Kann nicht mit "Schweig!" und "Atme!" mithalten
Den
psychologischen Thriller „Die Lügen jener Nacht“ habe ich mir zugelegt, nachdem
ich durch die Werke „Atme!“ und „Schweig!“, die ich beide begeistert
verschlungen habe, auf die Autorin Judith Merchant aufmerksam geworden bin. Ich
finde ihren Schreibstil großartig, sie hat v.a. ein ungeheures Talent,
Charaktere detailliert und mit psychologischer Tiefe auszuarbeiten. Hut ab!
Dabei bewegt sie sich stets in einem Spektrum von psychischen Ausnahmezuständen
und schafft es, psychische Krisen und Erregungszustände plausibel,
nachvollziehbar und unglaublich gut beschrieben zu vermitteln.
Allerdings hat der vorliegende Roman auf mich längst nicht eine solche Sogwirkung entfalten können, wie die beiden oben genannten Nachfolgebücher. Woran liegt das? Ein Grund mag sein, dass der psychische Zustand der Protagonistin Mimi, anders als bei Nile („Atme!“) sowie bei Esther und Sue („Schweig!“) weniger deutlich umrissen wird. Man ist sich als Leser lange Zeit unsicher, was mit Mimi eigentlich los ist. Man merkt zwar, dass mit ihr irgendetwas nicht stimmt, davon zeugen ihre Grübeleien und auch die Vorwürfe ihres Ex-Partners Douglas, doch es bleibt nach meinem Empfinden zu lange offen, ob sie nun alkoholabhängig ist, mit einem Hang zu black-outs, oder aber traumatisiert oder depressiv. Zwar finde ich die Auflösung am Ende des Buches gelungen, aber es war ein zu langer Weg, bis sich das Puzzle endlich zusammengefügt hat. Denn bis zur Auflösung am Ende passiert im Buch wenig, bis auf den Mord am Bräutigam natürlich. Über viele Seiten liest man sich durch die detektivischen Gespräche verschiedener Figurenkonstellationen, die sich teilweise im Kreis drehen, und durch die vielen Grübeleien von Mimi. Dabei haben mich die Inhalte oft jedoch kalt gelassen, lediglich gegen Ende nimmt die Spannung nochmals etwas zu, wenn man sich fragt, welches Spiel die vermeintlichen Freundinnen Grit, Alla, Simone und Nina mit Mimi treiben. Auch habe ich mich häufig darüber gewundert, dass die eigenartigen Vermutungen von Mimi, die sie zwischenzeitlich anstellt, dann sogar tatsächlich zutreffen, so z.B. ihre Theorie, dass Simone ihren Mann durch Verabreichung von Hormonpräparaten gefügig macht. Ihre Fähigkeit, Schlussfolgerungen aus dem beobachteten Verhalten zu ziehen und ihr Blick für Details ist erstaunlich gut ausgeprägt. Ein zweiter Grund für die fehlende Sogwirkung ist in meinen Augen, dass man für Mimi als Leser wenig Sympathie oder Mitleid entwickelt, man begegnet ihr über weite Strecken ebenso gleichgültig und distanziert, wie sie ihren Freundinnen begegnet. Das mag daran liegen, dass sie schon zu Beginn des Romans berechnend, gleichgültig und oberflächlich daherkommt, in bestimmten Gedankengängen wirkt sie zudem arrogant und überheblich. Noch dazu klaut sie aus Mittellosigkeit heraus ohne schlechtes Gewissen Geld aus dem Hochzeitsgeschenk des Brautpaars. Mit einer solchen Figur hatte ich doch so meine Probleme, da konnte ich mit der wahnhaften Nile („Atme!“) sowie mit der manipulativen, kontrollsüchtigen Esther und der depressiven Sue („Schweig!“) mehr mitfiebern, diese Figuren haben bei mir mehr Emotionen während des Lesens ausgelöst.
Fazit:
Ein Buch mit einer überzeugenden, durchdachten Auflösung am Ende, aber auch mit spürbaren Längen, und eines mit einer psychologisch erstklassig ausgearbeiteten Hauptfigur, die jedoch wenig Sympathie beim Leser erzeugt.
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