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Mittwoch, 6. November 2024

Kuhnke, Jasmina - White lives matter


Selbstermächtigung



Jasmina Kuhnke habe ich als Autorin erstmals in Zusammenhang mit ihrem Buch „Schwarzes Herz“ wahrgenommen. Sie hat mich mit ihrer Biographie sehr beeindruckt und das Werk ging mir damals ziemlich unter die Haut. Es ging darin um die Lebensgeschichte einer Ich-Erzählerin, die verschiedene Formen von Gewalt und Ausgrenzung in allen Lebensbereichen erlebt. Zentral dabei ist ihr Kampf um Befreiung, die Entwicklung von einem Opfer häuslicher Gewalt hin zu einem selbstbestimmten Leben. Der Inhalt wird dabei mit hoher Emotionalität zum Ausdruck gebracht.

 

Und auch in ihrem neuesten Buch „White lives matter“ schildert die Autorin den Entwicklungsprozess einer starken Frauenfigur hin zur Selbstermächtigung. V.a. für Leserinnen und Leser, die stärker für das Thema „Rassismus“ in seinen verschiedenen Ausprägungen sensibilisiert werden möchten, ist das Buch ein absoluter Gewinn. Dafür wagt Kuhnke ein schriftstellerisches Experiment. Sie vertauscht die Rollen von Mehrheitsgesellschaft und Minderheit, die Hautfarben werden dafür jeweils ins Gegenteil verkehrt. Auf diese Weise verspricht sie sich, dass die Leserinnen und Leser sich besser in die Figur und ihre Erlebnisse von Diskriminierung hineinversetzen können. Ein interessanter Ansatz! Ich habe viel dazugelernt. Doch worum geht es überhaupt?

 

Die weiße Studentin Anna recherchiert für eine Hausarbeit und stößt dabei auf die Darstellung eines sog. Menschenzoos, in dem ein kleines Mädchen verstirbt (in diesem Zusammenhang empfehle ich eine Recherche zu dem dunklen Kapitel der sog. Völkerschauen, die erschreckend lange existiert haben. Die Autorin weist in ihrem Nachwort auch daraufhin). Anna ist davon sichtlich berührt und wird stark von dem Thema emotionalisiert. Das Auswerten der Quellen wühlt sie auf und zugleich spürt sie eine Verbundenheit zu den historischen Personen. Wir erleben zudem mit, wie Anna mit alltagsrassistischen Verhaltensweisen und Diskriminierung konfrontiert wird. Selbst in ihrer WG muss sie blöde Sprüche zum Geruch ihres Essens, das sie sich zubereitet, ertragen. Unangenehmen Auseinandersetzungen geht Anna lieber aus dem Weg, sie zieht lieber den Kopf ein. Als Studentin ist Anna vorbildlich. Sie ist pflichtbewusst, kämpft um den sozialen Aufstieg und glänzt mit sehr guten Noten. Mit ihrer weißen Hautfarbe ist sie allerdings eine Ausnahme an der Universität. Und was ebenfalls zum Ausdruck kommt, ist der Umstand, dass Anna ein geringes Selbstwertgefühl hat. Bei ihrem Professor hat sie aber das Glück, dass sie nicht auf Ressentiments stößt, sondern er ihr Potential erkennt und sie fördert.

 

Später wird Anna zum Ziel eines körperlichen Übergriffes, der sie schwer verstört. Sie wird im Bus öffentlich gedemütigt und kann sich nur schwer davon erholen. Erstmals wird ihr klar, wie schnell sie aufgrund ihrer Hautfarbe zu einem Opfer werden kann. Auch in der Diskothek muss sie rassistische Beschimpfungen über sich ergehen lassen. Bei einer anschließenden Schlägerei wird Annas Bruder schwer verletzt und die Polizei agiert falsch. Der Bruder wird wegen seiner Hautfarbe von der Polizei vorverurteilt. Ein Fall von „racial profiling“, der der Leserschaft auf diese Weise nähergebracht wird. Das Thema der Polizeigewalt spielt im weiteren Handlungsverlauf eine wichtige Rolle. Auch die Mechanismen von strukturellem und institutionellem Rassimus werden in diesem Zusammenhang gut verdeutlicht. Die Vorkommnisse lösen bei Anna etwas aus. Sie befreit sich aus ihrer Opferrolle und wird zu einer Aktivistin, die sich gegen Ungleichbehandlung, Ungleichheit und Rassismus einsetzt. Sie hält Vorträge, um ihre Zuhörerschaft für diese Themen zu sensibilisieren.

 

Das Thema Rassismus ist in diesem Buch omnipräsent, man kommt auf keinen Fall daran vorbei. Darauf sollte man sich einlassen wollen, wenn man „White lives matter“ liest. Es ist aber nicht so, dass es der Autorin nur darum geht, eine politische Botschaft loszuwerden und der Inhalt dahinter zurücksteht. Die Geschichte um Anna, ihren Bruder und ihrer Geschichte von Selbstermächtigung übt ebenfalls einen großen Reiz aus und wird ansprechend und mit emotionaler Wucht erzählt. Der Schreibstil von Kuhnke überzeugt, ich blieb über das ganze Buch hinweg an ihren Zeilen haften und habe durchgängig mit großem Interesse weitergelesen. Darüber hinaus kam mir die Darlegungen der verschiedenen Positionen zum Thema Rassismus an keiner Stelle unreflektiert oder undifferenziert vor. Im Gegenteil! Auch habe ich etwas dazugelernt. So ist mir im Vorfeld der Begriff „token“ noch nicht untergekommen. Und vom „racial empathy gap“ hatte ich auch noch nichts gehört.


Letztlich regt die Lektüre des Buchs zum Nachdenken an. Man wird für das Thema des Rassismus in seinen verschiedenen Ausprägungen sensibilisert. Das finde ich sehr gut und wichtig! Doch auch ein Transfer des Gelesenen auf andere Bereiche ist in meinen Augen möglich. Die Mechanismen von Diskriminierung und Ausgrenzung lassen sich auch auf andere stigmatisierte Gruppen übertragen (z.B. Menschen mit psychischen Erkrankungen). Sie sind in meinen Augen nicht ausschließlich auf die Hautfarbe beschränkt (was ist mit sozialer Herkunft und sozioökonomischem Status?). Und auch könnte man sicherlich über das ein oder andere, das in diesem Buch vorkommt, diskutieren. Mit dem Begriff des „racial empathy gap“ tue ich mich z.B. schwer, auch wenn ich kein Experte auf diesem Gebiet bin. Aber wie lässt sich Empathie operationalisieren und messen? Ist Empathie nicht eine sehr individuelle Eigenschaft, weniger eine gruppenspezifische? Und sorgt ein solches Konzept nicht eher für eine größere Kluft, weil man der Gegenseite abspricht, sich in bestimmte Erfahrungsbereiche hineinversetzen zu können? 

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