Gefährliche Nähe
Schon der einleitende Prolog lässt jede Menge offene Fragen im Kopf entstehen. Es wird ein Leichnam verscharrt. Doch wer erzählt dort? Man weiß nicht, um wen es sich bei der Leiche handelt und wer sie verschwinden lassen will. Höchst mysteriös…
Danach lernen wir Eve kennen, die mit Nate verheiratet ist und an der gemeinsamen Ehe nicht viel zu schätzen weiß. Obwohl sie ein Haus und einen erfüllenden Beruf sowie einen attraktiven Ehemann mit vielen positiven Charaktereigenschaften hat, wirkt sie sehr unzufrieden. Eve vermisst Nähe, Zuneigung, Zweisamkeit und auch Abwechslung. Das Beziehungsleben empfindet sie als eintönig. Es folgt immer denselben Ritualen. Zugleich wird deutlich, dass Eve viel Wert auf Äußerlichkeiten legt. Das lässt sie in meinen Augen v.a. zu Beginn recht oberflächlich und nicht gerade sympathisch wirken. Schon bald erfährt sie, dass eine neue Schülerin ihre Klasse besuchen wird: Addie.
Mit Addie (Langform: Adeline) machen wir ebenfalls auf den ersten Seiten Bekanntschaft. Sie verspürt eine deutliche Schulunlust und würde am liebsten zu Hause unterrichtet werden. Auch ein Schulwechsel käme ihr durchaus gelegen. Sie beichtet uns Leser:innen, dass irgendetwas im vergangenen Schuljahr vorgefallen ist. Doch was genau, erfahren wir nicht sofort. Es wird nach und nach enthüllt. Sie fühlt sich beobachtet und denkt, dass sich alle um sie herum an das erinnern, was in der Vergangenheit passiert ist. Später erlebt sie auch Anfeindungen durch Mitschüler. Dabei spielt vor allem eine gewisse Kenzie eine zentrale Rolle. Grundsätzlich erscheint Addie aber als eine unauffällige Schülerin, die nicht gern im Mittelpunkt steht. Sie ist eine Außenseiterin und hat nicht viele Freunde.
Eine weitere Figur, die eine wichtige Rolle spielt, ist Nate (der Ehemann von Eve). Von ihm erfahren wir immer durch Aussagen anderer etwas. Wir können uns als Leser zu Beginn also kein gutes Bild von ihm machen und müssen uns auf das verlassen, was andere über ihn mitteilen. Er arbeitet mit Eve an der gleichen Schule und ist in vielen Aspekten genau das Gegenteil von ihr. Er ist zugewandt, empathisch und schülernah. Auch verbringt er viel Zeit in der Schule und macht einen sehr engagierten, aufopferungsbereiten Eindruck. Eve vertritt da eine andere Berufsauffassung. Sie hinterlässt einen strengeren, ungeduldigeren und distanzierteren Eindruck. Während Nate bei den Schüler:innen sehr beliebt ist, kann man das von Eve nicht behaupten. Dennoch macht sie sich um Nate Sorgen, als sie erfährt, dass Addie bald seinen Englischkurs besuchen wird. Aufgrund von Addies Vorgeschichte (über die ich hier lieber nichts verraten will) hat Eve eine böse Vorahnung…
Das Schulleben wird in diesem Thriller gut eingefangen. Die Gesprächsinhalte sind situativ passend gestaltet worden. Man kann gut miträtseln (was in meinen Augen v.a. auch an dem vorangestellten Prolog liegt). Gut arrangiert ist auch, dass die Autorin es schafft, die Sympathien für die Figuren mal in die eine, mal in die andere Richtung zu lenken. In Bezug auf Addie war ich anfangs ziemlich hin- und hergerissen in meinem Urteil. Sie wirkte nicht so arglistig, wie sie durch das Urteil anderer Figuren (und auch durch den Klappentext) dargestellt wurde. Stattdessen hatte man zeitweise eher Mitleid mit ihr, weil sie aus sehr problematischen Verhältnissen stammt. Gleichzeitig habe ich mich bei der Lektüre gefragt, inwieweit man der Einschätzung einer solch unsympathischen Figur wie Eve überhaupt trauen kann. Auch zu Nate ändert sich im weiteren Handlungsverlauf die Bewertung. Das alles ist schon sehr geschickt konzipiert. Ein klarer Vorteil der Ich-Perspektive! Womit ich nicht gerechnet habe, ist, dass sich die Themen „Begierde“ und „Lust“ wie ein roter Faden durchs Werk ziehen (wer mit wem und warum oder warum nicht und wie oft denn gleich… :-). Es spielen sich diverse Beziehungsdramen ab. Da hatte ich in inhaltlicher Hinsicht eine andere Erwartungshaltung. Aber ich konnte mich darauf einlassen und es hat mich nicht gestört. Das Einzige, was ich bemängeln könnte, ist der Umstand, dass der eigentliche „Thrill“ erst spät einsetzt (er hat es dann aber in sich). Insgesamt hat mich dieses Buch aber super unterhalten und es hat mir besser gefallen als „Die Kollegin“. Die ersten beiden Bände der Reihe um das Hausmädchen Millie bleiben aber unerreicht. Trotzdem gibt es von mir 5 Sterne.
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