Selbstermächtigung
Und
auch in ihrem neuesten Buch „White lives matter“ schildert die Autorin den
Entwicklungsprozess einer starken Frauenfigur hin zur Selbstermächtigung. V.a.
für Leserinnen und Leser, die stärker für das Thema „Rassismus“ in seinen
verschiedenen Ausprägungen sensibilisiert werden möchten, ist das Buch ein absoluter
Gewinn. Dafür wagt Kuhnke ein schriftstellerisches Experiment. Sie vertauscht
die Rollen von Mehrheitsgesellschaft und Minderheit, die Hautfarben werden
dafür jeweils ins Gegenteil verkehrt. Auf diese Weise verspricht sie sich, dass
die Leserinnen und Leser sich besser in die Figur und ihre Erlebnisse von
Diskriminierung hineinversetzen können. Ein interessanter Ansatz! Ich habe viel
dazugelernt. Doch worum geht es überhaupt?
Die
weiße Studentin Anna recherchiert für eine Hausarbeit und stößt dabei auf die
Darstellung eines sog. Menschenzoos, in dem ein kleines Mädchen verstirbt (in
diesem Zusammenhang empfehle ich eine Recherche zu dem dunklen Kapitel der sog.
Völkerschauen, die erschreckend lange existiert haben. Die Autorin weist in
ihrem Nachwort auch daraufhin). Anna ist davon sichtlich berührt und wird stark
von dem Thema emotionalisiert. Das Auswerten der Quellen wühlt sie auf und
zugleich spürt sie eine Verbundenheit zu den historischen Personen. Wir erleben
zudem mit, wie Anna mit alltagsrassistischen Verhaltensweisen und
Diskriminierung konfrontiert wird. Selbst in ihrer WG muss sie blöde Sprüche
zum Geruch ihres Essens, das sie sich zubereitet, ertragen. Unangenehmen
Auseinandersetzungen geht Anna lieber aus dem Weg, sie zieht lieber den Kopf
ein. Als Studentin ist Anna vorbildlich. Sie ist pflichtbewusst, kämpft um den
sozialen Aufstieg und glänzt mit sehr guten Noten. Mit ihrer weißen Hautfarbe
ist sie allerdings eine Ausnahme an der Universität. Und was ebenfalls zum
Ausdruck kommt, ist der Umstand, dass Anna ein geringes Selbstwertgefühl hat. Bei
ihrem Professor hat sie aber das Glück, dass sie nicht auf Ressentiments stößt,
sondern er ihr Potential erkennt und sie fördert.
Später
wird Anna zum Ziel eines körperlichen Übergriffes, der sie schwer verstört. Sie
wird im Bus öffentlich gedemütigt und kann sich nur schwer davon erholen. Erstmals
wird ihr klar, wie schnell sie aufgrund ihrer Hautfarbe zu einem Opfer werden
kann. Auch in der Diskothek muss sie rassistische Beschimpfungen über sich
ergehen lassen. Bei einer anschließenden Schlägerei wird Annas Bruder schwer
verletzt und die Polizei agiert falsch. Der Bruder wird wegen seiner Hautfarbe
von der Polizei vorverurteilt. Ein Fall von „racial profiling“, der der
Leserschaft auf diese Weise nähergebracht wird. Das Thema der Polizeigewalt
spielt im weiteren Handlungsverlauf eine wichtige Rolle. Auch die Mechanismen
von strukturellem und institutionellem Rassimus werden in diesem Zusammenhang
gut verdeutlicht. Die Vorkommnisse lösen bei Anna etwas aus. Sie befreit sich aus
ihrer Opferrolle und wird zu einer Aktivistin, die sich gegen
Ungleichbehandlung, Ungleichheit und Rassismus einsetzt. Sie hält Vorträge, um
ihre Zuhörerschaft für diese Themen zu sensibilisieren.
Das Thema Rassismus ist in diesem Buch omnipräsent, man kommt auf keinen Fall daran vorbei. Darauf sollte man sich einlassen wollen, wenn man „White lives matter“ liest. Es ist aber nicht so, dass es der Autorin nur darum geht, eine politische Botschaft loszuwerden und der Inhalt dahinter zurücksteht. Die Geschichte um Anna, ihren Bruder und ihrer Geschichte von Selbstermächtigung übt ebenfalls einen großen Reiz aus und wird ansprechend und mit emotionaler Wucht erzählt. Der Schreibstil von Kuhnke überzeugt, ich blieb über das ganze Buch hinweg an ihren Zeilen haften und habe durchgängig mit großem Interesse weitergelesen. Darüber hinaus kam mir die Darlegungen der verschiedenen Positionen zum Thema Rassismus an keiner Stelle unreflektiert oder undifferenziert vor. Im Gegenteil! Auch habe ich etwas dazugelernt. So ist mir im Vorfeld der Begriff „token“ noch nicht untergekommen. Und vom „racial empathy gap“ hatte ich auch noch nichts gehört.
Letztlich regt die Lektüre des Buchs zum Nachdenken an. Man wird für das Thema des Rassismus in seinen verschiedenen Ausprägungen sensibilisert. Das finde ich sehr gut und wichtig! Doch auch ein Transfer des Gelesenen auf andere Bereiche ist in meinen Augen möglich. Die Mechanismen von Diskriminierung und Ausgrenzung lassen sich auch auf andere stigmatisierte Gruppen übertragen (z.B. Menschen mit psychischen Erkrankungen). Sie sind in meinen Augen nicht ausschließlich auf die Hautfarbe beschränkt (was ist mit sozialer Herkunft und sozioökonomischem Status?). Und auch könnte man sicherlich über das ein oder andere, das in diesem Buch vorkommt, diskutieren. Mit dem Begriff des „racial empathy gap“ tue ich mich z.B. schwer, auch wenn ich kein Experte auf diesem Gebiet bin. Aber wie lässt sich Empathie operationalisieren und messen? Ist Empathie nicht eine sehr individuelle Eigenschaft, weniger eine gruppenspezifische? Und sorgt ein solches Konzept nicht eher für eine größere Kluft, weil man der Gegenseite abspricht, sich in bestimmte Erfahrungsbereiche hineinversetzen zu können?
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