Spannend und faszinierend
Der
Psychologe Daniel hofft auf einen neuen Job bei der Firma „Mental Systems“. Dort
wird es seine Aufgabe sein, das Arbeitsklima zu verbessern bzw. am Laufen zu
halten, Konflikte zu klären und auf die Gesundheit der Mitarbeiter zu achten. Und
obwohl er in seinem Bewerbungsgespräch offen über seine eigenen psychischen
Probleme spricht (er fühlt sich für den Suizid einer ehemaligen Klientin
verantwortlich und lebt mit großen Schuldgefühlen), kriegt er letztlich den
Zuschlag für den neuen Job. Sein Arbeitgeber rechnet ihm seine Offenheit hoch
an. Die Firma, in der Daniel fortan arbeitet, betreibt die Entwicklung einer
starken KI und entwickelt Technologien für das sog. Metaverse, in dem sich
viele Menschen in ihrer Freizeit aufhalten. Die Arbeit bringt es mit sich, dass
Daniel einige dieser technischen Dinge kennen lernt und die angespannte
Stimmung der Belegschaft erlebt. Einiges, was er sieht, verschlägt ihm
regelrecht den Atem. Die Simulationen, die er am eigenen Leib erfährt, wirken
so echt, dass er sogar an der Wirklichkeit zu zweifeln beginnt. Was ist noch
echt? Was ist nur simuliert? Eine Unterscheidung fällt ihm schwer. Daniel
taucht mit der Zeit immer tiefer in die Geheimnisse von „Mental Systems“ ein. Und
er spürt, dass die Mitarbeiter der Entwicklung der KI namens „Virtua“ Misstrauen
entgegenbringen. V.a. die getroffenen Sicherheitsvorkehrungen werden immer
wieder zum Thema. Gleichzeitig steht „Mental Systems“ unter großem Erfolgs- und
Konkurrenzdruck. Eine gefährliche Mischung! Auf diese Weise wird auch
thematisiert, dass Firmen eine große Verantwortung für ihre technologischen
Entwicklungen tragen.
In
einer anderen Perspektive tauchen wir in eine künstlich simulierte Realität
ein, in das sog. Metaverse, und begleiten den jugendlichen Anwaltssohn Jerry
bei seinen Abenteuern in einer virtuellen Fantasywelt. Jerry ist oft sich
selbst überlassen, weil sich niemand um ihn kümmert. Seine schulischen
Leistungen lassen zu wünschen übrig. Und ihm graut davor, eines Tages in die
Fußstapfen seines dominanten Vaters treten zu müssen, der ihm ständig
Vorschriften macht und Erwartungen an ihn richtet. Auch aus diesen Gründen flüchtet
er sich oft ins Metaverse und spielt dort „Unlife“. Dort hat er als Vampirlord Erfolgserlebnisse
und findet Anerkennung. Etwas, das ihm in der wirklichen Welt verwehrt bleibt. Bei
seinen Streifzügen durch die Fantasywelt von Unlife trifft er auf eine
simulierte Spielefigur, zu der er sich stark hingezogen fühlt. Von ihr fühlt er
sich verstanden. Er gerät immer stärker in einen gefährlichen Sog von
Suchterfahrung und verliert sich zunehmend in der virtuellen Spielewelt.
Anscheinend
hat der Autor ein Faible für virtuelle Fantasywelten, auch in anderen Büchern
von ihm bin ich bereits auf diese Idee gestoßen (vgl. dazu frühere Rezensionen
zu „Boy in a white room“ und „girl in a strange land“). Und noch etwas ist mir
aufgefallen. Die Behandlung der Themen von KI und virtueller Realität sind
nicht einseitig negativ. Das finde ich gut! Der Autor beleuchtet immer auch
Vorteile, die die neuen Technologien mit sich bringen könnten. So wird die
Spielefigur, in die sich Jerry verliebt zu haben scheint, zu einer Art
Mathecoach für ihn. Sie vermittelt ihm Inhalte, die er in der Schule nicht
verstanden hat, motiviert ihn zum Lernen und verbessert durch ihr individuelles
Training seine schulischen Leistungen. Auch im weiteren Handlungsverlauf wird
immer wieder in der Schwebe gehalten, ob Virtua ehrlich oder unehrlich agiert. Das
Thema Vertrauen spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle. Täuscht die KI
die Menschen über ihre wahren Absichten oder meint sie es gut mit ihren
Schöpfern? Mir hat sehr gut gefallen, dass ich als Leser mal in die eine, mal
in die andere Richtung mit meiner Einschätzung gelenkt wurde. Das ist richtig
gut arrangiert!
Stellenweise
blitzt auch auf, welche gesellschaftlichen Transformationsprozesse vor sich
gehen, die durch die Entwicklung von neuen Technologien verursacht werden. So
ist z.B. an einer Stelle die Rede davon, dass immer mehr Berufsgruppen ihre
Arbeit verlieren, weil sie durch KI ersetzt werden. Zudem wird ein bedingungsloses
Grundeinkommen eingeführt. Die Handelsstrukturen der Welt sowie das
Konsumverhalten verändern sich. Nicht zuletzt wirkt sich der Aufenthalt im
Metaverse negativ auf die zwischenmenschliche Beziehungsgestaltung aus. Und ich
hatte während der Lektüre oft das Gefühl, dass sich einige Vorahnungen des
Autors womöglich tatsächlich in naher Zukunft so ereignen könnten. Seine
Visionen wirken nicht zu weit hergeholt. Das hat mich oft nachdenklich werden
lassen.
Im
letzten Drittel greift der Autor an zwei Stellen geschickt auf das Mittel von
Zeitsprüngen zurück, um das Geschehen nochmals in eine neue Richtung zu lenken
und der Handlung neue Impulse zu verleihen. Auch das hat mir richtig gut
gefallen. Und noch etwas fand ich sehr gelungen: Das Nachwort! Darin zeichnet
der Autor die jüngsten Entwicklungen im Bereich der KI-Forschung nach und
äußert sogar die Sorge, dass man in naher Zukunft (vielleicht schneller als man
denkt) in der Lage sein wird, eine KI zu entwickeln, die man vielleicht nicht
mehr kontrollieren kann. Eine beängstigende Vorstellung, die hoffentlich
niemals Realität wird und nur eine Idee im Bereich der Science-Fiction bleibt. Kurzum:
Der Thriller „Virtua“ hat mir richtig, richtig gut gefallen. Ein tolles Buch!
Olsberg wird langsam zu einem meiner neuen Lieblingsautoren.