Deutsch-türkische Leben im Rückblick
Der
todkranke Ich-Erzähler Arda wendet sich in Briefform an seinen Vater Metin, der
das Land nach einem Mord aus Blutrache verlassen hat und in der Türkei im
Gefängnis saß. Da er nichts Genaueres über seinen Vater zu wissen scheint, malt
er sich in seiner Phantasie die Zukunft des Vaters aus. Er fragt sich, nach den
Gründen für dessen Tat und ob er womöglich eine neue Familie gegründet hat. Er
begegnet ihm wütend, vorwurfsvoll und enttäuscht. Während Arda nicht weiß, ob
er überleben wird, lässt er sein Leben in Rückblicken Revue passieren und den
Vater so daran teilhaben.
Der
ernste Gesundheitszustand des Protagonisten ist auch Anlass dafür, dass seine
Mutter und seine Schwester ihn am Krankenbett besuchen und sich nach Jahren der
gegenseitigen Entfremdung erstmals wiedersehen. Auch sie berichten aus der
Vergangenheit und vom Familienleben sowie von familiären Konflikten. Auf diese
Weise entsteht ein Mosaik von verschiedenen Schicksalen vor den Augen der
Leser:innen. Die Rückblicke werden nicht in chronologischer Reihenfolge und aus
den drei Blickwinkeln wiedergegeben. Mal erinnert sich Arda, mal die Schwester,
mal die Mutter. Wir tauchen auf diese Weise in die schwierigen Familienverhältnisse
ein und begleiten die Charaktere in ihrer Entwicklung hindurch durch ein ganzes
Leben.
Die
Leben von Arda, Aylin (= Schwester) und Ümran (= Mutter) können exemplarisch
für Erfahrungen und Lebenswirklichkeiten der türkischstämmigen Migranten der 1.
und 2. Generation in Deutschland stehen, sind aber so individuell ausgestaltet
worden, dass man an keiner Stelle das Gefühl hat, dass Klischees bedient
werden. Im Gegenteil: Die Lebenswelten der Figuren sind alles andere als
typisch „türkisch“ oder wie man sich das Leben von türkischsprachigen Migranten
in Deutschland vorstellt.
Die
Erlebnisse werden atmosphärisch dicht eingefangen. So z.B. der Besuch auf dem
Ausländeramt, um den eigenen Aufenthaltsstatus zu klären. Das Warten, das
Ausgeliefert- und Abhängigsein wird gut deutlich. Und was ebenfalls gut zum
Ausdruck kommt: Die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung. Nachdem Metin die
Familie verlassen hat, ist die Mutter mit der Erziehung ihrer Kinder
überfordert und Aylin kümmert sich stellvertretend um Arda. Sie ist seine
Beschützerin. Und irgendwann eskaliert die Situation. Ümran wiederum hat ein
außergewöhnlich ereignisreiches und traumatisches Leben in der Türkei hinter
sich. Sie überlebt ein Erdbeben und wird zunächst bei ihrer boshaften Tante
groß, als ihre Eltern das Land in Richtung Deutschland verlassen, um dort ihr
Glück zu versuchen. Der Sohn Arda wiederum erinnert sich an seine Jugendjahre
und wie er mit seinen Kumpels „abhing“. Hier tritt die jugendliche Lebenswelt in
Erscheinung. Identitäts- und Zugehörigkeitskonflikte werden ebenso greifbar wie
Berührungen mit Kriminalität und Gewalt.
Insgesamt
wird uns ein äußerst facettenreiches Bild der deutsch-türkischen Realitäten in
Deutschland und in der Türkei geboten. Und der Autor gestaltet die
verschiedenen Blickwinkel äußerst passend und beherrscht das Spiel mit
verschiedenen Sprachregistern. So kommt z.B. in Ardas Schilderung das
jugendsprachliche Element gut zur Geltung. Nur über den Vater hätte ich gern
noch mehr erfahren. Arda kennt nur Bruchstücke aus dessen Leben, um Metin herum
bleibt es recht nebulös und vage. Gleichzeitig eine schöne Leerstelle, die die
Phantasie des Lesers anregt. Das einzige, was ich bei der Lektüre als störend und
verbesserungswürdig empfand, waren die türkischsprachigen Einsprengsel, die man
sich mit Hilfe eines Google-Übersetzers transferieren lassen kann. Ich hätte es
hilfreich und leserfreundlich gefunden, wenn die deutsche Übersetzung in
Klammern dahinter angegeben worden wäre.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen