endlos Gold herausnehmen lässt. Die Einwilligung in diesen Handel zieht für Peter Schlemihl negative Konsequenzen nach sich. Ohne seinen Schatten erlebt er Ausgrenzung durch die Umwelt, eine Frau wendet sich von ihm ab. Erst die Bekanntschaft mit seinem treuen Helfer Bendel, der Peter seinen eigenen Schatten leiht und ihm zu diesem Zwecke nicht von der Seite weicht, lässt ihn wieder an ein halbwegs normales Leben denken. Sogar die Verwirklichung seiner Liebe zu Mina scheint plötzlich möglich. Doch ein Verrat stürzt Peter in eine tiefe Krise, aus der der namenlose Mann plötzlich mit einem weiteren Handel seinen Nutzen ziehen will. Doch gewarnt durch den ersten Handel, lehnt der Protagonist das Angebot dieses Mal ab. Doch der geheimnisvolle Fremde lässt sich so leicht nicht abschütteln…

Neben dem Primärtext enthält die XL-Ausgabe weitere Materialien zu Leben und Werk des Autors. Neben Erläuterungen zu Textgestalt und zu sprachlichen Ausdrücken werden auch Hintergründe zum Lebenslauf des Autors sowie biographische Interpretationsansätze im Anhang präsentiert. Zudem werden interpretatorische Informationen zum Schattenmotiv, zur Gattung der Erzählung sowie zu Epochenhintergründen gegeben. Nicht zuletzt folgen vier exemplarisch ausgewählte Abbildungen und weiterführende Literaturhinweise auf Sekundärliteratur.

Der Inhalt der Erzählung ist vielschichtig und komplex, zudem wird an vielen Stellen ganz im Sinne der Epoche der Romantik mit den erzählerischen Ebenen von Fiktion und Wirklichkeit gespielt, was mir besonders gefallen hat. Schon zu Beginn des Werks möchte der Erzähler durch die Schaffung eines scheinbar realistischen Rahmens in Form von Briefen, die er dem eigentlichen Haupttext voranstellt, den Eindruck erwecken, dass es sich um eine autobiographische Begebenheit handelt, von der erzählt wird, und Peter Schlemihl tatsächlich existiert. Diese Gestaltung kann überzeugen und lässt den Leser irritiert zurück, schließlich folgt sich den Briefen ein Text aus der Ich-Perspektive, erzählt aus der Sicht von Peter S., der an vielen Stellen magische, märchenhafte Elemente aufweist. Dieser Bruch zwischen Fiktion und Wirklichkeit ist gut inszeniert, zumal dann auch wieder kurze Passagen vorkommen, in denen sich der Erzähler ganz unvermittelt an seinen Freund Chamisso wendet. Weiterhin hat mir gefallen, dass die Erzählung an vielen Stellen Dialogizität erzeugt, z.B. immer dann, wenn der Ich-Erzähler begründet, warum er nun einen Zeitsprung beim Berichten der Geschehnisse einbauen muss. Was mich auch beim Lesen begeistert hat, ist die Umsetzung der Idee des Verlusts des Schattens und welche Konsequenzen dieser Verlust nach sich zieht, bis hin zu Peter S. Versuchen, seine Umwelt zu täuschen, ebenso wie die Gestaltung der Teufelsfigur, die mysteriös, bösartig und listig daherkommt. Allerdings gibt es auch Passagen, die mich als Leser so sehr irritiert haben, dass sie mich ratlos zurückließen, denen ich also nicht viel abgewinnen konnte, teilweise auch weil die Nachvollziehbarkeit der Handlung eingeschränkt war: z.B. die absurde Szene mit dem unsichtbaren Vogelnest oder das Kapitel, in dem Peter S. die Welt mit Siebenmeilenstiefeln durchschreitet.

Die XL-Ausgabe von Reclam bietet darüber hinaus eine gelungene Auswahl von Materialien, die eine Deutung des Werks erleichtern. Besonders hilfreich, aber auch kontrovers geführt, erscheint die Diskussion um die Frage, inwieweit die Erzählung biographisch gedeutet werden kann. Mit Hilfe der Lektüre des Anhang wird man selbst zum Nachdenken darüber angeregt, ob der verlorene Schatten Peter Schlemihls für Chamissos verlorene Identität als „eingedeutschter Franzose“ stehen kann.

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