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Freitag, 8. April 2022

Ulitzkaja, Ljudmila - Alissa kauft ihren Tod


5 von 5 Sternen


Eine große Bandbreite erzählerischen Könnens

Ljudmila Ulitzkaja ist eine mutige kritische Stimme der russischen Gesellschaft, ein unbequemer Geist in Russland, die Regierung um Putin hat sie stets offen kritisiert. Ihre jüngste Einschätzung zum Krieg in der Ukraine lautet wie folgt: „Am 24. Februar 2022, hat ein Krieg begonnen. […] Der Wahnsinn eines Mannes und seiner ihm ergebenen Handlanger bestimmt das Schicksal des Landes“ (https://www.akadamie-der-kuenste.de/news/ljudmila-ulitzkaja-statement-zum-krieg-in-der-ukraine/). Dies sollte man wissen, wenn man ihren Erzählband „Alissa kauft ihren Tod“ liest, der jedoch ganz unpolitisch daherkommt.

Der Band, erschienen im Carl Hanser Verlag, enthält 19 Erzählungen, die drei Themenbereichen zugeordnet sind. Der erste Bereich mit dem Titel „Freundinnen“ enthält 6 Erzählungen, die einen durchschnittlichen Umfang von ca. 20 Seiten haben, die zweite thematische Gruppierung „Vom Körper der Seele“ weist 7 Erzählungen mit einem durchschnittlichen Umfang von 7 Seiten auf, und die letzte Zusammenstellung „Sechs mal sieben Miniaturen“ umfasst 6 Erzählungen, die im Durchschnitt 8 Seiten umfassen. Wichtig zu erwähnen ist noch, dass die Erzählungszyklen „Freundinnen“ und „Vom Körper der Seele“ 2019 unter dem Titel „O tele duši“ erschienen sind, wobei die Erzählungen „Züü-rich“ und „Russische Frauen“ aus dem Erzählungsband „Pervye i poslednie“ von 2002 stammen. Der Zyklus „Sechs mal sieben Miniaturen“ hingegen entstand 2020 und ist noch unveröffentlicht.


„Drache und Phönix“

In dieser Erzählung geht es um das lesbische Paar Mussja und Sorifa. Mussja ist schwer krebskrank und nimmt Abschied. Thematisch geht es auch um die Probleme der Akzeptanz der Liebe durch die Familien und um das schwierige Verhältnis von Aserbaidshanern zu Armeniern. Die Erzählung atmet Multikulturalität und weist einen tieftraurigen Erzählton auf.

 

„Alissa kauft ihren Tod“

Die Protagonistin Alissa (64) setzt sich mit ihrem eigenen Tod und der Art des Ablebens auseinander. Es wird in dieser Erzählung v.a. deutlich, wie dicht Leben und Tod, Neuanfang und Ende beieinander liegen können.

 

„Die Ausländerin“

Lilja wird von ihrer Mutter an den arabischen Ausländer Salih als Partnerin vermittelt, beide heiraten, doch das Schicksal stellt das Glück von Lilja und Salih auf eine harte Probe. Der Erzählton weist eine absurde Komik auf, der Text ist amüsant zu lesen. Interkulturalität wird ironisch gefärbt, herrlich ist die Oberflächlichkeit, die pointiert zum Ausdruck kommt, die Figuren werden auf Äußerlichkeiten reduziert.

 

„Gesegnet seien, die…“

Zwei einsame Schwestern verlieren ihre Mutter und nehmen Abschied. Es zeigt sich die Bandbreite des erzählerischen Könnens der Autorin, in dieser Erzählung überwiegt erneut der ernsthaft-traurige Erzählton.

 

„Russische Frauen“

Drei Freundinnen, die über die Trunksucht ihrer Männer schwadronieren und sich während dieses Gesprächs selbst zügellos dem Alkohol hingeben. Sie sind erstaunlich tolerant, was die Akzeptanz des (Fehl-)Verhaltens ihrer Männer angeht. Ein grotesker Einblick in die Mentalität russischer Frauen.

 

„Züü-rich“

Lidija hat es auf den Schweizer Martin als Partner abgesehen, umsorgt ihn liebevoll. Es kommt zur Heirat und Lidija eröffnet mit ihm zusammen in der Schweiz ein russisches Restaurant. Dann erlebt sie einen unerwarteten Schicksalsschlag. Diese Geschichte habe ich als erzählerischen Höhepunkt wahrgenommen. Es geht hier um eine Aufstiegsgeschichte, einmal mehr zeigt sich, dass ein glückliches Leben jäh enden kann, innerhalb der Erzählung schwankt der Erzählton von amüsant zu ernsthaft. Zu Beginn herrscht feine Ironie vor, bei der Beschreibung der Bewirtung Martins durch Lidija schmunzelt man über die skurrilen Absurditäten, doch am Ende der Erzählung ist man davon beeindruckt, wie Lidija mit dem Schicksalsschlag umgeht, sie wirkt unglaublich, fleißig, wissbegierig und kompetent.

 

Erzählungszyklus „Vom Körper der Seele“

Diese Zusammenstellung von Erzählungen ist deutlich abstrakter, symbolischer und allegorischer. Der Inhalt der Erzählungen wird mystischer, teils religiöser-transzendentaler, die sprachlich-erzählerische Gestaltung poetischer. Mir hat die Erzählung „Ein Mensch in Gebirgslandschaft“ am besten gefallen. Geschildert wird das Leben des Jungen Tolik, der sein Talent fürs Fotografieren entdeckt. Es ist eine Entwicklungsgeschichte. Typisch Ulitzkaja ereignet sich eine abrupte Wendung im Leben. Das Glück endet von einem Moment auf den anderen. Auf dem Höhepunkt seines Erfolgt beginnt Tolik zu zittern. Er erkundet daraufhin die von ihm aufgenommenen Fotos mental und lässt die fotografierte Umgebung vor seinem geistigen Auge entstehen. Als weiteren Höhepunkt habe ich die Erzählung „Serpentinen“ wahrgenommen, in der Nadeshda Georgijewna nach und nach ihre Erinnerungen verliert. Sehr anschaulich wird ihr geistiger Niedergang beschrieben, doch das Ende ist hoffnungsvoll. Nach ihrem Tod entwickelt Nadeshda ein Universalverständnis des Kosmos.

 

Erzählungszyklus „Sechs mal sieben Miniaturen“

Diese Gruppierung von Erzählungen folgt einem festen Erzähl-Schema. Einem Oberthema werden jeweils sieben kurze, in sich abgeschlossene Abschnitte zugeordnet, die einen inhaltlichen Bezug zum vorgegeben Thema aufweisen. Die gewählten Themen bewegen sich dabei zwischen den großen menschlichen Themen Tod, Geburt, Krankheit, Leben und Liebe.

So wird in der Erzählung „Sieben Weltuntergänge“ von der Autorin z.B. die Idee entwickelt, sieben verschiedene Untergangsszenarien zu entwerfen. Das Ende der Welt wird herbeigeführt durch Wind (1), Regen (2), Feuer (3), Krankheit (4), Vegetation (5), Erde (6) und Chemie (7). In der Erzählung „Sieben Tode“ hingegen wird das unterschiedliche Ableben von sieben Personen geschildert, die teilweise ihrer eigenen Hilfsbereitschaft oder ihren eigenen Sorgen zum Opfer fallen. Der Erzählton ist dabei sehr sachlich-nüchtern. Letztlich wird durch das erwähnte Erzähl-Schema ein mannigfaltiger und facettenreicher Blick auf ein Thema eröffnet. Die vorgegebene feste Struktur des Erzählens regt direkt zur Nachahmung im Sinne kreativen Schreibens an. Jeder der in sich abgeschlossenen Erzähl-Abschnitte könnte gar Ausgangspunkt für weitere Erzählungen zu den entworfenen Figuren sein. Beeindruckend ist der Ideenreichtum Ulitzkajas.

Fazit

Eine große Bandbreite erzählerischen Könnens, der Erzählton reicht von ernsthaft, traurig über amüsant, humorvoll-ironisch. Mal wird einfühlsam-gefühlvoll erzählt, mal sachlich-nüchtern, häufig sehr pointiert. Ulitzkaja streift immer wieder die großen Themen, in erster Linie sind das „Tod“ und „Liebe“. Ihre Protagonisten werden häufig von Schicksalsschlägen getroffen, häufiger wird deutlich, wie das Lebensglück schlagartig enden kann. Doch auch mystische Geschichten kann sie erzählen. Die Autorin erschafft teils skurrile, teils lebensechte Charaktere. Klare Leseempfehlung, vor allem für solche LeserInnen, die Abwechslung mögen! 

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