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Montag, 29. Januar 2024

Strobel, Arno - Mörderfinder Band 3. Mit den Augen des Opfers






Das mysteriöse Tagebuch


Pünktlich vor Erscheinen des vierten Bands der Mörderfinder-Reihe habe ich nun auch den dritten Teil gelesen. Und was soll ich sagen? Strobel geht in meinen Augen irgendwie immer. Man weiß einfach schon vorher, was auf einen zukommt. In den Büchern, die ich von ihm kenne, sind die Ermittlungsfälle stets interessant, realistisch und auch temporeich angelegt. Die Auflösung am Ende ist oft schlüssig und nachvollziehbar. Er übertreibt es nicht mit exzessiven Gewaltdarstellungen. Und seine Erzählweise hat Wiedererkennungswert (vgl. dazu frühere Rezensionen).

 

Wie man es von Strobel kennt, hält er sich auch in diesem Band nicht lange mit Nebensächlichkeiten auf und man ist sofort mittendrin in der Handlung. Max Bischoff erhält einen Anruf von Kriminalrätin Keskin, die ihm eigentlich nicht sehr wohlgesonnen ist. Sie bittet ihn um Hilfe. Eine verstorbene Freundin hat ein Tagebuch hinterlassen, in dem von einer ominösen Schuld die Rede ist. Was hat es damit auf sich? Und zu der Zeit, als das Tagebuch verfasst wurde, ist ein Mann im Dorf spurlos verschwunden. Gibt es da etwa einen Zusammenhang? Bischoff kümmert sich darum, die Sache aufzuklären.

 

Am Ort des Geschehens trifft Bischoff auf eine ehemalige Studentin: Die Kriminalbeamtin Jana Brosius. Keskin hat sie ebenfalls um Hilfe gebeten. Brosius begegnet Max unterkühlt und distanziert. Sie gibt ihm deutlich zu verstehen, dass sie nichts von ihm und seinen Ermittlungsmethoden hält. Doch warum setzt Keskin beide gleichzeitig auf den Fall an? Werden sie noch zueinander finden? Max Nachforschungen konzentrieren sich in erster Linie auf den Bekanntenkreis der verstorbenen Tagebuchschreiberin. Auch Familienangehörige und Dorfbewohner werden befragt. Und schnell wird klar: Max stößt schnell auf Widerstände bei einigen Befragten. Was haben sie zu verbergen? Wissen sie mehr als sie sagen?

 

Und Max holt sich auch dieses Mal Unterstützung von Marvin Wagner, den wir als Schriftgutachter bereits in Band 2 kennen gelernt haben. Wagner ist forensischer Psychologe und erscheint uns als extravagante Figur, die nicht zuletzt aus diesem Grund bei der Lektüre für Abwechslung sorgt. Anders als im zweiten Teil greift Wagner dieses Mal viel aktiver ins Geschehen ein. Das tut der Handlung gut.


Trotzdem habe ich festgestellt, dass mich die Handlung dieses dritten Teils nicht richtig gepackt hat. Insgesamt war es mir zu konventionell und altbekannt. Und ich stelle wieder fest, dass ich zwischen den Büchern von Strobel einfach zeitlichen Abstand haben muss, um sie zu genießen. Das habe ich schon bei „Fake“, „Offline“ und „Sharing“ festgestellt, als ich sie schnell aufeinanderfolgend gelesen habe (vgl. dazu frühere Rezensionen). Auf Dauer ist Strobels Erzählweise dann doch zu gleichartig, auch wenn die Fälle jedes Mal interessant angelegt sind. Ich würde mir wünsche, dass der Autor auch einmal den Mut hat, etwas anderes auszuprobieren, als das, was man schon von ihm kennt. 

Kvensler, Ulf - Der Ausflug. Nur einer kehrt zurück




5 von 5 Sternen



Spannend, spannend, spannend


Wow, ich habe im Moment richtig, richtig Glück mit meiner Thriller-Auswahl: Das Buch „Der Ausflug“ von Ulf Kvensler hat sich als Kracher erwiesen. Ich bin durch die Seiten geflogen und der Autor macht so viel richtig, um Spannung zu erzeugen: Angenehme Kapitellängen, Cliffhanger am Ende eines Kapitels, eine hohe Dialoghaftigkeit, eine authentische Schilderung psychischer Ausnahmezustände, die Darstellung permanenter äußerer Bedrohungen in Form von Naturgewalten, ständig neue spannungserregende Impulse in Form von Widrigkeiten, eine tiefgründige Charakterzeichnung, eine interessant gestaltete Gruppendynamik mit Rivalitäten, Missstimmungen, Unterstellungen und Eifersüchteleien, eine geschickt arrangierte Erzählstruktur mit gut getimten Perspektivwechseln, atmosphärische Naturbeschreibungen, sich abwechselnde Passagen von Anspannung und Entspannung. Die Stärke der Ich-Perspektive wurde hervorragend genutzt, um den Leser zu verunsichern. Die Handlung ist unvorhersehbar (im guten Sinne!) und wendungsreich. Immer wieder müssen schwierige Entscheidungen getroffen werden. Kurzum: Lest dieses Buch und überzeugt euch selbst! Es wird euch mitreißen.

 

Doch worum geht es überhaupt? Die Ich-Erzählerin Anna berichtet ihrer Freundin Milena von einer neuen Männerbekanntschaft und bittet sie darum, dass Jacob bei ihrer schon länger geplanten Wanderung dabei sein darf. Milena reagiert zunächst überrumpelt, hält Rücksprache mit ihrem Partner Henrik und schließlich sind sie und Henrik einverstanden, dass Jacob die Gruppe begleitet. Auf den ersten Seiten geht es zunächst einmal um das gegenseitige Kennenlernen. Und auf der Zugfahrt zum Ort des Reisebeginns schlägt Jacob vor, die Reiseroute spontan zu ändern. Eine tragische Entscheidung, wie sich noch herausstellen wird. Doch mehr verrate ich hier nicht. Nur so viel: Es wird ein heftiger Trip!. Eingeflochten sind auch Zeugenbefragungen von Anna, die man allein aufgefunden hat und die im Rückblick von der Wanderung berichtet. Die Befragungen verrätseln das Geschehen und als Leser:in fragt man sich sofort: Was ist passiert?

 

Es ist wieder eines dieser Bücher, bei dem ich dachte: „Schade, dass es zu Ende ist“. Der Thriller hat auf mich eine unfassbare Sogwirkung entfaltet, auch weil er so abwechslungsreich gestaltet ist. Ein solches Gefühl hatte ich das letzte Mal bei „Wenn Sie wüsste“, mein Thriller-Kracher aus dem Jahr 2023. Und was noch besser ist: Ich habe dieses Mal im Vorfeld überhaupt nicht damit gerechnet. Ich habe angefangen zu lesen und dachte permanent: „Yes, wenn das so weitergeht, wird das ein echter Kracher“. Vom Setting hat es mich auch an „In blaukalter Tiefe“ von Kristina Hauff erinnert (vgl. dazu eine frühere Rezension). Allerdings geht es dieses Mal nicht um einen Segeltörn, sondern um eine gemeinsame Wanderung, bei der man aufeinander angewiesen ist und wenig Privatsphäre hat. Und im weiteren Handlungsverlauf wird das gegenseitige Misstrauen immer größer. Und noch etwas: Man fiebert mit den Protagonisten mit! Ein klares 5-Sterne-Buch.

Sonntag, 28. Januar 2024

Köhlmeier, Michael - Das Philosophenschiff




4 von 5 Sternen


„Cancel Culture“ im Jahr 1922 in Russland


Die 100-jährige Frau Professor Anouk Perleman-Jacob bittet einen Journalisten darum (etwa ein autofiktionales Element?), Gespräche mit ihr zu führen, um einen biographischen Bericht zu ihrem Leben daraus zu verfassen. Sie blickt auf ein ereignisreiches Leben zurück, wurde 1908 in St. Petersburg geboren und gilt im Roman als eine der bedeutendsten europäischen Architektinnen des Jahrhunderts (es handelt sich um eine fiktive Figur!). Ihr monologischer autobiographischer Bericht, der mitten im russischen Bürgerkrieg im Jahr 1922 beginnt und durch die sprachliche Gestaltung sehr authentisch und realistisch wirkt (obwohl er fiktiv ist), wird immer wieder auch durch dialogische Sequenzen unterbrochen, bei denen sie sich an den Journalisten wendet. Dieser nimmt die Gespräche mit einem Aufnahmegerät auf.

 

Zu Beginn beschreibt sie die elendigen Lebenszustände im russischen Bürgerkrieg (u.a. werden auch Verhöre der damaligen Geheimpolizei geschildert und wir lernen schlagwortartig einige historisch bedeutsame Figuren kennen, die in die fiktive Handlung eingeflochten werden). Die Eltern von Perleman-Jacob zählten zur unliebsamen Intelligenzija. Zahlreiche Intellektuelle wurden Ende 1922 des Landes verwiesen und mit Schiffen deportiert, darunter auch Anouk mit ihren Eltern. Das Ziel dieser Aktion: Kritiker loszuwerden. Diese Zeit nimmt den größten Raum der Schilderung ein und ich empfehle zur Nachbereitung des Romans das Thema nachzurecherchieren. Es lohnt sich!

 

Das Buch macht einen gut recherchierten Eindruck. Ich habe einiges über die russische Geschichte dazugelernt. Die sogenannten „Philosophenschiffe“ waren mir zuvor nicht als Begriff geläufig. Das paranoide Denken der Staatenlenker wird ebenso gut deutlich, wie das beengende und verunsicherte Gefühl der Passagiere an Bord der Schiffe. Den Ausgewiesenen ist nicht klar, was mit ihnen passiert. Es herrscht eine angespannte-angstvolle Atmosphäre an Bord. Das wird gut eingefangen. Niemand traut sich Fragen zu stellen, es herrscht großes Misstrauen. 

 

Einzelne Passagiere werden näher porträtiert. Und den Höhepunkt bilden in meinen Augen die Streifzüge Anouks durch das Schiff. Dabei begegnet sie eines Abends einem Passagier, der sich als Lenin zu erkennen gibt. Er ist von Krankheit schwer gezeichnet. Man fragt sich natürlich, ob die Begegnung der kindlichen Fantasie entspringt, ob sich von den Passagieren jemand als Lenin ausgibt oder ob die Begegnung tatsächlich stattgefunden hat. Vielleicht will Anouk ihre Biographie mit dieser Anekdote zu Lenin auch einfach nur aufwerten? Kurzum: An dieser Stelle sind verschiedene Lesarten möglich, das ist gut arrangiert (letztlich ist die gesamte Begegnung aber natürlich eine Fiktion, Lenin war niemals auf einem Philosophenschiff). Die Unterredung von Anouk und Lenin war für mich die interessanteste Stelle im Buch.

 

Was mich beim Lesen wieder sehr beschäftigt hat, ist die Frage, was real und was fiktiv ist. Beide Ebenen vermischen sich. Man weiß nicht, welche Figur rein fiktiv ist und welche tatsächlich historisch verbürgt ist. An welchen Stellen macht der Autor von künstlerischer Freiheit Gebrauch? An einigen Stellen hätte ich ein gern ein passendes Geschichtsbuch begleitend zur Lektüre gelesen, doch leider gibt es weder ein Nachwort noch weiterführende Literaturhinweise. Teilweise habe ich versucht, Figuren im Internet zu recherchieren, habe aber nichts zu ihnen gefunden (dann werden sie wohl fiktiv sein?! Oder hat der Autor etwa die Passagierlisten zu Rate gezogen, z.B. bei Danil Danilowitsch Sidorow und seine Frau Monja Sidorowa?!).


Für wen ist das Buch geeignet: Sicherlich für Leute, die sich mit russischer Geschichte auskennen und für sie interessieren. Wer auch Parallelen zur heutigen Situation entdecken möchte, ist bei diesem Buch gut aufgehoben (der Vergleich drängt sich ja förmlich auf!). Punktuell geht es z.B. auch um die schwierige Situation der entwurzelten Exilanten im neuen Aufnahmeland. Man kann den inhaltlichen Bogen in meinen Augen sogar bis zur Diskussion um die sogenannten „Cancel Culture“ spannen. Das Buch bietet als viel Stoff zum Nachdenken. Von mir gibt es 4 Sterne! Warum nicht 5 Sterne? Weil ich mir ein Nachwort gewünscht hätte und weil ich den Erzählton stellenweise als etwas zu trocken empfunden habe

Montag, 22. Januar 2024

Michaelidis, Alex - Die stumme Patientin






Psychologisch durchdacht und packend


Der Thriller „Die stumme Patientin“ (2019) ist tatsächlich damals an mir vorbei gegangen. Auf den Autor bin ich erst dadurch aufmerksam geworden, dass im Februar sein neues Buch „Insel des Zorn“ erscheint. Doch zurück zu seinem Debut. Dieses wurde sehr gelobt und geht man nach der Anzahl der Bewertungen und Rezensionen auf Amazon, so wurde es auch viel gelesen. Das hat mich neugierig gemacht.

 

Doch worum geht es? Die Künstlerin Alicia wird des Mordes an ihrem Ehemann beschuldigt. Dieser wird eines Tages gefesselt an einem Stuhl und erschossen aufgefunden. Alicia schweigt danach beharrlich zur Tat und malt ein Bild, das den Titel „Alkestis“ trägt. Sie verweist damit auf einen alten griechischen Mythos. Doch warum? Und warum schweigt sie? Was ist an dem Tag wirklich passiert? Von den Medien wird die Schuld von Alicia jedenfalls nicht in Zweifel gezogen. Vor Gericht wird sie von einem Psychiater als verrückt erklärt. Sie kommt in die psychiatrische Sicherheitsverwahrung. Auch nach Jahren des Aufenthalts dort schweigt Alicia weiter. Doch ein forensischer Psychotherapeut will sich ihres Schicksals annehmen und sie zum Sprechen bringen. Wird es ihm gelingen? Und falls ja, was wird Alicia berichten?

 

Der Therapeut Theo Faber wird ausführlich charakterisiert, oft in Form von Rückblicken. Wir lernen sein Leben und das Verhältnis zu seiner Frau besser kennen und stellen fest, dass er selbst mit einigen privaten Problemen zu kämpfen hat. Er ist sehr mit sich selbst beschäftigt. Wird sich das auf seine Arbeit nachteilig auswirken? Er stellt Nachforschungen im familiären Umfeld von Alicia an, führt Gespräche mit Angehörigen und nimmt Akteneinsicht in ihren Fall. Immer wieder versucht er mit Alicia ins Gespräch zu kommen und sie aus der Reserve zu locken. Und durch eingeschobene Tagebucheinträgen, die von Alicia verfasst worden sind, erfahren wir mehr über die unmittelbare Zeit vor der Tat. Wir erhalten einen tieferen Einblick in ihr Eheleben und in ihre Gedanken und Gefühle.

 

Das Tempo des Thrillers ist hoch, der Fall ist spannend angelegt und die Fragen, ob Alicia reden wird und was sie zu berichten hat, tragen den Roman. Ich war sehr gespannt, ob Theo Erfolg hat. Und was mir sehr gut gefallen hat: Die psychologische Seite des Thrillers wirkt weitestgehend authentisch, realistisch und glaubwürdig (kein Vergleich z.B. zu „The Institution“ von Helen Fields, vgl. dazu eine frühere Rezension). Lediglich die Auflösung am Ende hat mich nicht zu 100% überzeugt und war für mich etwas enttäuschend. Aber das ist ja höchst subjektiv. Trotzdem ziehe ich aus diesem Grund einen Stern ab und komme auf 4 Sterne.

Samstag, 20. Januar 2024

Faber, Henri - Gestehe




5 von 5 Sternen



Packend, kreativ und innovativ


Hey Sebastian Fitzek, mach Platz da!  Hier kommt Henri Faber. Der Meister der unvorhersehbaren Wendungen. Von „Kaltherz“ war ich damals begeistert (vgl. eine frühere Rezension). Das war kein 0815-Einheitsbrei, den Faber da vorgelegt hat. Und so viel darf ich schon vorweg nehmen: Das ist in seinem neuesten Thriller „Gestehe“ nicht anders. Ein Wort reicht, um Fabers neuestes Werk zu beschreiben: inhaliert (an einem Tag!).

 

Schon die Einführung des Ermittlers Jacket ist ungewöhnlich. Wir lernen den berühmten Polizisten bei Dreharbeiten eines Films zu dessen Leben kennen. Jacket ist ein nationaler Held. Im Alleingang hat er einen Organhändlerring gesprengt und dabei ein kleines Mädchen gerettet. Nun tingelt er als Werbefigur der Polizei durchs öffentliche Leben in Österreich. Von seinen Kollegen allerdings wird Jacket nicht ernst genommen, er gilt vielen als Witzfigur. Als Kontrast dazu lernen wir den Ermittler Mohammad (Kurzform „Mo“) kennen – Jahrgangsbester der Polizeischule, aber trotz seines Alters von 39 Jahren noch in keiner Führungsposition. Mo blickt anfangs mit Neid auf Jacket. Die Chemie zwischen beiden Figuren ist reizvoll angelegt.

 

Gegenüber von Jackets Wohnhaus findet man eines Tages in einem Gebäude eine Leiche. Bei der Tatortuntersuchung stoßen Jacket und Mo das erste Mal aufeinander. Ein feindseliges Knistern liegt zwischen beiden in der Luft. Doch Jacket wünscht sich Mo als Partner an seiner Seite und hofft darauf an erfolgreiche alte Ermittlungszeiten anzuknüpfen und mal wieder einen Erfolg einzufahren. Mo hingegen ist aber zunächst überhaupt nicht begeistert von dieser Idee. Es läuft auf ein interessantes Zusammenspiel der beiden Ermittler hinaus. Werden sie zueinander finden?

 

Jacket ist der Gegenentwurf zu Mo. Jacket agiert prahlerisch und unprofessionell, doch eigentlich ist er ein psychisches Wrack. Er hat ein Trauma davongetragen, leidet immer noch unter Alpträumen und Schlaflosigkeit, nimmt Medikamente. Doch nach außen zeigt er dies nicht. In der Abteilung wird schlecht über Jacket geredet. Viele Gerüchte ranken sich um seinen einstigen Einsatz, bei dem er zum Helden wurde. Mo hingegen ist pflichtbewusst und gewissenhaft. Allerdings stößt er aufgrund seiner Hautfarbe auf Widerstände. Am seinem Beispiel wird also auch das momentan sehr angesagte Thema „Rassismus“ gestreift (was ich gut finde!). Was gut zum Ausdruck kommt, sind auch die vielen Frotzeleien und ironischen Schlagabtausche innerhalb des Ermittlungsteams. Überhaupt ist die sprachgestalterische Seite bei Faber wieder einmal lobenswert (nein, dieses Mal sind es nicht die asyndetischen Reihungen und Parataxen). An vielen Stellen beweist er kreative Sprachspielereien, baut flotte Sprüche ein und greift auf Elemente von Bildlichkeit zurück. Mir hat das sehr gut gefallen.

 

Als man eine zweite Leiche findet, wird klar, dass jemand die Morde Jacket in die Schuhe schieben möchte. Jacket erkennt Hinweise, die der Täter hinterlässt und die an ihn persönlich gerichtet sind. Der wahre Täter verweist auf ein Manuskript, das Jacket allerdings noch nicht veröffentlich hat. Doch wie ist das möglich? Woher weiß der wahre Täter von dem unveröffentlichten Manuskript und wie gelangte er an Inhalte daraus? Und Jacket verhält sich irrational. Er hat Angst davor, mit den Taten in Verbindung gebracht zu werden und schweigt gegenüber seinen Kollegen. Macht er dadurch nicht noch alles schlimmer? Es läuft darauf hinaus, dass er sich seinen inneren Dämonen von früher stellen muss.

 

Im Zusammenhang mit dem Manuskript werden viele schöne Irritationseffekte erzeugt, die mir sehr gut gefallen haben, weil sie für Verunsicherung beim Lesen sorgen (ein Fest für jeden Germanisten). Erzählte und reale Welt vermischen sich. Doch ich will hier nicht zu viel verraten. Ich fand es äußerst amüsant. Es hätte nur noch gefehlt, dass Jacket uns als Leser direkt anspricht und um Hilfe bittet. Und gleichzeitig wird mit dem Roman „Blutnacht“ noch ein Roman im Roman integriert. Auch hier vermischen sich verschiedene Erzählebenen. Toll arrangiert und sehr innovativ, wie ich finde! Für alle Freunde der Erzähltheorie eine wahre Freude.

 

Was mir ebenfalls gefallen hat: die eingeschobenen Täterkapitel in Form innerer Monologe, die mit „Er“ überschrieben sind und die den Fall weiter verrätseln. Und zum Ende zieht das Maß an Tempo, Spannung und Action noch einmal deutlich an. Ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Alles wirkt rund und in sich schlüssig. Das Ende ist überzeugend und überraschend. Faber nimmt sich auch genügend Zeit, den Inhalt auszuerzählen. Ich finde tatsächlich nichts, was ich an diesem Buch kritisieren kann. Von mir gibt es 5 Sterne!

Freitag, 19. Januar 2024

Schlink, Bernhard - Das späte Leben





Einfühlsam und pietätvoll


Ein schwieriges Thema, das sich Schlink für seinen neuen Roman „Das späte Leben“ vorgenommen hat. Es geht darum, wie jemand mit einer der Diagnose „Bauchspeicheldrüsenkrebs“ umgeht. Der Protagonist hat im besten Fall noch ein halbes Jahr zu leben. Eine Behandlung lehnt er ab. Und durch die Diagnose verändert sich sein Blick auf die Welt. Martin erinnert sich an alte Zeiten, an einzelne Episoden aus seinem Leben. Und er fragt sich zu Beginn, wie er seinen Angehörigen begegnet. Wie teilt man ihnen die Diagnose mit?

 

Wir lernen die Gedankenwelt eines Todkranken kennen. Und ich warne vor: Man sollte in der passenden Stimmung für ein solches Buch sein. Es kann belastend sein. Besonders tragisch finde ich z.B. auch den Umstand, dass Martin einen Sohn im Alter von sechs Jahren hat, von dem er Abschied nehmen muss. Seine Frau stellt Martin die alles entscheidende Frage: Wie will Martin seine letzten Wochen verbringen?

 

Es gibt viele traurige Passagen, z.B. als der Protagonist darüber nachdenkt, was er gerne noch mit seinem Sohn unternommen hätte. Und bei der Lektüre wird man selbst als Leser natürlich mit der Frage konfrontiert, wie man selbst in einer solchen Situation reagieren und handeln würde. Das Thema des Buchs fordert dazu heraus, über die eigene Vergänglichkeit nachzudenken.

 

Schlink erzählt einfühlsam-pietätvoll und er traut sich an die inneren Gedanken des Protagonisten heran, ohne aber zu intim zu werden. So klammert er die dunkelsten Stunden aus und thematisiert bestimmte Dinge, die ich erwartet hätte dafür kaum (z.B. das Thema „Angst“). Martin geht mit seiner Situation recht abgeklärt und gefasst um, war mein Eindruck. Er entschließt sich dazu, seinem Sohn Abschiedsbriefe zu hinterlassen, um ihm auf diese Weise etwas für das Leben mitzugeben.

 

Nun zu dem, was mir nicht so gut gefallen hat: Es gibt noch einen zweiten und dritten Teil des Buchs, wo sich die Handlung in eine Richtung entwickelt, die ich so nicht erwartet hätte. Ein negatives Gefühl spielt auf einmal eine große Rolle: Die Eifersucht. Nach meinem Geschmack hätte es das nicht gebraucht. Ich hätte mir insgesamt eine andere Schwerpunktsetzung gewünscht. Aber das ist höchst subjektiv und mag anderen Leser:innen natürlich ganz anders ergehen. Und noch etwas hat mich ein wenig gestört: Passagenweise wird das Geschehen doch sehr sachlich und nüchtern erzählt, wenig emotional. Aber vermutlich hat der Autor auch bewusst darauf verzichtet.

The last of us






Altbekanntes Format oder neue Impulse für das Zombie-Genre?


Die neue Zombie-Serie „The last of us” räumt bisher ordentlich ab und wird sehr gelobt. Bei den Creative Arts Emmys erhielt sie beispielsweise acht Auszeichnungen. Es gibt auch ein gleichnamiges, äußerst erfolgreiches Videospiel, das mir allerdings nicht bekannt ist. Deswegen kann ich keine Vergleiche zwischen Spiel und Serie anstellen. Ein Vergleich, der sich mir aber noch mehr aufdrängt, ist der zu „The walking dead“. Kann „The last of us“ hier neue Impulse setzen oder ist im Zombie-Genre nicht bereits alles auserzählt?

 

Der Auftakt zur Serie ist schon einmal sehr gut. Wir erleben als Zuschauer:innen unmittelbar mit, wie die Katastrophe ihren Anfang nimmt. Danach folgt ein Zeitsprung von 20 Jahren und wir sehen, was nach der Pilz-Pandemie aus der Welt geworden ist. Und gleichzeitig erfahren wir in Rückblicken mehr zum Ausbruch der Krankheit und zu den Lebensgeschichten der Charaktere. Die Protagonisten, die wir über die Serie hinweg begleiten, befinden sich anfangs bereits in einer geschlossenen, bewachten Siedlung und müssen ihre Mission außerhalb der Mauern dieser Siedlung erledigen. Sie wollen ein 14-jähriges Mädchen (= Ellie), das immun gegen die Krankheit ist, in eine Forschungseinrichtung einer Untergrundorganisation begleiten, um ein Heilmittel herzustellen. Wichtig zu wissen: Auf das Verlassen der befestigen Evakuationszone steht die Todesstrafe!

 

Wir haben hier also schon einen Gegenentwurf zu „The walking dead“, wo ja kaum auf die Anfänge des Unglücks eingegangen wird (ich klammere hier „fear the walking dead“ als Ableger aus) und die Figuren auf der Suche nach einem geschützten neuen Aufenthaltsort sind, wo sie sich sicher fühlen können. Bei „The walking dead“ gibt es keinen solchen großen Zeitsprung von 20 Jahren und wir bleiben immer sehr nah an den Figuren um Rick dran. Wir haben keinen Überblick darüber, was aus dem Rest der Welt geworden ist. Das ist bei „The last of us“ anders. Und auch spielt die Thematik eines Heilmittels (leider) bei „The walking dead“ keine Rolle. Kurzum: Ja, die neue Serie verleiht dem Zombie-Genre neue Impulse. Sie füllt Leerstellen, die „The walking dead“ offen lässt. Und noch etwas eint und unterscheidet beide Serien in meinen Augen: Immer wieder wird die Frage danach gestellt, inwieweit man sich innerhalb einer solchen Katastrophe seine Menschlichkeit bewahren kann. Aber ich fand die Botschaft von „The last of us“ hoffnungsfroher. Dort gibt es zwar auch bösartige und hinterlistige Menschen, aber auch die andere Seite kommt vor. Ellie und Joel erleben auch Positives und Hilfsbereitschaft. Die Menschen sind nicht automatisch des anderen Menschen Wolf. Kurzum: Ich empfand „The last of us“ in dieser Hinsicht weniger einseitig als „The walking dead“.

 

Was mir ebenfalls sehr gut gefallen hat, sind die folgenden Aspekte: Die postapokalyptische Welt, die von den Machern der Serie entworfen wurde, sieht äußerst realistisch-gespenstisch aus (v.a. die Geisterstädte). Die musikalische Untermalung hat mich ebenfalls überzeugt. Und die verbalen Schlagabtausche zwischen Ellie und Joel sind oft amüsant gestaltet worden. Die Spannungskurve ist in vielen Folgen sehr steil angelegt (brillantes, spannungssteigerndes Mittel ist „die Taschenlampe“). Selbst Nebenfiguren erhalten eine charakterliche Tiefe. Da wird z.B. in der dritten Folge mal eben eine sehr gefühlvolle Liebes- und Lebensgeschichte von zwei Figuren im Schnelldurchlauf erzählt, die sich während der Apokalypse kennen und lieben gelernt haben. Noch etwas: Die Chemie zwischen den beiden Hauptprotagonisten Joel und Ellie ist stimmig konzipiert worden und sie durchlaufen beide eine Entwicklung. Ellie wächst im Laufe der Handlung zunehmend über sich hinaus und übernimmt immer mehr Verantwortung in der lebensfeindlichen Umgebung. Und es kommt zu einer väterlichen Annäherung zwischen Joel und Ellie. Auch das ist interessant angelegt. Und Ellie gefiel mir als Charakter: Sie ist schlagfertig und nicht auf den Kopf gefallen. An vielen Stellen scheint kindliche Freude und Begeisterung durch, v.a. wenn Ellie mit Relikten aus der alten, vorapokalyptischen Welt konfrontiert wird, die sie gar nicht mehr erlebt hat. Und der brummelige, knallharte Joel ist ebenfalls eine Figur mit Zugkraft. Beide zusammen tragen die Serie ungemein gut!

 

Was mir noch aufgefallen ist: Folge 9 war für mich die schlechteste Folge der Serie. Warum? Weil sie genau das erzählt hat, was man aus „The walking dead“ schon kennt. Ich war froh, dass die Serie sich nur in dieser einen Folge sehr an der Vorgängerserie orientiert hat. Man merkt nach meinem Gefühl dann doch, dass bestimmte Themen einfach auserzählt sind. Dafür ist das Finale, also die letzte Folge, wieder großartig. Mich hat überrascht, in welche Richtung sich das Ganze am Ende entwickelt hat. Abschließend kann ich nur sagen, dass ich schon neugierig darauf bin, wie es weitergeht. Sie Serie ist kein Aufguss von Altbekanntem und setzt neue Impulse. Ich kann die vielen positiven Kritiken auf jeden Fall nachvollziehen.

Mittwoch, 17. Januar 2024

Cavanagh, Steve - Seven Days




4 von 5 Sternen



„Yellow Mama“


Von Cavanagh habe ich bisher alle Thriller, die ins Deutsche übersetzt worden sind, gelesen. Wichtige Info für potentielle Leser:innen: Sie lassen sich auch unabhängig voneinander lesen. Drei der fünf erschienen Bücher erhielten von mir 5 Sterne (Band 2, 4 und 5). Vor allem „Thirteen“ und „Fifty-Fifty“ sind Kracher (vgl. dazu frühere Rezensionen). Frage: Wo lässt sich nun der neue Thriller „Seven Days“ verorten? Eines kann ich vorweg schicken: Wir haben es nicht mit einem klassischen „whodunit“-Thriller zu tun, sondern mit einem Thriller, der nach dem „howcatchem-Prinzip“ aufgebaut ist. Es geht also um die Frage, ob und wie die niederträchtigen Gegner überführt werden. Das Geschehen wird aus verschiedenen Perspektiven präsentiert, die munter abwechseln.

 

Der Einstieg in „Seven Days“ von Steve Cavanagh ist schon einmal heftig. Nichts für zartbesaitete Gemüter, die die Todesstrafe ablehnen. Wir lernen den kompromisslosen Bezirksstaatsanwalt Randal Korn kennen, der einen Sträfling auf den elektrischen Stuhl hinrichten lässt und sich dabei an seiner eigenen Macht über Leben und Tod berauscht. Sein Ruf als Sadist eilt ihm voraus. Sämtliche mögliche Sympathie für diesen Protagonisten ist von Anfang an dahin. Dafür sorgen auch die Beschreibungen seines äußeren Erscheinungsbildes.

 

Eddie Flynn wird darum gebeten, einen jungen Kerl in Alabama zu verteidigen und ihn vor der Todesstrafe zu bewahren. Er wird des Mordes an einem Mädchen beschuldigt. Für seine Verteidigung kommt erschwerend hinzu, dass er bereits ein Geständnis abgelegt hat. Ein Duell bahnt sich an. Eddie und Randal werden vor Gericht aufeinander treffen. Und Randal ist ein mächtiger Gegner, der auf dreckige Tricks und unsaubere Mittel zurückgreift. Er schikaniert Eddie, wo er nur kann. Wird Eddie sich gegen seinen hinterlistigen Gegner behaupten und es schaffen, den Angeklagten freizuboxen? Klar ist nur eines: Flynn war noch nie in einer solch aussichtslosen Lage. Alles scheint gegen seinen Erfolg vor Gericht zu sprechen.

 

Und genau für die Darstellung solcher Machtspiele vor dem Richter schätze ich den Autor. Den juristischen Schlagabtausch zu schildern und das listige Taktieren von Anklage und Verteidigung zu vermitteln, das ist in meinen Augen das große Talent des Autors. Nach meinem Geschmack sollten genau diese Passagen den meisten Raum einnehmen. Nach meinem Empfinden hätte der Thriller da sogar noch mehr Potential gehabt. Das Wechselspiel von Jäger und Gejagtem zwischen Randal und Flynn hätte für mich noch stärker zum Ausdruck gebracht werden können. Und die actionreichen Passagen, die ebenfalls (nicht zu knapp) vorkommen, hätte ich für mein Lesevergnügen gar nicht benötigt. Aber ich nehme an, dass der Autor auf diese Weise einen möglichst breiten Leserkreis ansprechen möchte.

 

Der gesamte Roman liest sich flüssig und das Geschehen wird packend geschildert. Die Handlung wird ereignisreich vorangetrieben. Das Tempo ist durchweg hoch und Cavanagh beherrscht das Spiel von Anspannung und Entspannung. So nimmt er zwischenzeitlich auch immer einmal wieder das Tempo heraus. Durch die zahlreichen Perspektivwechsel entsteht Dynamik. Der Autor schafft es an vielen Stellen, mich emotional zu erreichen. Zwar war es mir punktuell auch einmal zu „actionlastig“ und auch die Charakterzeichnung von Randal fand ich hin und wieder etwas übertrieben, aber dafür bietet der Thriller in anderer Hinsicht wieder viel Positives. So werden z.B. verschiedene Themen wie „Rassismus“, „Todesstrafe“ und „Korruption“ gestreift, die nicht uninteressant sind und gut zum Inhalt passen. Und noch etwas ist mir positiv aufgefallen: Der Fall ist wendungsreich und es gibt Figuren mit Grautönen (z.B. Lomax). Kurzum: Aufgrund der vielen Stärken kann ich über kleinere Schwächen hinwegsehen. Ich komme auf gute 4 Sterne, knapp an den 5 Sternen vorbei!


Strobel, Arno - Mörderfinder Band 2. Die Macht des Täters






Max Bischoff in der Krise


Ich habe festgestellt, dass ich die Mörderfinder-Reihe sträflich aus dem Blick verloren habe, und das, obwohl mir der erste Band so gefallen hat und Band 4 bereits in den Startlöchern steht und für den 01. Februar angekündigt ist. Dringend Zeit, das zu ändern und Band 2 endlich einmal zu lesen, der den Untertitel „Die Macht des Täters“ trägt. Und was soll ich sagen. Es lohnt sich, Max Bischoff nicht aus den Augen zu verlieren. Ich fühlte mich sehr gut unterhalten. Allerdings reicht Band 2 nicht an Band 1 heran (vgl. dazu eine frühere Rezension). Ich muss aufgrund fehlender Glaubwürdigkeit einen Stern abziehen. Doch dazu weiter unten…

 

Zunächst zum Inhalt: Max Bischoff erhält einen Anruf von einer Ex-Kollegin, die ihn darum bittet, die Unschuld ihres Neffen zu beweisen. Dieser hat sich mit 22 Jahren das Leben genommen, weil er beschuldigt wurde, eine Frau umgebracht zu haben. Ist sein Suizid etwa ein Schuldeingeständnis? Oder gibt es einen Täter, der weiterhin auf freiem Fuß ist, und der dem Selbstmörder etwas anhängen wollte? Max nimmt sich der Sache an, klopft den Fall auf Ungereimtheiten ab und macht sich ein eigenes Bild von dem (potentiellen) Täter. Er ermittelt im unmittelbaren Umfeld des Neffen und befragt v.a. ehemalige Freunde.

 

Und typische Strobel ist man sofort mittendrin im Geschehen. Man wird sofort mitgerissen und der Fall ist so interessant konzipiert, dass man neugierig auf die Auflösung wartet. Und ebenfalls typisch Strobel verrätseln knappe eingeschobene Kapitel aus der Perspektive des wahren Täters die Sicht der Leser:innen auf die Tat. Bei den Ermittlungen treten auch Rivalitäten zu Tage. Die neue Kriminalrätin möchte nicht, dass sich Max Bischoff als Außenstehender in den Fall einmischt. Und noch etwas verleiht dem Fall zusätzliche „Würze“. Max steckt dieses Mal bei seinen Ermittlungen schnell in einer Sackgasse. Selbstzweifel machen sich bei ihm breit. Wir lernen eine neue Seite von Bischoff kennen. Er wirkt fahrig und er verhält sich zunehmend merkwürdig. Die Ermittlungen treiben ihn an seine Grenze.


Womit ich mich schwer tue, ist allerdings die fehlende Glaubwürdigkeit bei zwei Aspekten. Das betrifft einerseits die Graphologie und andererseits das Handwerkszeug des Täters (ich formuliert hier bewusst allgemein). Aus diesem Grund kann ich Band 2 auch nicht mit 5 Sternen bewerten und komme somit auf 4 Sterne, weil der Rest mich wieder vollständig überzeugt hat. Der typische Strobel-Stil, den ich bereits in früheren Rezensionen beschrieben habe und den ich sehr mag, der wird auch hier wieder deutlich: Hohes Tempo, hohe Ereignis- und Dialoghaftigkeit.

Sonntag, 14. Januar 2024

Spektrum der Wissenschaft KOMPAKT 03/2021 (Hrsg.) - Weltbild im Wandel. Diskussionen um das kosmologische Standardmodell






Hintergründe zum kosmologischen Standardmodell


Das kosmologische Standardmodell ist mir in Sachbüchern zur Kosmologie immer wieder begegnet. Es wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten ausgearbeitet und soll erklären, wie sich das All seit dem Urknall entwickelt hat. Doch natürlich ist dieses Modell nur eine Hypothese und es gibt immer mal wieder Streit darum, inwieweit dieses Modell die Wirklichkeit tatsächlich beschreibt. In dem Kompakt-Themenheft „Weltbild im Wandel. Diskussionen um das kosmologische Standardmodell“, herausgegeben von Spektrum der Wissenschaft (03/21) werden einige Streitpunkte vorgestellt, v.a. was die Existenz von Dunkler Energie und Dunkler Materie betrifft. Lediglich bei dem Konzept der Quanten-Gravitation bin ich ab einem gewissen Punkt inhaltlich ausgestiegen. Der Beitrag „Die Zähmung des Unendlichen“ von Astrid Eichhorn und Christof Wetterich war mir als Laie zu sperrig und setzte nach meinem Empfinden zu viel Vorwissen voraus. Aus diesem Grund verzichte ich auf die Darstellung dieses Beitrags. Kurzum: Wieder einmal ein knapper und kompakter Überblick über ein zentrales Thema der Kosmologie. Ich habe das Heft mit großem Interesse gelesen. Anders als die übrigen von mir rezensierten Heften ist das vorliegende Themenheft dieses Mal „nur“ weitestgehend verständlich. Eine Ausnahme bildet der oben genannte Beitrag (vgl. S. 62-76).

 

Beitrag 1: Beschleunigte Expansion. Zweifel an der Dunklen Energie. Von Robert Gast.

In diesem Beitrag wird die These des Forschers Subir Sarkar skizziert, der glaubt, dass die Annahme der Dunklen Energie und der beschleunigten Expansion Irrtümer seien. Verantwortlich dafür sei eine falsche Interpretation von Messdaten. Der Vorwurf: Die beobachtete Rotverschiebung des Lichts von Supernovae könne nicht nur allein durch die Dunkle Energie verursacht sein, sondern die Schwerkraft benachbarter Galaxien sowie die Eigenbewegung der Milchstraße könnten das Licht ebenfalls ins Rötliche verschieben. Unklar sei also, wie viel der gemessenen Rotverschiebung durch die Expansion bzw. durch andere Faktoren verursacht sei. Doch Gast fragt, ob die Kritik von Sakar ausreiche, um die Dunkle Energie aus dem Weltbild der Kosmologie zu verbannen. Er verweist in seinem Beitrag auf zahlreiche Argumente, die gegen die Auffassung von Sarkar sprechen. Betrachtet Sarkar etwa nur die Daten, die seine eigene Hypothese stützen? Viele Forscher halten die Schlussfolgerung von Sarkar für zu weitreichend. Schließlich gibt es noch weitere Möglichkeiten, mit denen sich die kosmische Expansion und die Präsenz Dunkler Energie rekonstruieren lassen (vgl. S. 18-19).

Des Weiteren verweist der Autor des Beitrags auch auf Kritikpunkte eines koreanisch-französischen Forschungsteams, das auf Unsicherheiten bei der Auswertung von Supernovae-Daten hinweist. Das Team um Yijung Kang gibt zu bedenken, dass die chemische Zusammensetzung von Supernovae des Typs 1a unterschiedlich sein könnte und damit für unterschiedliche Helligkeit sorgen könnte. Das Problem ist jedoch, dass sich der Einwand des Teams auf die Analyse von 27 Supernovae beschränkt. Ein viel zu kleiner Datensatz, so die Kritik anderer Forscher. Kurzum: Die Dunkle Energie lässt sich als Einflussfaktor nicht so leicht abschaffen. Die dargelegte Kritik betrifft in erster Linie die Daten von Supernovae des Typs 1a. Zu viele andere Daten und Methoden lassen die Annahme von Dunkler Energie naheliegender erscheinen, auch wenn vielleicht tatsächlich Fehler bei der Analyse der Supernovae-Daten möglich sind.

 

Beitrag 2: Schwerkraft. Gibt es Dunkle Materie wirklich? Von Sabine Hossenfelder und Stacy S. McGaugh

In diesem Beitrag wird die Annahme von Dunkler Materie in Zweifel gezogen. Es gebe zwar viele Hinweise, dass eine mysteriöse Dunkle Materie existiere, aber die dazugehörigen Teilchen, die sich nur über ihre Schwerkraft und nicht über das Licht verraten, sind bisher nicht aufgespürt worden. Mit dem Konzept der Supersymmetrie seien zwar einige hypothetische „Spiegel-Partikel“ formuliert worden, doch die Suche nach ihnen blieb bisher erfolglos. Die Autoren fragen, ob es daher nicht sinnvoller sei, alternative Hypothesen zur Dunklen Materie in Erwägung zu ziehen. Vielleicht benötigt es gar keine unsichtbaren Teilchen? Vielleicht muss die Kraft, die die Teilchen aufeinander ausüben, anders beschrieben werden? Es gibt diverse Modelle solcher modifizierten Gravitationstheorien. Und die Autoren führen einige Argumente für die Annahme einer solchen modifizierten Theorie ins Feld. Und neben den Pro-Argumenten werden auch Kontra-Argumente genannt. Probleme bereiten z.B. Galaxien mit geringer Oberflächenhelligkeit (vgl. S. 31). Und mit der Annahme einer modifizierten Gravitation kann wiederum die Bewegung von Galaxienhaufen nicht gut erklärt werden. Letztlich ist es so, dass die Suche nach der Dunklen Materie aktuell stagniert und aus diesem Grund werden mit der modifizierten Gravitation überhaupt andere Erklärungsmodelle in den Raum gestellt. Und beide theoretischen Zugänge haben ihre Vor- und Nachteile. Zwar gibt es nur wenige Befürworter solcher alternativen Hypothesen, die Autorinnen plädieren aber dafür, den Blick für die modifizierte Gravitation nicht zu sehr zu verlieren und sie vorschnell auszuschließen.

 

Beitrag 3: Antiteilchen. Rätselhafte Masse von Gabriel Chardin

Hier steht das Rätsel um sogenannte „Antiteilchen“ im Mittelpunkt. Die Existenz von Antiteilchen ist unumstritten, so Chardin. Allerdings wirft sie noch viele Fragen auf. Eine Frage ist z.B., ob sie sich in ihrer elektrischen Ladung von gewöhnlicher Materie unterscheidet oder auch in anderen Merkmalen abweicht. Die meisten Physiker gehen davon aus, dass sich Teilchen und Antiteilchen nur in Bezug auf ihre elektrische Ladung unterscheiden. Doch evtl. ist auch die Masse der Antimaterie negativ? In einem solchen Fall würden sich Antiteilchen in einem Schwerefeld anders verhalten als gewöhnliche Partikel. Experimente sollen solche Hypothesen überprüfen. Hätte Antimaterie wirklich eine negative Masse, ließe sich ein kosmologisches Modell entwickeln, das ohne Dunkle Materie, Dunkle Energie und die Annahme der Inflation auskommt. Bezogen auf die Inflationstheorie weiß man bisher nicht, was die schlagartige Ausdehnung des Alls bewirkt haben soll und was diese Phase beendet hat. Ist womöglich die Annahme, dass das Universum genauso viel Materie wie Antimaterie enthält, des Rätsels Lösung? Problem ist hier allerdings: Wo versteckt sich die ganze Antimaterie?

 

Beitrag 4: Stringtheorie. Vereint in vielen Dimensionen? Von Robert Gast

In diesem Beitrag führt der Autor ein Interview mit dem Heidelberger Physiker Arthur Hebecker, einem String-Theoretiker. Hebecker wird mit verschiedenen Argumenten konfrontiert, die die String-Theorie kritisch sehen. Vor allem wird der Theorie vorgeworfen, dass sie sich nicht experimentell überprüfen lässt und es bisher keine empirischen Belege für sie gibt. Handelt es sich bei der String-Theorie, wie Gast an einer Stelle im Interview fragt, etwa nur um ein „opulentes Luftschloss“ ohne Bezug zur Realität (vgl. S. 54)? Hebecker äußert sich zu solchen Vorwürfen und es fällt positiv auf, dass er Kritik durchaus anerkennt. Er besteht nicht auf dem Standpunkt, dass die String-Theorie das einzig denkbare Modell sein könnte. Der Forscher ist sich sehr wohl darüber bewusst, dass die String-Theorie auf vielen Vermutungen basiert.

 

Beitrag 5: Nobelpreis für Physik. Architekten unseres Weltbildes von Robert Gast

Hier stellt uns der Autor die Nobelpreisträger für Physik des Jahres 2019 vor. Zum einen James Peebles, der mit seinen vielen Beiträgen zu unterschiedlichen Themen als einer der zentralen Architekten des kosmologischen Standardmodells gelten kann. Er arbeitete beispielsweise an dem Forschungsfeld der Hintergrundstrahlung und brachte auch die Dunkle Materie als Einflussfaktor ins Spiel. Auch der Dunklen Energie verhalf er zu einer „Revision“. Zum anderen Michel Mayor und Didier Queloz, die für die Entdeckung eines Exoplaneten im Orbit eines sonnenähnlichen Sterns mit dem Preis ausgezeichnet worden sind. Sie entdeckten einen Gasplaneten, halb so groß wie Jupiter, der gerade einmal vier Tage für eine Sternumrundung benötigt. Ihre Arbeit bildete den Auftakt für die Erforschung vieler weiterer Exoplaneten.

Samstag, 13. Januar 2024

Feuerbacher, Berndt und Eugen Reichl - Planeten. Missionen zu exotischen Welten





Visuelles Highlight


Achtung, hier kommt die Rezension zu meinem Weihnachtsgeschenk. Ich habe mir selbst einen Bildband gegönnt, den ich mir immer mal wieder anschaue. Titel: „Planeten. Missionen zu exotischen Welten“ (2023), herausgegeben von Berndt Feuerbacher und Eugen Reichl in 3., aktualisierter und erweiterter Neuauflage. Nach Besuchen im Planetarium habe ich (wieder) festgestellt, wie gerne ich mir Visuelles zum Thema „Weltraum“ anschaue. Hinzu kommt mein Interesse für Kosmologie. Da fiel die Wahl auf dieses Buch. Was mich besonders überzeugt hat: Mit einer beigelegten Rot-Cyan-Brille kann man sich einige Bilder in 3D anschauen. Das wertet dieses Buch in meinen Augen noch einmal zusätzlich auf.

 

Was ich ebenfalls interessant fand, waren die vielen knappen Informationstexten zu den bisherigen Raumfahrtmissionen, die durchgeführt wurden. Mir fehlt da inzwischen der Überblick. Es ist ja doch einiges an Missionen zusammengekommen, wie ich festgestellt habe. Ich habe die informativen Steckbriefe mit den dazugehörigen Abbildungen der Sonden gerne gelesen. Lediglich noch ein paar mehr Hintergrundinformationen zu den Zielen der Missionen hätte ich hilfreich gefunden. Spannend war, dass auch einige zukünftige Missionen vorgestellt wurden. Es bleibt also spannend!

 

Zu jedem Planeten unseres Sonnensystems erhält man einen guten Eindruck, wie es dort aussieht. Zusätzlich werden einige faszinierende Informationen zu geographischen Besonderheiten und zu auffälligen Formationen auf der Planetenoberfläche vermittelt. Besonders zahlreich vorhanden sind Bilder vom Mars, gerade auch in 3D. Vor allem die großformatigen Panorama-Aufnahmen laden zum längeren Betrachten und „Träumen“ ein. Unser Nachbarplanet nimmt mit insgesamt 85 von 271 Seiten in diesem Bildband den meisten Raum ein (er ist schließlich auch der am häufigsten besuchte und am besten erforschte Planet unseres Sonnensystems). Die meisten 3D-Bilder betreffen ebenfalls den Mars.

 

Was ich ebenfalls loben möchte: Auch einige Monde der Planeten finden Erwähnung und werden den Leser:innen vorgestellt (bei Jupiter und Saturn natürlich nur in Auswahl). Sogar einige wenige ausgewählte Kometen kommen vor (teils sogar mit Landschaftsaufnahmen in 3D). Klasse! Den Abschluss bildet ein Kapitel zu Exoplaneten. Kurzum: Ein Bildband, der mich überzeugt hat. Ich bin mir sicher, dass ich das Buch immer mal wieder aus dem Schrank holen werde, um mir die Aufnahmen anzuschauen. Das einzige, was ich festgestellt habe: Bei einigen 3D-Bildern scheinen die Augen sich länger an den Tiefeneindruck gewöhnen zu müssen als bei anderen. Und noch etwas, was andere Leser:innen evtl. stören könnte: Der Bildband ist nicht sehr textlastig. Hier überwiegt vor allem das Visuelle, das immer nur um recht knappe Informationstexte ergänzt wird. Wer gerne viel lesen möchte, der sollte besser auf andere Bücher zurückgreifen (vgl. dazu andere Rezensionen auf meinem Blog).

Dienstag, 9. Januar 2024

Öziri, Necati - Vatermal






Deutsch-türkische Leben im Rückblick


Der todkranke Ich-Erzähler Arda wendet sich in Briefform an seinen Vater Metin, der das Land nach einem Mord aus Blutrache verlassen hat und in der Türkei im Gefängnis saß. Da er nichts Genaueres über seinen Vater zu wissen scheint, malt er sich in seiner Phantasie die Zukunft des Vaters aus. Er fragt sich, nach den Gründen für dessen Tat und ob er womöglich eine neue Familie gegründet hat. Er begegnet ihm wütend, vorwurfsvoll und enttäuscht. Während Arda nicht weiß, ob er überleben wird, lässt er sein Leben in Rückblicken Revue passieren und den Vater so daran teilhaben.

 

Der ernste Gesundheitszustand des Protagonisten ist auch Anlass dafür, dass seine Mutter und seine Schwester ihn am Krankenbett besuchen und sich nach Jahren der gegenseitigen Entfremdung erstmals wiedersehen. Auch sie berichten aus der Vergangenheit und vom Familienleben sowie von familiären Konflikten. Auf diese Weise entsteht ein Mosaik von verschiedenen Schicksalen vor den Augen der Leser:innen. Die Rückblicke werden nicht in chronologischer Reihenfolge und aus den drei Blickwinkeln wiedergegeben. Mal erinnert sich Arda, mal die Schwester, mal die Mutter. Wir tauchen auf diese Weise in die schwierigen Familienverhältnisse ein und begleiten die Charaktere in ihrer Entwicklung hindurch durch ein ganzes Leben.

 

Die Leben von Arda, Aylin (= Schwester) und Ümran (= Mutter) können exemplarisch für Erfahrungen und Lebenswirklichkeiten der türkischstämmigen Migranten der 1. und 2. Generation in Deutschland stehen, sind aber so individuell ausgestaltet worden, dass man an keiner Stelle das Gefühl hat, dass Klischees bedient werden. Im Gegenteil: Die Lebenswelten der Figuren sind alles andere als typisch „türkisch“ oder wie man sich das Leben von türkischsprachigen Migranten in Deutschland vorstellt.

 

Die Erlebnisse werden atmosphärisch dicht eingefangen. So z.B. der Besuch auf dem Ausländeramt, um den eigenen Aufenthaltsstatus zu klären. Das Warten, das Ausgeliefert- und Abhängigsein wird gut deutlich. Und was ebenfalls gut zum Ausdruck kommt: Die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung. Nachdem Metin die Familie verlassen hat, ist die Mutter mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert und Aylin kümmert sich stellvertretend um Arda. Sie ist seine Beschützerin. Und irgendwann eskaliert die Situation. Ümran wiederum hat ein außergewöhnlich ereignisreiches und traumatisches Leben in der Türkei hinter sich. Sie überlebt ein Erdbeben und wird zunächst bei ihrer boshaften Tante groß, als ihre Eltern das Land in Richtung Deutschland verlassen, um dort ihr Glück zu versuchen. Der Sohn Arda wiederum erinnert sich an seine Jugendjahre und wie er mit seinen Kumpels „abhing“. Hier tritt die jugendliche Lebenswelt in Erscheinung. Identitäts- und Zugehörigkeitskonflikte werden ebenso greifbar wie Berührungen mit Kriminalität und Gewalt.

 

Insgesamt wird uns ein äußerst facettenreiches Bild der deutsch-türkischen Realitäten in Deutschland und in der Türkei geboten. Und der Autor gestaltet die verschiedenen Blickwinkel äußerst passend und beherrscht das Spiel mit verschiedenen Sprachregistern. So kommt z.B. in Ardas Schilderung das jugendsprachliche Element gut zur Geltung. Nur über den Vater hätte ich gern noch mehr erfahren. Arda kennt nur Bruchstücke aus dessen Leben, um Metin herum bleibt es recht nebulös und vage. Gleichzeitig eine schöne Leerstelle, die die Phantasie des Lesers anregt. Das einzige, was ich bei der Lektüre als störend und verbesserungswürdig empfand, waren die türkischsprachigen Einsprengsel, die man sich mit Hilfe eines Google-Übersetzers transferieren lassen kann. Ich hätte es hilfreich und leserfreundlich gefunden, wenn die deutsche Übersetzung in Klammern dahinter angegeben worden wäre.

Sonntag, 7. Januar 2024

Bentow, Max - Engelsmädchen






Spannend, temporeich und kreativ


Die neue Kollegin von Nils Trojan wird ungewöhnlich eingeführt: Kriminalpsychologin Carlotta Weiss tanzt in der Disco und wird von jemandem bedrängt, der ihr anscheinend K.O.-Tropfen verabreicht hat. Am nächsten Tag leidet sie unter einem Gedächtnisverlust. Höchst mysteriös! Was ist ihr in der Nacht widerfahren? Das Amnesie-Motiv (auch bekannt aus Rotkäppchens Traum) weckt sofort Neugier.

 

Danach wird sie Carlotta direkt zu einem Einsatz gerufen. Sie soll eine Jugendliche von einem Suizid abhalten. Das Mädchen, das sich in den Tod stürzen will, gibt sich der Psychologin namentlich als ein seit fünf Jahren vermisstes Kind aus. Folgende Fragen kommen auf: Warum stürzt sie sich in den Tod? Warum gibt sie sich fälschlicherweise als jemand anderes aus? Und wer ist die Selbstmörderin eigentlich?

 

Der Auftakt von Max Bentows „Engelsmädchen“ (2023) ist packend und lässt viele Fragen im Kopf des Lesers entstehen. Und man benötigt kein Vorwissen aus den vorherigen Bänden, um der Handlung folgen zu können! Bei den Ermittlungen kommt es zu einer Zusammenarbeit von Carlotta und Nils. Beide versuchen die Identität des Opfers aufzuklären. Später kommt es auch noch zu einem Doppelmord, den beide aufklären wollen. Ein Axtmörder treibt sein Unwesen. Gibt es etwa einen Zusammenhang zwischen dem Selbst- und dem Doppelmord?

 

Carlotta ist eine interessant angelegte Figur, die nach meiner Ansicht einen Gewinn für die Reihe darstellen wird. Sie wendet ungewöhnliche, unkonventionelle Ermittlungsmethoden an. Den Tatort untersucht sie mit Hilfe von „method acting“, d.h. sie versetzt sich in die Rolle des Täters und gelangt auf diese Weise zu unglaublich treffenden Einschätzungen über den Tathergang (diese Methode birgt allerdings auch ihre Gefahren. Das wird ebenfalls thematisiert). Und Carlotta agiert als eigenwillige Einzelgängerin und wirkt nicht wirklich teamfähig. Das Vertrauen zu Nils muss sich erst langsam aufbauen. Nicht jeder Kollege ist mir ihrer Vorgehensweise einverstanden. Sie ist äußerst intelligent und hat eine steile Karriere mit Bestnoten hingelegt. Manchmal agiert sie überraschend hart und kompromisslos. Sie hält sich nicht immer an die Vorschriften. Als Rückzugsort dient ihr ein alter Bulli, den sie sich als „mobiles Büro“ mit Schlafmöglichkeit hergerichtet hat. Kurzum: Carlotta ist nach meinem Empfinden ein Charakter mit Zugkraft.

 

Und noch eine Eigenschaft lässt Carlotta als reizvollen Charakter erscheinen: Sie ist in der Lage, die Mikromimik ihres Gegenübers zu lesen und zu deuten (hat mich an Evie Cormac aus der Reihe um Cyrus Haven von Michael Robotham erinnert, vgl. dazu eine frühere Rezension). Carlotta ist also eine sogenannte „Wahrheits-Zauberin“. Das hat mir außerordentlich gut gefallen. Diese Idee hat viel Potential und ist in dem vorliegenden Thriller noch nicht wirklich ausgeschöpft, wie ich finde.

 

Das Tempo des Thrillers ist hoch. Dafür sorgen auch kurze Zeilen und Kapitel, eine hohe Dialog- und Ereignishaftigkeit sowie eine dynamische Sprachgestaltung. Auch der Umstand, dass zwei Partner ermitteln, ist durchdacht. Dadurch entsteht eine höhere Dynamik, es kommt zu Konflikten, beide müssen sich über ihre jeweiligen Ermittlungen auf dem Laufenden halten, das zieht einen höheren Anteil von Gesprächen nach sich. Der Erzählstil hat mich sehr an Strobel erinnert (vgl. dazu frühere Rezensionen), aber bei Bentow empfand ich die dargestellte Brutalität als drastischer, auch ist das psychologische Element nicht so präsent. Insgesamt liest sich das Buch außerordentlich flüssig. Und die Spannungskurve ist durchweg hoch. Es passiert ständig etwas Neues. Schon lange habe ich keinen Thriller mehr so gebannt gelesen, und das von der ersten bis zur letzten Seite. Was mir auch gut gefallen hat: Das Privatleben von Carlotta und Nils spielt keine zu große Rolle.


Kleine Kritikpunkte, die aber nicht zu einem Sternabzug führen, sind die folgenden: Eine Wendung mit Wow-Effekt hätte ich mir im Idealfall noch gewünscht. Auch gab es Textstellen, wo ich schon etwas skeptisch war, dass Carlotta mit Hilfe ihrer Ermittlungsmethode ein solch präzises Wissen zum Tathergang generieren kann. Aber nun gut, irgendwie braucht die Ermittlungsarbeit ja neue Impulse. Es sollte aber glaubwürdig bleiben. Und mit dem Ende bin ich nicht zu 100% zufrieden. Das Motiv des Täters fand ich zu konstruiert und ich hätte mir einen anderen Mörder gewünscht. Aber das kann ich natürlich nicht dem Autor ankreiden. Letztlich ist alles schlüssig aufgelöst worden. 

Freitag, 5. Januar 2024

King, Stephen - Mr. Mercedes






Auf der Jagd nach dem Mercedes-Killer


Ein Mercedes rast in eine Menschenmenge von Arbeitssuchenden. Besonders tragisch: Unter den Opfern befindet sich auch eine junge Mutter mit ihrem Baby. Danach folgt ein Sprung auf Ebene der Gegenwart: Wir lernen Detective William Hodges kennen, der sich im Ruhestand befindet und seinen Alltag mit Talkshows bestreitet. Er hat suizidale Gedanken und wird von Schlaflosigkeit geplagt. Doch dann erhält er eines Tages einen Brief vom Mercedes-Killer, in dem dieser sich seiner Tat rühmt und den ehemaligen Polizisten provoziert und herausfordert. Und Hodges nimmt die Herausforderung an. Er reaktiviert seine alten Kompetenzen und beginnt mit seinen Ermittlungen. So ist erstaunlich, was er alles aus dem Brief des Täters herausliest. Hodges erscheint als unglaublich guter Analytiker. Und es kommt zum Duell zwischen dem sadistischen, größenwahnsinnigen Killer und dem pensionierten Ex-Cop, der nun eine neue Lebensaufgabe gefunden hat. Es kommt zu einem packenden Katz- und Maus-Spiel in Stephens Kings Thriller „Mr. Mercedes“ (2014).

 

Auffällig ist, dass King in seinem Buch auf übersinnliche Elemente verzichtet, wie man es von ihm oft kennt. Es handelt sich um einen „klassischen“ Thriller, der durch die packende Verfolgungsjagd und sehr umfassend und detailliert ausgearbeitete Charaktere besticht. Der Mörder wird z.B. als klarer Verlierer-Typ dargestellt. Seine Gedankengänge sind äußerst bösartig und voll von Gewaltphantasien. Manchmal erschien es mir schon übertrieben böse, was dem Täter alles so durch den Kopf geht. Aber wer weiß schon, was ein sadistischer Serienmörder wirklich denkt? Die Handlung spielt auf zwei Zeitebenen, auf der Vergangenheitsebene wird uns der Anschlag des Mercedes-Killer mit den daran anschließenden (erfolglosen) Ermittlungen geschildert und auf der Gegenwartsebene geht es um das Katz-und-Maus-Spiel von Hodges und dem Attentäter.

 

Das Tempo in diesem Thriller ist nicht allzu hoch, dafür verliert sich Stephen King dann doch an der einen oder anderen Stelle in zu vielen Details und schweift oft in verschiedene Richtungen ab. Auch legt der Autor großen Wert darauf, die Figuren sehr facettenreich zu gestalten. Dafür nimmt er sich viel Raum. Das bremst zwar auf der einen Seite das Tempo, auf der anderen Seite habe ich selten einen Thriller gelesen, in denen die Figuren so gründlich und breit konzipiert worden sind. Das ist schon außergewöhnlich und sie entfalten beide auf ihre Weise große „Zugkraft. Und was King auch gut entworfen hat: Es wechselt im Handlungsverlauf ständig, wer Jäger und Gejagter ist. Mal scheint der Mercedes-Killer die Oberhand zu gewinnen, mal ist es Hodges. Wer wird am Ende gewinnen? Und noch etwas verleiht dem Ganzen „Würze“: Der Täter befindet sich permanent in Schlagdistanz zum Ex-Cop. Er beobachtet und überwacht ihn. Perspektivwechsel zwischen Hodges und dem Killer sind ebenfalls geschickt platziert. Das alles ist durchdacht arrangiert! Auch das Finale in diesem Thriller ist außerordentlich packend geraten.

 

Fazit: Ein toller Thriller, den ich gerne gelesen habe. Dennoch kann ich aus zwei Gründen keine 5 Sterne geben. 1. Manches war dann doch etwas konstruiert, damit die Spannungskurve steigt. Es hat mich beim Lesen zwar nicht gestört und ich verstehe auch, dass ein Autor an der einen oder anderen „Stellschraube“ drehen muss, um Dramatik zu erzeugen, aber in sehr guten Thriller, fällt so etwas gar nicht erst auf. 2. Ich mag temporeiche Thriller (das ist einfach eine persönliche Vorliebe), so dass es mir dann doch insgesamt zu gemächlich voranging (Ausnahme: das Finale). Aber das mögen andere Leser:innen für sich womöglich ganz anders bewerten.