Warum hadert die russische Gesellschaft nicht mit dem Krieg?
Grund
1: Die russische Bevölkerung erhält keine Berichte zum echten Verlauf des
Krieges und wird mit „Fake News“ (bzw. Propaganda) durch das russische
Fernsehen beliefert. Adler macht deutlich, wie schwer es für Journalisten im
Land geworden ist, Informationen zu beschaffen. Sie hätten mit starken
Repressionen zu kämpfen und würden massiv eingeschüchtert. Es gibt nur wenige
Mutige, die unter Gefahr für Leib und Leben im Untergrund weiter ihrer journalistischen
Arbeit nachgehen. Doch die Gesellschaft lebt in einer vom Kreml geschaffenen
Wirklichkeitsblase.
Grund
2: Nach Einschätzung der Autorin ist die russische Bevölkerung wenig von den
Sanktionen betroffen. Adler erläutert, dass sich in der Bevölkerung sogar eine
Art Trotzreaktion entwickelt hätte und sie der Meinung sei, der Krieg müsse um
jeden Preis gewonnen werden, um das Ansehen des Landes zu bewahren. Man sei
zwar nicht zufrieden damit, dass der Krieg begonnen worden ist, und finde es
auch nicht gut, dass Putin das Land in diese Lage gebracht hat, aber nun sei es
wichtig, einen Sieg zu erringen. Viele russische Bürgerinnen und Bürger hätten
Angst vor der Zukunft und davor, dass Russland den Krieg verliert. Inzwischen
ließe sich auch unter den jüngeren Russen, die früher dem Krieg kritisch
gegenübergestanden hätten, eine Meinungsänderung beobachten. Oft würde eine
Täter-Opfer-Umkehr betrieben und den Ukrainern eine Mitschuld an dem Ausbruch
des Krieges gegeben. Anteilnahme am Leid der Ukraine lasse sich selten
erkennen, so Adler.
Grund
3: Adler erläutert das Phänomen des „homo sovieticus“. Durch die Erfahrungen
mit dem kommunistischen Totalitarismus habe sich die Gesellschaft auf eine
negative Art und Weise verändert, so die These. So seien die Menschen auch
nach Zusammenbruch der Sowjetunion immer noch gewohnt, sich zu fügen,
unterzuordnen, nichts zu hinterfragen, keine eigene Meinung zu haben und sich
ihre Freiheit ohne Widerstand nehmen zu lassen. Gehorsam, Gefolgschaft und
Anpassung rückten an die Stelle des selbstständigen Denkens. Diese Einstellung
hätte das russische Volk tief verinnerlicht und es sei ihm bis heute nicht
gelungen, sich davon zu befreien, auch weil keine kritische Aufarbeitung der
Vergangenheit stattgefunden hat. Die Russen seien es nicht gewohnt,
aufzubegehren. Dies verhindere die Stimmung eines gesellschaftlichen Umbruchs. Der
„homo sovieticus“ existiere weiter und Putin hätte sich diesen Umstand zunutze
gemacht, um wieder ein autoritäres Regime zu errichten. Wie schon zu
Sowjetzeiten wird der Westen wieder als Feindbild aufgebaut, um eine Homogenisierung
nach innen zu erreichen, und die Informationen werden, wie damals, staatlich
kontrolliert. Ziel von Putin sei es, eine Bedrohungslage und Angst zu erzeugen,
um die Gesellschaft auf Linie zu bringen.
Grund
4: Die Demokratie habe durch die (wirtschaftliche) Unsicherheit in den 1990er
Jahren keinen guten Start in Russland gehabt. Der Großteil der Bevölkerung
blieb arm, während sich einige findige Oligarchen munter bereicherten. Diese
Erfahrungen hätten die russischen Bürgerinnen und Bürger skeptisch gegenüber demokratischen
Strukturen werden lassen. Viele waren mit ihren eigenen Problemen beschäftigt
und haben sich lieber ins Private zurückgezogen. Hinzu komme ein großes
politisches Desinteresse der Gesellschaft. Das Bedürfnis, politisch
Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen, wenn etwas falsch läuft, sei nur
gering ausgeprägt. V.a. die jungen Leute interessierten sich mehr für Konsum
als für die eigene Freiheit. Hinzu kommt, dass diejenigen, die sich zu sehr
politisch engagieren oder gar opponieren, Sanktionen zu befürchten hätten. Der
Staatsapparat habe einige Anstrengungen unternommen, um die Meinungsfreiheit zu
untergraben und eine politische Opposition auszuschalten. Die Russen hätten
daraus v.a. gelernt, sich lieber „wegzuducken“, statt politisch aktiv zu
werden, um sich nicht selbst zu gefährden. Auch diese Faktoren erschweren ein
gesellschaftliches Umdenken.
Grund
5: Putin selbst habe in seiner Amtszeit als Präsident dafür gesorgt, die ersten
demokratischen Entwicklungen abzuwerten und als von außen aufgezwungen zu
ettiketieren. Er hat stattdessen an alte Sowjetzeiten angeknüpft und bedient
dabei den Wunsch seiner Bevölkerung, als Großmacht in der Welt wahrgenommen zu
werden. Auch die Sehnsucht der Russen nach Stabilität und Sicherheit hat er
geschickt für sich ausgenutzt und sich selbst als starken Anführer präsentiert.
Bezeichnend ist z.B. auch der Umstand, dass Putin immer dann als besonders
beliebt bei der Bevölkerung gilt, wenn er Kriege führt. Seine Kriegslüsternheit
werde ihm als Durchsetzungsstärke und Entschlossenheit ausgelegt, so Adler. Die
Bezüge Putins auf Russlands imperialistische Vergangenheit dienten auch dazu,
dem Land seine Selbstachtung wiederzugeben und das Ansehen als Großmacht nach
innen und außen wiederherzustellen. Etwas, das Russland in den
orientierungslosen 1990er Jahren verloren hat.
Vieles,
was die Autorin ansonsten in ihrem Buch beschreibt ist ein Blick in die
Glaskugel. Wer weiß schon, was passiert, wenn Russland den Krieg verliert (oder
gewinnt...). Wird Putin dann entmachtet? Wer wird ihm nachfolgen? Werden dann
Privatarmeen für bürgerkriegsähnliche Zustände sorgen? Oder wird Russland
tatsächlich die Konfrontation mit der NATO suchen? Es lassen sich viele und die
wildesten Hypothesen aufstellen. Das möchte ich im Rahmen dieser Rezension
lieber außen vor lassen und mich nicht daran beteiligen. Sicher ist nur eines
und da gebe ich der Autorin absolut Recht: Europa wird einen Weg finden müssen,
mit Russland weiter umzugehen, egal wie dieser Krieg ausgeht und wann er endet.
Europa und Russland werden Nachbarn bleiben. Daran führt kein Weg vorbei. Wie
die Gestaltung dieses Weges dann aussieht, ob sich Russland von innen neu
ausrichtet und ob sich die geopolitischen Verhältnisse in Zukunft ändern oder
verschieben, wird die Zeit zeigen. Ich bin aber inzwischen skeptisch, wenn es
darum geht, dass aus Russland jemals ein demokratisches Land werden wird. Da
hatte ich in der Vergangenheit einmal eine andere, optimistischere Meinung und größere
Hoffnungen…
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