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Montag, 18. November 2024

Olsberg, Karl - Virtua


Spannend und faszinierend



Was wäre, wenn eine Firma kurz vor der Entwicklung einer starken Künstlichen Intelligenz stünde? Welche Absichten würde eine solche KI dann verfolgen? Um diese Fragen dreht sich der Near-Future-Thriller „Virtua“, den ich mit großem Interesse gelesen habe. Die düstere Zukunftsvision, die sich der Autor überlegt hat, könnte tatsächlich in dieser Form irgendwann Realität werden (hoffentlich nicht), wenn die Firma, die die KI entwickelt hat, eines Tages die Kontrolle über sie verliert. Doch worum geht es überhaupt?

 

Der Psychologe Daniel hofft auf einen neuen Job bei der Firma „Mental Systems“. Dort wird es seine Aufgabe sein, das Arbeitsklima zu verbessern bzw. am Laufen zu halten, Konflikte zu klären und auf die Gesundheit der Mitarbeiter zu achten. Und obwohl er in seinem Bewerbungsgespräch offen über seine eigenen psychischen Probleme spricht (er fühlt sich für den Suizid einer ehemaligen Klientin verantwortlich und lebt mit großen Schuldgefühlen), kriegt er letztlich den Zuschlag für den neuen Job. Sein Arbeitgeber rechnet ihm seine Offenheit hoch an. Die Firma, in der Daniel fortan arbeitet, betreibt die Entwicklung einer starken KI und entwickelt Technologien für das sog. Metaverse, in dem sich viele Menschen in ihrer Freizeit aufhalten. Die Arbeit bringt es mit sich, dass Daniel einige dieser technischen Dinge kennen lernt und die angespannte Stimmung der Belegschaft erlebt. Einiges, was er sieht, verschlägt ihm regelrecht den Atem. Die Simulationen, die er am eigenen Leib erfährt, wirken so echt, dass er sogar an der Wirklichkeit zu zweifeln beginnt. Was ist noch echt? Was ist nur simuliert? Eine Unterscheidung fällt ihm schwer. Daniel taucht mit der Zeit immer tiefer in die Geheimnisse von „Mental Systems“ ein. Und er spürt, dass die Mitarbeiter der Entwicklung der KI namens „Virtua“ Misstrauen entgegenbringen. V.a. die getroffenen Sicherheitsvorkehrungen werden immer wieder zum Thema. Gleichzeitig steht „Mental Systems“ unter großem Erfolgs- und Konkurrenzdruck. Eine gefährliche Mischung! Auf diese Weise wird auch thematisiert, dass Firmen eine große Verantwortung für ihre technologischen Entwicklungen tragen.

 

In einer anderen Perspektive tauchen wir in eine künstlich simulierte Realität ein, in das sog. Metaverse, und begleiten den jugendlichen Anwaltssohn Jerry bei seinen Abenteuern in einer virtuellen Fantasywelt. Jerry ist oft sich selbst überlassen, weil sich niemand um ihn kümmert. Seine schulischen Leistungen lassen zu wünschen übrig. Und ihm graut davor, eines Tages in die Fußstapfen seines dominanten Vaters treten zu müssen, der ihm ständig Vorschriften macht und Erwartungen an ihn richtet. Auch aus diesen Gründen flüchtet er sich oft ins Metaverse und spielt dort „Unlife“. Dort hat er als Vampirlord Erfolgserlebnisse und findet Anerkennung. Etwas, das ihm in der wirklichen Welt verwehrt bleibt. Bei seinen Streifzügen durch die Fantasywelt von Unlife trifft er auf eine simulierte Spielefigur, zu der er sich stark hingezogen fühlt. Von ihr fühlt er sich verstanden. Er gerät immer stärker in einen gefährlichen Sog von Suchterfahrung und verliert sich zunehmend in der virtuellen Spielewelt.

 

Anscheinend hat der Autor ein Faible für virtuelle Fantasywelten, auch in anderen Büchern von ihm bin ich bereits auf diese Idee gestoßen (vgl. dazu frühere Rezensionen zu „Boy in a white room“ und „girl in a strange land“). Und noch etwas ist mir aufgefallen. Die Behandlung der Themen von KI und virtueller Realität sind nicht einseitig negativ. Das finde ich gut! Der Autor beleuchtet immer auch Vorteile, die die neuen Technologien mit sich bringen könnten. So wird die Spielefigur, in die sich Jerry verliebt zu haben scheint, zu einer Art Mathecoach für ihn. Sie vermittelt ihm Inhalte, die er in der Schule nicht verstanden hat, motiviert ihn zum Lernen und verbessert durch ihr individuelles Training seine schulischen Leistungen. Auch im weiteren Handlungsverlauf wird immer wieder in der Schwebe gehalten, ob Virtua ehrlich oder unehrlich agiert. Das Thema Vertrauen spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle. Täuscht die KI die Menschen über ihre wahren Absichten oder meint sie es gut mit ihren Schöpfern? Mir hat sehr gut gefallen, dass ich als Leser mal in die eine, mal in die andere Richtung mit meiner Einschätzung gelenkt wurde. Das ist richtig gut arrangiert!

 

Stellenweise blitzt auch auf, welche gesellschaftlichen Transformationsprozesse vor sich gehen, die durch die Entwicklung von neuen Technologien verursacht werden. So ist z.B. an einer Stelle die Rede davon, dass immer mehr Berufsgruppen ihre Arbeit verlieren, weil sie durch KI ersetzt werden. Zudem wird ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt. Die Handelsstrukturen der Welt sowie das Konsumverhalten verändern sich. Nicht zuletzt wirkt sich der Aufenthalt im Metaverse negativ auf die zwischenmenschliche Beziehungsgestaltung aus. Und ich hatte während der Lektüre oft das Gefühl, dass sich einige Vorahnungen des Autors womöglich tatsächlich in naher Zukunft so ereignen könnten. Seine Visionen wirken nicht zu weit hergeholt. Das hat mich oft nachdenklich werden lassen.

 

Im letzten Drittel greift der Autor an zwei Stellen geschickt auf das Mittel von Zeitsprüngen zurück, um das Geschehen nochmals in eine neue Richtung zu lenken und der Handlung neue Impulse zu verleihen. Auch das hat mir richtig gut gefallen. Und noch etwas fand ich sehr gelungen: Das Nachwort! Darin zeichnet der Autor die jüngsten Entwicklungen im Bereich der KI-Forschung nach und äußert sogar die Sorge, dass man in naher Zukunft (vielleicht schneller als man denkt) in der Lage sein wird, eine KI zu entwickeln, die man vielleicht nicht mehr kontrollieren kann. Eine beängstigende Vorstellung, die hoffentlich niemals Realität wird und nur eine Idee im Bereich der Science-Fiction bleibt. Kurzum: Der Thriller „Virtua“ hat mir richtig, richtig gut gefallen. Ein tolles Buch! Olsberg wird langsam zu einem meiner neuen Lieblingsautoren.

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