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Sonntag, 28. Januar 2024

Köhlmeier, Michael - Das Philosophenschiff




4 von 5 Sternen


„Cancel Culture“ im Jahr 1922 in Russland


Die 100-jährige Frau Professor Anouk Perleman-Jacob bittet einen Journalisten darum (etwa ein autofiktionales Element?), Gespräche mit ihr zu führen, um einen biographischen Bericht zu ihrem Leben daraus zu verfassen. Sie blickt auf ein ereignisreiches Leben zurück, wurde 1908 in St. Petersburg geboren und gilt im Roman als eine der bedeutendsten europäischen Architektinnen des Jahrhunderts (es handelt sich um eine fiktive Figur!). Ihr monologischer autobiographischer Bericht, der mitten im russischen Bürgerkrieg im Jahr 1922 beginnt und durch die sprachliche Gestaltung sehr authentisch und realistisch wirkt (obwohl er fiktiv ist), wird immer wieder auch durch dialogische Sequenzen unterbrochen, bei denen sie sich an den Journalisten wendet. Dieser nimmt die Gespräche mit einem Aufnahmegerät auf.

 

Zu Beginn beschreibt sie die elendigen Lebenszustände im russischen Bürgerkrieg (u.a. werden auch Verhöre der damaligen Geheimpolizei geschildert und wir lernen schlagwortartig einige historisch bedeutsame Figuren kennen, die in die fiktive Handlung eingeflochten werden). Die Eltern von Perleman-Jacob zählten zur unliebsamen Intelligenzija. Zahlreiche Intellektuelle wurden Ende 1922 des Landes verwiesen und mit Schiffen deportiert, darunter auch Anouk mit ihren Eltern. Das Ziel dieser Aktion: Kritiker loszuwerden. Diese Zeit nimmt den größten Raum der Schilderung ein und ich empfehle zur Nachbereitung des Romans das Thema nachzurecherchieren. Es lohnt sich!

 

Das Buch macht einen gut recherchierten Eindruck. Ich habe einiges über die russische Geschichte dazugelernt. Die sogenannten „Philosophenschiffe“ waren mir zuvor nicht als Begriff geläufig. Das paranoide Denken der Staatenlenker wird ebenso gut deutlich, wie das beengende und verunsicherte Gefühl der Passagiere an Bord der Schiffe. Den Ausgewiesenen ist nicht klar, was mit ihnen passiert. Es herrscht eine angespannte-angstvolle Atmosphäre an Bord. Das wird gut eingefangen. Niemand traut sich Fragen zu stellen, es herrscht großes Misstrauen. 

 

Einzelne Passagiere werden näher porträtiert. Und den Höhepunkt bilden in meinen Augen die Streifzüge Anouks durch das Schiff. Dabei begegnet sie eines Abends einem Passagier, der sich als Lenin zu erkennen gibt. Er ist von Krankheit schwer gezeichnet. Man fragt sich natürlich, ob die Begegnung der kindlichen Fantasie entspringt, ob sich von den Passagieren jemand als Lenin ausgibt oder ob die Begegnung tatsächlich stattgefunden hat. Vielleicht will Anouk ihre Biographie mit dieser Anekdote zu Lenin auch einfach nur aufwerten? Kurzum: An dieser Stelle sind verschiedene Lesarten möglich, das ist gut arrangiert (letztlich ist die gesamte Begegnung aber natürlich eine Fiktion, Lenin war niemals auf einem Philosophenschiff). Die Unterredung von Anouk und Lenin war für mich die interessanteste Stelle im Buch.

 

Was mich beim Lesen wieder sehr beschäftigt hat, ist die Frage, was real und was fiktiv ist. Beide Ebenen vermischen sich. Man weiß nicht, welche Figur rein fiktiv ist und welche tatsächlich historisch verbürgt ist. An welchen Stellen macht der Autor von künstlerischer Freiheit Gebrauch? An einigen Stellen hätte ich ein gern ein passendes Geschichtsbuch begleitend zur Lektüre gelesen, doch leider gibt es weder ein Nachwort noch weiterführende Literaturhinweise. Teilweise habe ich versucht, Figuren im Internet zu recherchieren, habe aber nichts zu ihnen gefunden (dann werden sie wohl fiktiv sein?! Oder hat der Autor etwa die Passagierlisten zu Rate gezogen, z.B. bei Danil Danilowitsch Sidorow und seine Frau Monja Sidorowa?!).


Für wen ist das Buch geeignet: Sicherlich für Leute, die sich mit russischer Geschichte auskennen und für sie interessieren. Wer auch Parallelen zur heutigen Situation entdecken möchte, ist bei diesem Buch gut aufgehoben (der Vergleich drängt sich ja förmlich auf!). Punktuell geht es z.B. auch um die schwierige Situation der entwurzelten Exilanten im neuen Aufnahmeland. Man kann den inhaltlichen Bogen in meinen Augen sogar bis zur Diskussion um die sogenannten „Cancel Culture“ spannen. Das Buch bietet als viel Stoff zum Nachdenken. Von mir gibt es 4 Sterne! Warum nicht 5 Sterne? Weil ich mir ein Nachwort gewünscht hätte und weil ich den Erzählton stellenweise als etwas zu trocken empfunden habe

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