Über Verlust und Abschiednehmen
Eine Ich-Erzählerin verliert ihre Mutter an den Krebs und durchläuft zu Beginn des Buchs die Formalitäten einer Urnenbestattung. Die Geschehnisse werden dabei auffällig sachlich und knapp-pointiert dargestellt, der Stil ist äußerst nüchtern, lakonisch und unprätentiös. Die bürokratischen Abläufe werden durch warmherzige Erinnerungsepisoden kontrastiert, die die gemeinsame Zeit mit der Mutter thematisieren. Viel Raum nimmt v.a. der Prozess des Abschiednehmens ein. An einigen Stellen ist die Sprache des Romans poetisch-bildhaft. Auch Gedichte werden passagenweise eingebaut. Doch dieses Element taucht nicht überbordend auf. Weitestgehend ist die sprachliche Gestaltung klar und leicht zugänglich.
Nachdem die Einäscherung vorgenommen worden ist, will die Ich-Erzählerin Oxana, die als Dichterin tätig ist (Vorsicht: Autofiktionalität!) die Asche ihrer Mutter nach Sibirien bringen. Bei der Darstellung des Privatlebens von Oxana werden menschliche Abgründe nicht ausgespart: Trunksucht und häusliche Gewalt sowie Aberglaube kommen punktuell mal vor und finden Erwähnung. Darüber hinaus bekennt sich die Protagonistin offen dazu, lesbisch zu sein und eckt in ihrem Umfeld damit an. Sie gewährt uns Einblick in ihre sexuellen Erfahrungen und in ihr Liebesleben, und das ziemlich direkt und unverblümt. Ich habe mich tatsächlich gewundert, dass man solche Inhalte in russischer Literatur noch findet (das Buch ist von 2021). Es wundert mich jedoch nicht, dass die Autorin als Queer-Aktivistin und Feministin Anfeindungen ausgesetzt ist. Sie lebt aber noch nicht im Exil (wie so viele andere Autorinnen und Autoren).
Auch die dunklen Seiten der Krebserkrankung der Mutter werden nicht ausgespart. Diese Passagen gehen sehr unter die Haut und sollten besser nicht von Leserinnen und Lesern gelesen werden, die dadurch „getriggert“ werden könnten. So werden die letzten Wochen und Monate des Zusammenlebens von Mutter und Tochter beschrieben. U.a. geht es auch um das Thema des Verlusts von Weiblichkeit und darum, wie sich Oxana auf den Tod ihrer Mutter vorbereitet. Dabei folgt der Text keiner klaren Struktur. Gedanken, Erinnerungen (v.a. an die Mutter und ihre Beziehungen zu diversen Männern sowie an die Kindheit), Reflexionen und Reiserfahrungen wechseln einander ab. Während die innere Handlung (v.a. die Reflexionen) episodenhaft und essayistisch geschildert wird, wird die äußere Rahmenhandlung in Form der Reise teils schwarzhumorig präsentiert.
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