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Donnerstag, 21. November 2024

Adler, Sabine - Was wird aus Russland?


Warum hadert die russische Gesellschaft nicht mit dem Krieg?



Sabine Adler legt ein Sachbuch zu Russland vor, das einen interessanten Titel trägt: „Was wird aus Russland?“ Diese Frage stelle ich mir auch regelmäßig. Der Krieg dauert nun schon 1000 Tage und es macht nicht den Eindruck, als würde ein Ende der Kämpfe nahen. Nein, stattdessen sieht es danach aus, als würde nun eine neue Eskalationsstufe erreicht. Was mich nach wie vor wundert, ist der Umstand, warum es in Russland selbst nicht „rumort“. Die Regierung sitzt nach wie vor fest im Sattel, es macht nicht den Eindruck, als haderten die Russen mit dem von Putin losgetretenen Angriffskrieg. Oder ist die Angst vor den Repressionen einfach zu groß? Brodelt es unter der gesellschaftlichen Oberfläche vielleicht mehr als man ahnt? Das sind schwierig zu beantwortende Fragen. Was mich beschäftigt ist aber die Frage, warum kein „Ruck“ durch die russische Gesellschaft geht, in der schon lange keine Pressefreiheit mehr herrscht und die Leute mit Propaganda indoktriniert werden. Woran liegt das? Adler liefert mit ihrer Analyse einige Antworten auf diese Fragen. 

 

Grund 1: Die russische Bevölkerung erhält keine Berichte zum echten Verlauf des Krieges und wird mit „Fake News“ (bzw. Propaganda) durch das russische Fernsehen beliefert. Adler macht deutlich, wie schwer es für Journalisten im Land geworden ist, Informationen zu beschaffen. Sie hätten mit starken Repressionen zu kämpfen und würden massiv eingeschüchtert. Es gibt nur wenige Mutige, die unter Gefahr für Leib und Leben im Untergrund weiter ihrer journalistischen Arbeit nachgehen. Doch die Gesellschaft lebt in einer vom Kreml geschaffenen Wirklichkeitsblase.

 

Grund 2: Nach Einschätzung der Autorin ist die russische Bevölkerung wenig von den Sanktionen betroffen. Adler erläutert, dass sich in der Bevölkerung sogar eine Art Trotzreaktion entwickelt hätte und sie der Meinung sei, der Krieg müsse um jeden Preis gewonnen werden, um das Ansehen des Landes zu bewahren. Man sei zwar nicht zufrieden damit, dass der Krieg begonnen worden ist, und finde es auch nicht gut, dass Putin das Land in diese Lage gebracht hat, aber nun sei es wichtig, einen Sieg zu erringen. Viele russische Bürgerinnen und Bürger hätten Angst vor der Zukunft und davor, dass Russland den Krieg verliert. Inzwischen ließe sich auch unter den jüngeren Russen, die früher dem Krieg kritisch gegenübergestanden hätten, eine Meinungsänderung beobachten. Oft würde eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben und den Ukrainern eine Mitschuld an dem Ausbruch des Krieges gegeben. Anteilnahme am Leid der Ukraine lasse sich selten erkennen, so Adler.

 

Grund 3: Adler erläutert das Phänomen des „homo sovieticus“. Durch die Erfahrungen mit dem kommunistischen Totalitarismus habe sich die Gesellschaft auf eine negative Art und Weise verändert, so die These. So seien die Menschen auch nach Zusammenbruch der Sowjetunion immer noch gewohnt, sich zu fügen, unterzuordnen, nichts zu hinterfragen, keine eigene Meinung zu haben und sich ihre Freiheit ohne Widerstand nehmen zu lassen. Gehorsam, Gefolgschaft und Anpassung rückten an die Stelle des selbstständigen Denkens. Diese Einstellung hätte das russische Volk tief verinnerlicht und es sei ihm bis heute nicht gelungen, sich davon zu befreien, auch weil keine kritische Aufarbeitung der Vergangenheit stattgefunden hat. Die Russen seien es nicht gewohnt, aufzubegehren. Dies verhindere die Stimmung eines gesellschaftlichen Umbruchs. Der „homo sovieticus“ existiere weiter und Putin hätte sich diesen Umstand zunutze gemacht, um wieder ein autoritäres Regime zu errichten. Wie schon zu Sowjetzeiten wird der Westen wieder als Feindbild aufgebaut, um eine Homogenisierung nach innen zu erreichen, und die Informationen werden, wie damals, staatlich kontrolliert. Ziel von Putin sei es, eine Bedrohungslage und Angst zu erzeugen, um die Gesellschaft auf Linie zu bringen.

 

Grund 4: Die Demokratie habe durch die (wirtschaftliche) Unsicherheit in den 1990er Jahren keinen guten Start in Russland gehabt. Der Großteil der Bevölkerung blieb arm, während sich einige findige Oligarchen munter bereicherten. Diese Erfahrungen hätten die russischen Bürgerinnen und Bürger skeptisch gegenüber demokratischen Strukturen werden lassen. Viele waren mit ihren eigenen Problemen beschäftigt und haben sich lieber ins Private zurückgezogen. Hinzu komme ein großes politisches Desinteresse der Gesellschaft. Das Bedürfnis, politisch Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen, wenn etwas falsch läuft, sei nur gering ausgeprägt. V.a. die jungen Leute interessierten sich mehr für Konsum als für die eigene Freiheit. Hinzu kommt, dass diejenigen, die sich zu sehr politisch engagieren oder gar opponieren, Sanktionen zu befürchten hätten. Der Staatsapparat habe einige Anstrengungen unternommen, um die Meinungsfreiheit zu untergraben und eine politische Opposition auszuschalten. Die Russen hätten daraus v.a. gelernt, sich lieber „wegzuducken“, statt politisch aktiv zu werden, um sich nicht selbst zu gefährden. Auch diese Faktoren erschweren ein gesellschaftliches Umdenken.

 

Grund 5: Putin selbst habe in seiner Amtszeit als Präsident dafür gesorgt, die ersten demokratischen Entwicklungen abzuwerten und als von außen aufgezwungen zu ettiketieren. Er hat stattdessen an alte Sowjetzeiten angeknüpft und bedient dabei den Wunsch seiner Bevölkerung, als Großmacht in der Welt wahrgenommen zu werden. Auch die Sehnsucht der Russen nach Stabilität und Sicherheit hat er geschickt für sich ausgenutzt und sich selbst als starken Anführer präsentiert. Bezeichnend ist z.B. auch der Umstand, dass Putin immer dann als besonders beliebt bei der Bevölkerung gilt, wenn er Kriege führt. Seine Kriegslüsternheit werde ihm als Durchsetzungsstärke und Entschlossenheit ausgelegt, so Adler. Die Bezüge Putins auf Russlands imperialistische Vergangenheit dienten auch dazu, dem Land seine Selbstachtung wiederzugeben und das Ansehen als Großmacht nach innen und außen wiederherzustellen. Etwas, das Russland in den orientierungslosen 1990er Jahren verloren hat.

 

Vieles, was die Autorin ansonsten in ihrem Buch beschreibt ist ein Blick in die Glaskugel. Wer weiß schon, was passiert, wenn Russland den Krieg verliert (oder gewinnt...). Wird Putin dann entmachtet? Wer wird ihm nachfolgen? Werden dann Privatarmeen für bürgerkriegsähnliche Zustände sorgen? Oder wird Russland tatsächlich die Konfrontation mit der NATO suchen? Es lassen sich viele und die wildesten Hypothesen aufstellen. Das möchte ich im Rahmen dieser Rezension lieber außen vor lassen und mich nicht daran beteiligen. Sicher ist nur eines und da gebe ich der Autorin absolut Recht: Europa wird einen Weg finden müssen, mit Russland weiter umzugehen, egal wie dieser Krieg ausgeht und wann er endet. Europa und Russland werden Nachbarn bleiben. Daran führt kein Weg vorbei. Wie die Gestaltung dieses Weges dann aussieht, ob sich Russland von innen neu ausrichtet und ob sich die geopolitischen Verhältnisse in Zukunft ändern oder verschieben, wird die Zeit zeigen. Ich bin aber inzwischen skeptisch, wenn es darum geht, dass aus Russland jemals ein demokratisches Land werden wird. Da hatte ich in der Vergangenheit einmal eine andere, optimistischere Meinung und größere Hoffnungen…

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