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Sonntag, 13. April 2025

Kracht, Christian - Air


Über das Unsichtbare…

 


Christian Krachts Romane sorgen im Feuilleton regelmäßig für Begeisterungsstürme, er ist vielfach ausgezeichnet und seine Romane sind immer wieder in den Bestseller-Listen zu finden. Seine Sprachbeherrschung ist eindrucksvoll. Ich habe bei seinen Werken das Gefühl, dass bei ihm jedes Wort, jeder Satz perfekt sitzt. Kurzum: Er kann sicherlich als einer der wichtigsten deutschsprachigen Gegenwartsautoren bezeichnet werden. Mir selbst ist er erstmals mit seinem Debütroman „Faserland“ (1995) begegnet, den ich damals sehr gern gelesen habe. Auch „Imperium“ (2012) habe ich in positiver Erinnerung. Im Folgenden möchte ich gern seinen neuesten Roman „Air“ besprechen.

 

Einstieg ins Buch

Auf den ersten Seiten wird mit viel Liebe zum Detail die Umgebung von Paul geschildert. Einrichtungsgegenstände und die Wohnung selbst werden beschrieben. Dabei wird z.B. erwähnt, in welchem Winkel die Ecken von Magazinheften zur Tischkante arrangiert werden, und auch der Inhalt des Buchs, das dem schlafenden Paul aus der Hand gefallen ist, wird kurz inhaltlich umrissen. Das erste Kapitel endet damit, dass Paul der Auftrag angeboten wird, eine dunkle Halle in perfektem Weiß zu streichen.

 

Pauls Welt

Wie schon erwähnt, sticht v.a. die Detailversessenheit ins Auge, mit der Pauls Lebenswelt dargeboten wird. Teils nebensächliche Dinge werden ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt und ausführlich mit aberwitzigen (auch lustigen) Details beschrieben. Nachdem Paul das Angebot annimmt und nach Norwegen aufbricht, taucht er in eine technisierte Welt ein (ein schöner Kontrast zur naturbehafteten Welt von Ildr, die ich weiter unten thematisiere). Bei der Halle, die er weiß streichen soll, handelt es sich um ein riesiges Rechenzentrum. Die Handlung beinhaltet insgesamt wenige Dialoge, stattdessen werden mehr die Örtlichkeiten sowie die Innenwelten der Figuren beleuchtet. Als Paul die Halle inspiziert, wird sie plötzlich von einem kosmischen Ereignis heimgesucht, was ungeahnte Folgen nach sich zieht…

 

Ildrs Welt

Ein weiterer Handlungsstrang dreht sich um das 9-jährige Mädchen Ildr, deren Mutter vor einem Jahr an einer mysteriösen Krankheit verstorben ist und sie allein in einer Hütte am Waldrand zurückließ. Sie wirkt mittellos, versorgt sich selbst und verwundet auf ihrer Jagd nach einem Reh aus Versehen einen fremden Mann mit ihrem Pfeil. Unter Anleitung des Fremden entfernt sie ihm das Geschoss aus der Brust und transportiert ihn anschließend auf einer Trage zu ihrer Hütte. Sie will ihr Vergehen wieder gut machen und ihn versorgen. Es kommt zu einer Annäherung der beiden Figuren und es ist auffällig, dass der Mann über (teils technisch-physikalische) Kenntnisse verfügt, die dem Mädchen fremd sind. So besitzt er z.B. auch medizinisches Wissen. Ein Kontrast zwischen beiden wird deutlich. Der Mann passt nicht recht in die mittelalterlich (oder eher märchenhaft?) wirkende Umgebung von Ildr. Das alles wirkt höchst mysteriös und sonderbar. Man fragt sich, um wen es sich bei dem Fremden handelt, woher er stammt und zu welcher Zeit die Handlung eigentlich spielen soll. Auch fragt man sich, was die Handlungsstränge von Paul und Ildr überhaupt miteinander zu tun haben. Dass sie etwas miteinander zu tun haben, wird allein dadurch deutlich, dass vereinzelte inhaltliche Elemente der Welt von Paul in Ildrs Welt auftauchen (ein schöner Irritationseffekt!).

Anders als der Strang um den Dekorateur Paul, der steril, langsam und ereignislos erzählt wird, wird uns das Geschehen um Ildr und den Fremden spannend, atmosphärisch dicht, ereignis- und temporeich präsentiert. So zieht die Spannungskurve z.B. noch einmal deutlich an, als Ildr und der Fremde aufgrund einer Bedrohungssituation in Richtung Süden fliehen müssen (was v.a. an den vielen aktiven Bewegungsverben liegt). Eine Parallele zum Handlungsstrang um Paul ergibt sich dadurch, dass auch die Welt von Ildr und dem Fremden durch ein kosmisches Ereignis heimgesucht wird…

 

Zwischenwelten (Vorsicht *Spoilergefahr*, ggf. hier nicht weiterlesen)

 

Im weiteren Handlungsverlauf wird zunehmend deutlich, dass es sich bei Ildrs Welt um eine Art Zwischenwelt handelt, eine Welt nach dem Diesseits und vor dem Jenseits, eine Welt des Übergangs. Diese Interpretation lässt sich in meinen Augen an vielen Aspekten im Text festmachen. Dank meiner Lektüre der Zusammenschau des Feuilletons auf perlentaucher.de bin ich darauf aufmerksam gemacht worden, dass der Autor sich hier bei Vorstellungen der nordischen Mythologie bedient hat (Stichworte: Helheim oder auch Niflheim) und auch ein Bezug zu den Brüdern Löwenherz von Astrid Lindgren hergestellt werden kann (Stichwort: Nangijala). Darüber hinaus erinnert dieses Motiv an solche Filme wie „Inception“ (auch wenn es darin mehr um verschiedene Bewusstseinszustände geht) und Bücher wie „Alice im Wunderland“ oder „Die unendliche Geschichte“ (auch wenn es dabei mehr um imaginierte Fantasiewelten geht und weniger um eine Art Vorphase zum Jenseits). Ich bin sogar zufällig im Zusammenhang mit der Serie „Ahsoka“ (Folge 5) einer solchen Zwischenwelt begegnet (dabei trifft Ahsoka auf ihren ehemaligen Meister Anakin und muss sich zwischen Tod und Leben entscheiden). Neben diesem zentralen Motiv der Zwischenwelt, bietet der Roman aber auch weitere thematische Anknüpfungspunkte: So könnte man einen Bezug zur Heldenreise herstellen (wenn auch in abgewandelter Form) und auch die Analyse der Beziehung zwischen dem Kind Ildr und dem Fremden ist eine nähere Betrachtung wert.

Montag, 7. April 2025

Hannig, Theresa - König und Meister


Ein dunkles Geheimnis



Ada trifft sich mit ihrem Vater, einem pensionierten Grundschullehrer, zu einem Gespräch in ihrem Stammrestaurant und befindet sich direkt wieder in ihrer Tochterrolle als gute Zuhörerin. Sie muss mit anhören, wie er sich über die Welt und das Bauvorhaben seiner Nachbarn echauffiert, und kennt bereits seine starrsinnige und besserwisserische Art. Auch wird deutlich, dass er herablassend und nachtragend sein kann. Adas Vater ist sehr rededominant. Ada kommt kaum zu Wort.

Doch dann verkündet er geheimnistuerisch, dass er ihr etwas Wichtiges mitzuteilen hat und will mit ihr zurück nach Hause fahren. Auf dem Weg dorthin kommt es zu einem Autounfall, als Adas Vater einem Reh ausweicht. Ada überlebt knapp, doch ihr Vater schwebt fortan in Lebensgefahr und liegt auf der neurologischen Intensivstation. Und als Leserin und Leser wissen erfahren wir nicht mehr, was er seiner Tochter sagen wollte. Ging es um das Bauvorhaben der Nachbarn? Und wird Adas Vater überleben? Das sind die zentralen Fragen, die man sich eingangs stellt.


Als Ada ihren Vater auf der Station besucht, erschreckt sie sich vor seinem Anblick. Ihre Mutter, die seit Jahren vom Vater getrennt lebt, reagiert am Telefon zunächst jedoch erstaunlich herzlos auf die Nachricht, dass der Vater schwer verletzt ist. Sie muss Termine wahrnehmen und hat trotz des Ernsts der Lage keine Zeit, ihren Ex-Mann zu besuchen. Ihre Perspektive tritt er später hinzu, als sie sich doch entschließt, Ada zu unterstützen. Dabei wird deutlich, dass sie sehr karrierebewusst und ehrgeizig ist. Auch macht sie sich Sorgen um die Leibesfülle ihrer Tochter… Letztlich eine Figur mit Reibungspunkten (und mit einem Trigger-Thema: Essstörung).


Des Weiteren tritt im Krankenhaus auch das mysteriöse Element zu Tage, das diesen Thriller zu einem Mystery-Thriller macht. Ada begegnet einem ominösen Mann mit Brandwunden, mit dem sie ins Gespräch kommt. Außer ihr scheint niemand ihn wahrzunehmen. Es macht nicht den Eindruck, als leide sie unter Halluzinationen. Oder hat sie evtl. eine Kopfverletzung davongetragen? Auf jeden Fall trägt der Mann mephistophelische Züge einer Teufelsfigur. Er spricht von einem Pakt und davon, dass Ada drei Dinge erledigen müsste (wie im Märchen). So soll sie z.B. einem Bettler 500 Euro geben. Worauf wird dieser Handlungsstrang hinauslaufen? Das bleibt lange Zeit äußerst rätselhaft und erzeugt Neugier.


Das Tempo des Thrillers ist nicht sonderlich hoch, die Autorin nimmt sich Zeit für die Charakterisierung ihrer Figuren (die mit Ecken und Kanten aufwarten) und dafür, die Beziehungsverhältnisse zu verdeutlichen. Das macht in diesem Fall aber gar nichts, da der Schreibstil von Theresa Hannig sich, wie man es kennt, sehr angenehm liest. Und die Spannungskurve ist so konzipiert, dass man die ganze Zeit am Ball bleibt und wissen will, wie es weitergeht (so ging es mir jedenfalls). Mich interessierte v.a., worauf das Ganze hinausläuft. Und bei mir kamen Assoziationen zu romantischen Schauermärchen. So kommt auch Traumhaftes vor (Ada wird nach der Begegnung mit dem ominösen Mann hin und wieder von Alpträumen heimgesucht, die eine Relevanz für die Gegenwart aufweisen). Auch das hat mir gut gefallen. Im weiteren Handlungsverlauf schlägt die Handlung eine kriminalistische Richtung ein. Fand ich ebenfalls gelungen. Fazit: Wieder ein sehr gelungenes Buch von Theresa Hannig. Und was mir ebenfalls zugesagt hat, ist, dass die mystischen Elemente zwar vorhanden sind, sie aber nicht zu dominant sind und sich nicht zu sehr aufdrängen.

Donnerstag, 3. April 2025

Hillenbrand, Tom - Thanatopia


Sehr verschachtelt und mit großer Offenheit

 



Bei dem Thriller „Thanatopia“ handelt es sich um den dritten Teil einer Reihe aus der sog. Hologrammatica-Welt. Die Lektüre setzt einige Vorkenntnisse voraus und kann in meinen Augen nicht unabhängig von Band 1 und 2 gelesen werden (vgl. dazu frühere Rezensionen, die einen Einstieg in die Werke erleichtern dürfte). Die Erzählweise ist zudem vielschichtig und verlangt konzentriertes Lesen (so habe ich es zumindest empfunden). Man muss ein wenig Geduld aufbringen, um die verschiedenen Handlungsstränge kennenzulernen und zu überblicken. Das geht (leider, leider) auf Kosten der Spannung, aber dafür bietet das Buch einfach einen fantastisch-kreativen futuristischen Weltenentwurf, der nicht nur durchdacht, sondern auch facettenreich daherkommt. Im Folgenden stelle ich die verschiedenen Handlungsebenen vor, verrate aber nicht, worauf sie hinauslaufen werden oder wie sie zusammenhängen. Das möge jede und jeder selbst während der Lektüre herausfinden.

 

Percy Singh

Zu Beginn erleben wir mit, wie Percy Singh, (der Bruder von Galahad Singh, den wir noch als Quästor aus Band 1 kennen), mit seinem Vater eine kleine griechische Insel in der Nähe des Lichtdoms besucht. Geheimnisvolles geht dort vor sich und Percy versteht nicht recht, was sein Vater dort treibt. Er stellt aber fest, dass sich das Verhalten seines Vaters auf merkwürdige Weise verändert. Was steckt dahinter?

 

Wenzel Landauer

Der altersmüde, fast 75 Jahre alte und damit dienstälteste Kommissar Wenzel Landauer, der einen ausschweifenden Lebensstil pflegt und etwas zu viel auf den Rippen hat, findet in Wien eine Wasserleiche. Bei den Ermittlungen zeigt sich, dass bereits zwei Tage zuvor eine Leiche aufgetaucht ist, die dieselbe DNA aufweist. Es drängt sich der Verdacht auf, dass es sich um Klone handelt. Doch welches Opfer ist Original, welches ist Fälschung?  Oder handelt es sich gar um zwei nicht-registrierte Klone? Wenzel macht sich auf die Suche nach dem Täter und will klären, ob es einen Stammkörper zu den Opfern gibt. Was wird er herausfinden?

 

Sahana Kapoor

Die Physiker-Professorin Sahana muss den Vergleich mit Albert Einstein nicht scheuen. Sie ist 86 Jahre alt und stellt das kosmologische Weltbild mit ihren Forschungen auf den Kopf. Sie besucht einen Kongress und wird anschließend in einen Autounfall mit einem sog. „Crasher“ verwickelt. Wird sie überleben?

 

Stasja Tschernow

Bei Stasja handelt es sich um eine sog. Thanatonautin, die mehr über den Tod und ein mögliches Leben danach erfahren möchte und ein exzessiv-rauschhaftes Leben führt. Sie erforscht v.a. die Grenzregion zwischen dem „Nicht-mehr-leben“ und dem „Noch-nicht-tot-sein“. Die Prozedur, die sie durchläuft, um sich selbst zu töten, nennt man „Deathtrip“. Für das Verfahren nutzt sie Klonkörper, aus denen sie ihr Bewusstsein anschließend immer wieder neu herunterlädt, um mögliche Erkenntniszugewinne zu sichern und für weitere Trips verfügbar zu halten. Wird sie es schaffen, das Rätsel um den Tod zu lösen?

 

Carprentras Skyes

Skyes arbeitet bei der Behörde UNANPAI, die sich darum kümmert, kriminelle Nutzung von Künstlicher Intelligenz zu überwachen und auch einzudämmen. Carprentras zentrale Aufgabe ist es, den wiederaufgetauchten Galahad Singh zu verhören, der als erster und einziger die sog. Knossos-Anomalie (= Lichtdom) betreten hat. Was wird Singh berichten?

 

Abschließend ein paar kritische Worte: Für mich bleibt wieder einiges offen. So hätte ich mir v.a. noch mehr Informationen zu dem Rätsel um den Lichtdom gewünscht. Die Hardlights finden nur am Rande einmal Erwähnung, es wird ihnen aber kein großer Raum zugestanden. Von Perrotte fehlt noch jede Spur, auch sie wird nur punktuell einmal erwähnt. Diese Offenheit erinnert mich sehr, sehr stark an Band 2 („Qube“), habe ich sie doch da schon bemängelt. Positiv gesehen, bedeutet das, dass es (hoffentlich bald?) noch eine Fortsetzung geben wird. Negativ betrachtet, finde ich es schade, dass man als Leser so auf die Folter gespannt wird und immer wieder aufs Neue enttäuscht wird, nicht mehr zu erfahren. Ich bin kein Freund davon. Die Komplexität der Reihe macht es mir als Leser auch nicht leicht, einen zügigen Einstieg zu finden und alles im Kopf zu behalten. Das finde ich etwas schade. Manchmal ist weniger mehr. Ich bin mir unschlüssig, ob ich die Reihe noch weiterverfolgen werden. Dürfte ich mir etwas wünschen, so würde ich dem Autor zu einem raschen Abschluss der Reihe raten und das Hologrammatica-Universum mit anderen (weniger verschachtelten?) Geschichten weiter auszubauen. Denn die vielen Ideen, die Hillenbrand zündet, sind es wert, noch weiter erzählt zu werden.

Mittwoch, 2. April 2025

McFadden, Freida - Die Kollegin


Hohe Spannung und schräge Figuren



Eines Morgens erscheint Dawn nicht pünktlich zur Arbeit und die Kolleginnen lästern bereits darüber (allen voran Kim und Natalie, die in der Bürozelle neben ihr arbeitet). Schließlich ist Dawn sonst äußerst strukturiert und vorbildlich, sie plant ihren Arbeitstag penibel, bis hin zu den Toilettenpausen. Von den anderen wird sie als seltsam wahrgenommen und ist nicht sehr beliebt. Hinter ihrem Rücken machen sie sich des Öfteren über sie lustig.


Kurze Zeit später findet man in Dawns Wohnung jede Menge Blut, allerdings keine Leiche. Was ist dort nur passiert? Und wohin ist Dawn verschwunden? Diese Fragen treiben die Handlung voran. Und Natalie hat große Angst, dass sie verdächtigt werden könnte, Dawn etwas angetan zu haben. Vermutlich hat sie ein schlechtes Gewissen und weiß genau, dass ihr oft intrigantes Verhalten gegenüber Dawn ein schlechtes Licht auf sie werfen könnte. Natalie erscheint uns als höchst unsympathische Figur. Sie ist das, was manche als richtige Tussi bezeichnen würden. Und sie schreckt auch vor Mobbing und Ausgrenzung von Dawn nicht zurück. 


In Rückblicken in Form von E-Mails können wir uns dann ein besseres Bild von Dawn machen. Sie schreibt regelmäßig an ihre beste Freundin Mia und gewährt einen Einblick in ihr Arbeits- und Seelenleben. Es wird z.B. deutlich, dass sie sehr schüchtern, scheu und unsicher ist. Gleichzeitig kann sie sehr pedantisch sein. Und sie steckt ihre Nase teils in Dinge, die sie nichts angehen. Ihre große Vorliebe für Schildkröten-Figuren lässt sie zudem etwas schrullig wirken. Sie hat wenig Freunde und agiert in sozialen Situationen oft unbeholfen. Auch eckt sie häufig an (u.a. bei ihrem Chef) und wird als anstrengend empfunden, weil sie hartnäckig unbequeme Wahrheiten ausspricht. Natalie bewundert sie jedoch, himmelt sie förmlich an und möchte gern mit ihr befreundet sein (sie hat also einen völlig falschen Eindruck von ihr).


Die Spannungskurve in diesem Thriller ist konstant hoch. Und natürlich gibt es auch den von McFadden inzwischen erwartbaren (genialen?) Plot-Twist, der die Handlung wieder in einem anderen Licht erscheinen lässt. Das alles hat mich überzeugt. Der Schreibstil bzw. die Übersetzung liest sich sehr flüssig. Man rast durch die Seiten. Eine Sogwirkung wurde spürbar (die bei mir selten vorkommt). Doch es gibt auch Dinge, die ich kritisch anmerken möchte. So erschienen mir dieses Mal einige Handlungselemente zu weit hergeholt und zu übertrieben. Ich fand nicht alles glaubwürdig, was mir so präsentiert wurde (v.a. nach dem Plot-Twist). Teils wirkte es etwas unrealistisch und konstruiert. Die Reihe um Millie fand ich insgesamt besser (auch Band 3). Ich komme deshalb auf (immer noch gute) 4 Sterne!

Dienstag, 1. April 2025

McFadden, Freida - Weil sie dich kennt


Millies Hochzeit



An ihrem Hochzeitstag erhält Millie einen Anruf mit einer Morddrohung und gleichzeitig erleben wir die letzten Hochzeitsvorbereitungen mit. Die Drohung bringt Millie überhaupt nicht aus der Fassung. Sie duscht erst einmal in Ruhe. Sie will sich schließlich den Tag nicht ruinieren lassen. Wir erfahren auch, dass Enzo Millie (ganz romantisch) einen Antrag gemacht hat, weil sie schwanger war. Und die letzten Vorbereitungen laufen alles andere als glatt. Aufgrund des angewachsenen Baby-Bauchs passt Millie plötzlich nicht mehr in ihr Hochzeitskleid und Enzo versucht das Problem zu lösen.

Kaum ist Enzo unterwegs, erhält Millie noch einmal einen bedrohlichen Anruf und stellt fest, dass sie beobachtet wird. Die Bedrohungssituation spitzt sich zu. Millie fühlt sich auf einmal doch eingeschüchtert. Die Spannung zieht spürbar an. Wie wird Millie mit dieser Situation umgehen? Wird sie sich aus ihrer misslichen Lage befreien können? Wenn ja, wie?

Und gleichzeitig wird ein humorvoller Kontrast deutlich. Auf der einen Seite laufen die zu treffenden Hochzeitsvorbereitungen weiter, auf der anderen Seite nimmt die Gefahr für Millie zu. Und es ist irrwitzig, dass Millie Enzo nichts von den Anrufen erzählt, weil sie den Tag nicht verderben will. Es ist jedenfalls erstaunlich, dass die Autorin auf wenigen Seiten erneut in der Lage ist, eine hohe Spannung zu konstruieren und gleichzeitig amüsante Effekte einzubauen. Alles läuft auf den Höhepunkt der Hochzeitszeremonie hinaus. Herrlich absurd! Und sogar im Rahmen dieser Kurzgeschichte verzichtet die Autorin nicht auf einen geglückten Plot-Twist. Durch einen eleganten Perspektivwechsel am Ende erscheint plötzlich das Geschehen in einem anderen Licht. Toll arrangiert. Von mir gibt es für diese Kurzgeschichte 5 Sterne!

 

Donnerstag, 27. März 2025

Das Buch von Boba Fett (Staffel 1)


Enttäuschend



Zu Beginn erleben wir, wie sich Boba Fett aus dem Schlund des Sarlacc befreit (ein schöner Rückbezug auf Episode VI). Dabei wird ihm die Rüstung abgenommen und er wird von Sandleuten verschleppt. In Rückblicken erfahren wir dann, wie er allmählich eine Beziehung zu seinen Entführern aufbaut, sich ihren Respekt erarbeitet und Kampfkünste bei ihnen erlernt. Dieser Zeitraum umfasst ca. 5 Jahre. Auf der Gegenwartsebene wird hingegen gezeigt, wie Boba Fett die Nachfolge von Jabba the Hutt übernimmt und seinen Machtbereich sichert und ausbaut. Dafür muss er sich u.a. gegen unbekannte Angreifer verteidigen und behaupten. Handlungsort der Serie ist die Stadt Mos Espa auf Tatooine. Vom Stil erinnert die Serie sehr an der Mandalorianer, der am Ende der ersten Staffel auch als handelnde Figur auftritt.




Die Serie enthält viele Referenzen auf Episode VI. Allerdings hatte ich nicht das Gefühl, dass Boba Fett als Figur eine große Zugkraft entfalten kann. Erst als der Mandalorianer auftaucht und in die Handlung eingreift, wird es wieder spannend und interessant. Ich hatte nicht das Gefühl, dass die Macher der Serie selbst wissen, was sie eigentlich zu Boba Fett erzählen wollen. Die Darstellung davon, wie er seinen Machtanspruch als Nachfolger von Jabba herstellen und verteidigen muss, hat mich nicht sonderlich mitgerissen. Da fand ich die Rückblicke auf das Zusammenleben mit den Sandleuten deutlich interessanter. Denn auf diese Weise erhalten wir einen umfassenderen Einblick in die Lebensweise dieser Spezies und in die lebensunwirtliche Welt von Tatooine.




Doch richtig spannend wird es, wie gesagt, erst, als der Mandalorianer auftritt. Er rückt ab Folge 5 verstärkt ins Zentrum und wir erfahren einiges über ihn. So muss er seinen Anspruch auf das Dunkelschwert verteidigen, erhält ein neues Schiff und nimmt wieder Kontakt zu seinem kleinen Schützling auf, um ihn vor eine Wahl über seinen weiteren Lebensweg zu stellen (so fügt sich auch wieder alles logisch ins Star-Wars-Universum ein). Irgendwie ist es aber bezeichnend, dass die besten Folgen der Serie diejenigen sind, in denen Boba Fett nicht oder kaum vorkommt. Meiner Meinung nach braucht es keine zweite Staffel. Ein paar Gastauftritte von Boba Fett in anderen Star Wars Serien würden mir reichen.

Freitag, 21. März 2025

Ashton, Edward - Mickey 7


Unsterblichkeit? Kein lohnenswertes Ziel…



Was wäre, wenn der Tod kein ungewöhnliches Ereignis darstellen würde, weil man als Klon einfach reproduziert werden könnte? Und was würde passieren, wenn ein für tot erklärter Klon unerwarteterweise doch überlebt hätte und trotzdem bereits ein neuer Klon angefertigt worden wäre? Wie fühlt es sich an, seinem eigenen Nachfolger zu begegnen und Angst haben zu müssen, nun aus dem Weg geräumt zu werden? Darum geht es in dem Buch „Mickey 7“, das auch als „Mickey 17“ verfilmt wurde und gerade im Kino läuft (Stand: März 2025).


In der futuristischen Welt von Mickey 7 kann sich jeder Mensch dafür entscheiden, ein sog. „Expandable“ zu werden. Doch sonderlich reizvoll ist das Dasein als Klon nicht. Der Preis, den man für die Unsterblichkeit zahlt, ist, gefährliche Missionen ausführen zu müssen, die das Leben kosten können. Wer würde ein solches Leben führen wollen? Eine interessante Frage, die hier aufgeworfen wird. Im Buch reißen sich nicht viele um diesen Job. Im Gegenteil: Mickey erscheint eher als Außenseiter und wird von Kameraden kritisch beäugt und gemieden.


Bei Mickey wird deutlich, dass er seinen Job als Expandable unterschätzt und nicht wirklich weiß, worauf er sich da eigentlich eingelassen hat. Er wirkt dadurch recht naiv und unbedarft. Sein Leben ist fortan nicht mehr viel wert. Häufig ist es leichter, eine Kopie herzustellen als einen todgeweihten Klon zu retten. Während der Lektüre bemitleidet man Mickey regelrecht, der einige Qualen zu durchleiden hat, wenn er mal wieder sein Leben im Rahmen einer gefährlichen Mission einsetzen muss.


Der Schreibstil ist aber ironisch-humorvoll, so dass das eigentlich schwer zu ertragende Schicksal von Mickey mich als Leser nicht zu sehr aufgewühlt hat. Stattdessen findet man viel Galgenhumor in diesem Buch. Der Protagonist nimmt sich selbst und sein Dasein nicht zu ernst. Gleichzeitig wird aber auch der Überlebenswillen von Mickey 7 deutlich. Er und sein Nachfolger einigen sich darauf, ein Versteckspiel in der Kolonie, in der sie leben, zu veranstalten, um nicht im sog. „Leichenschacht“ zu enden. Sie überlegen, wie sie sich ihre Schichten und das Essen aufteilen können, wen sie in das Geheimnis einweihen etc. Und die brenzligen Situationen, in die beide geraten, sowie die verbalen Schlagabtausche zwischen Mickey 7 und Mickey 8 sind amüsant gestaltet worden. Beide müssen sich gut abstimmen, um nicht erwischt zu werden (und die Kolonie ist klein…). Und als Leser bzw. Leserin wartet man förmlich darauf, dass beide irgendwie entlarvt werden. Kurzum: Eine kurzweilige, sehr unterhaltsame Lektüre, die aber trotzdem eine bedeutungsschwere Botschaft in sich trägt. Vom Erzählstil hat mich das Ganze sehr an Andy Weir erinnert und allein das ist großartig (auch hatte ich Assoziationen zu dem sehr sehenswerten Film „Moon“ von Duncan Jones, der aber philosophischer daherkommt).


Gut gefallen hat mir auch, dass einige Kontextinformationen zur futuristischen Welt in die Handlung eingeflochten werden. So erfahren wir etwas darüber, welche Prozeduren ein Klon zu durchlaufen hat, wenn er wiederhergestellt wird. Es gibt Rückblicke in die Leben von Mickey 3, 4, 5 und 6. Wir erfahren mehr über ihre Einsätze und wie sie umgekommen sind. Auch wird der Gefühlszustand von Mickey problematisiert: Wie lebt es sich damit, zu wissen, dass bereits einige Vorgängerversionen existiert haben? Ein weiteres Element, das Spannung erzeugt, sind die Creeper. Dabei handelt es sich um eine außerirdische Lebensform, die die Kolonie zu bedrohen scheint, in der Mickey lebt. Und nicht zuletzt wird der Blick auf die Menschheitsgeschichte insgesamt erweitert. Wir erfahren etwas über die Kolonisierungsgeschichte und die Entwicklung rund um die Expandables. Für mich ein rundum gelungenes Buch, das mich richtig gut unterhalten hat. Von mir gibt es dafür 5 Sterne! Ich bin schon gespannt auf die filmische Umsetzung.

Mittwoch, 19. März 2025

Im Schatten des Mondes (DVD)


Zeitzeugen berichten



In der Dokumentation „Im Schatten des Mondes“ kommen zehn der insgesamt 24 Astronauten, die den Mond besucht haben, selbst zu Wort (darunter Buzz Aldrin und Michael Collins von Apollo 11, Alan Bean von Apollo 12, Jim Lovell von Apollo 8 und 13, Edgar Mitchel von Apollo 14 und weitere). Sie sind die Zeitzeugen, die ein unvorstellbares Risiko eingegangen sind, um unseren Trabanten zu erreichen. Sie sind die einzigen Menschen unseres Planeten, die jemals einen anderen Himmelskörper betreten haben. Sie sind Pioniere! Und mit dieser Dokumentation wird ihnen ein kleines Denkmal gesetzt.


Der Wettlauf zwischen der UdSSR und den USA wird im Film gut nachgezeichnet. So werden z.B. die gesellschaftspolitischen Umstände der damaligen Zeit immer wieder in den Blick genommen (teils in Form von Original-Fernsehausschnitten von damals). Und es kommt sehr gut zum Ausdruck, dass die Tätigkeit als Test- und Kampfpilot eine wichtige Voraussetzung dafür war, um Astronaut werden zu können. Die interviewten Astronauten erläutern die Abläufe der Missionen und geben preis, was ihnen damals alles so durch den Kopf ging und was sie fühlten (z.B. beim Start der Trägerrakete). Sie lassen uns auf diese Weise ein wenig an ihren Erfahrungen teilhaben, die sie damals gesammelt haben (nach meinem Gefühl, kam vor allem Collins oft zu Wort).


Besonders spannend fand ich die Ausführungen zu Apollo 8 und natürlich zu Apollo 11. So wird z.B. erläutert, wie die Astronauten die drei Tage auf dem Weg zum Mond verbracht haben (es war sogar Zeit für eine Rasur :-) Collins berichtet, dass er sich die ganze Zeit in einem Zustand innerer Anspannung befunden hat, immer mit der Sorge im Hinterkopf, dass etwas schiefgehen könnte. V.a. auch über den Sinkflug und das Landemanöver auf dem Mond wird ausführlich und spannend berichtet. So musste z.B. einiges improvisiert werden, weil der Computer an Bord überlastet war und ausfiel. Ein besonderes Highlight waren Aufnahmen vom Mond, die während einer Fahrt mit einem Mondauto entstanden sind.


Was ich etwas schade fand, war die Tatsache, dass keine Statements von Neil Armstrong integriert wurden. Er und seine Fähigkeiten werden zwar lobend von seinen Kameraden Collins und Aldrin erwähnt, doch ich hätte mir noch mehr Material zu ihm gewünscht. Dass von ihm so wenig zu sehen ist, ist aber wohl dem Umstand geschuldet, dass er nach der Mondlandung ein sehr zurückgezogenes Leben geführt hat und ein sehr bescheidener Mann war. Trotzdem schade! Darüber hinaus wäre es hilfreich gewesen, wenn die Namen der Astronauten, die sich äußern, häufiger eingeblendet worden wären. Hin und wieder war ich ratlos, wer gerade überhaupt spricht, und zu welcher Apollo-Mission er denn gehört.


Als Bonusmaterial gibt es noch eine weitere interessante Reportage mit dem Titel „Behind the shadow“. Darin werden wichtige historische Vorläuferstationen im Vorfeld der Apollo-11-Mission thematisiert, so z.B. der Sputnik-Schock. Erst dieser Schock hat dazu geführt, dass die Amerikaner erkannten, dass sie vermehrt Anstrengungen im Bereich der Raumfahrt unternehmen mussten, um den sowjetischen Kontrahenten zu übertrumpfen. Darüber hinaus wird das Vorläufer-Programm von Apollo genauer vorgestellt: Gemini. In diesen Missionen wurden erstmals Außenbordeinsätze und Andockmanöver trainiert. Zwischendurch kommen immer auch wieder die Astronauten als Zeitzeugen zu Wort und schildern ihre Erinnerungen an diese Zeit. Es wird deutlich, dass die Astronauten viele persönliche Opfer bringen und Risiken eingehen mussten, um erfolgreich zu sein. Und was auch gut zum Ausdruck kommt: Es war ein langer Weg hin zu Apollo 11. Die einzelnen Missionen bauten stark aufeinander auf und setzten verschiedene Schwerpunkte, die im Hinblick auf das Ziel einer zukünftigen Mondlandung trainiert wurden. Viele, viele Tests waren nötig, um wichtige Erfahrungen zu sammeln und dann den großen Schritt auf den Trabanten zu wagen. Kurzum: Es handelt sich bei diesem Bonusmaterial um interessante Ergänzungen zur Hauptdokumentation, die vermutlich dort keinen Platz mehr gefunden haben.


Eine weitere Kurzdokumentation (Dauer: 10 Minuten) thematisiert, wie speziell für die Dokumentation Musik komponiert und arrangiert wurde. Ein wirklich großer Aufwand, der da betrieben wurde. Ich kann jedenfalls bestätigen, dass die für den Film verwendete Musik sehr stimmungsvoll ist und dem Inhalt noch eine besondere Atmosphäre verleiht. An vielen Stellen findet man eine passende musikalische Untermalung, die gut auf die sichtbaren Bilder abgestimmt ist.

Freitag, 14. März 2025

Westerboer, Nils - Lyneham


Ein ethisches Dilemma

 


In seinem Science-Fiction-Roman „Lyneham“ entwirft Nils Westerboer ein interessantes futuristisches Setting. Die Menschheit ist in der Lage, interstellare Reisen zu unternehmen und andere Welten zu „terraformen“ sowie zu besiedeln. Dabei wird man auch mit der Herausforderung konfrontiert, veränderte Zeitdimensionen zu bewältigen. So macht es der technologische Fortschritt möglich, dass ein Raumschiff, das später als ein anderes Schiff von der Erde gestartet ist, schon früher auf einem fremden Himmelskörper ankommt.

 



Perm

Bei Perm handelt es sich um einen Exomond. Man benötigt 12.000 Jahre um ihn von der Erde aus zu erreichen (Kälteschlaf und sog. Stasiskammern machen es möglich). Seine Umwelt ist lebensfeindlich, das Terraforming ist noch nicht abgeschlossen. Was auffällt: Die Beschreibung der fremden Astrobiologie, der andersartigen Geologie und der dort vorherrschenden Umweltverhältnisse ist äußerst kreativ und gelungen. Das hat mir alles richtig gut gefallen. Zudem findet man innen, auf dem vorderen und hinteren Buchdeckel, Skizzen zu den sog. Biomen, in denen die Kolonisten leben. So kann man sich gut in die Lebenswelt der Protagonisten einfühlen und sich einen Eindruck von den Örtlichkeiten auf dem fremden Himmelskörper machen. Auch das Glossar am Ende des Buchs hilft dabei, sich in die andersartige Lebenswelt auf dem Exomond einzufinden.



Familienbande

Erzählt wird der Roman aus der Sicht des 12-jährigen Henry, der zusammen mit seinen beiden Geschwistern Loy und Chester und seinem Vater Charles bereits nach Perm gereist ist. Die Mutter, eine Wissenschaftlerin, die das Ökosystem des Himmelskörpers genauer untersucht, wird vom Rest der Familie getrennt nachreisen. V.a. ihre Perspektive sorgt dafür, dass in dem Buch auch genügend „science“ vorkommt.

Die Anreise verläuft nicht ohne Komplikationen. Beim Anflug auf dem Mond stürzen sie mit ihrem Schiff ab und müssen sich zur nächsten Kolonie durschlagen, um zu überleben. Der Sauerstoffvorrat ist begrenzt. Das erzeugt v.a. zu Beginn jede Menge Spannung. Später rücken dann andere Dinge in den Fokus. Es wird v.a. das Leben in der Kolonie geschildert, die Spannungskurve ebbt nach meinem Gefühl deutlich ab. Auch erfährt man am Rande etwas darüber, was aus der Erde geworden ist, welches Forschungsinteresse die Mutter verfolgt und über die Gründe, warum sie nicht mit ihrem Ehemann und den Kindern mitgereist ist. Und darüber schwebt v.a. die Frage, ob, wie und wann die Familie wieder zusammenfindet.



Der ethische Konflikt

In den eingeschobenen Kapiteln zur Mutter wird deutlich, dass das Forschungsteam um sie herum mit seinem Gewissen vereinbaren muss, für das Terraforming in das Ökosystem eines fremden Trabanten einzugreifen. Die Ankunft der Menschen stört das seit Millionen von Jahren bestehende Gleichgewicht. Dies hat schwerwiegende Konsequenzen für die Flora und Fauna sowie für die Tierwelt, die sich deutlich von der irdischen unterscheiden und an andersartige Umweltbedingungen angepasst ist. Die Konsequenzen des Eingriffs der Menschen sind schwer kalkulier- und vorhersehbar. Als Leserin und Leser ist man mit einem ethischen Dilemma konfrontiert. Darf man in ein fremdes Ökosystem eingreifen, um das eigene Überleben zu sichern?



Schreibstil

Den bedeutungsoffenen Schreibstil empfand ich als sperrig und herausfordernd, das muss ich ehrlich zugeben. Der Inhalt ist oft mehrdeutig, ambivalent, vage und interpretierbar. Es entstehen viele, viele Leerstellen, die man selbst aktiv mit dem eigenen Textverständnis schließen muss. Häufig fehlen Kontextualisierungen, Erklärungen und Begründungen. Vieles wird nur angedeutet und nicht explizit ausformuliert. Zusammenhänge werden nicht immer deutlich. Ob man sich mit einem solch unklaren Schreibstil anfreunden kann, muss jede und jeder für sich selbst herausfinden. Ich konnte mich darauf einlassen, lese aber lieber Bücher mit einem verständlicheren Schreibstil.



Leseempfehlung

Das Buch ist v.a. für solche Leserinnen und Leser geeignet, die sich für ein Setting in einer weit entfernten Zukunft begeistern können und sich mit einem Schreibstil anfreunden können, der die Leserinnen und Leser die Bedeutung des Textes aktiv mitkonstruieren lässt. Der Roman fragt vor allem auch nach der Verantwortung von Wissenschaft und thematisiert die Bedeutsamkeit von Familie. Da mir aber über weite Strecken Spannung fehlte, gebe ich vier von fünf Sternen.

Mittwoch, 12. März 2025

Green, Hank - Ein wirklich erstaunliches Ding


Mediale Aufmerksamkeit und ihre Konsequenzen



Auf dem Weg nach Hause stößt die 23-jährige Grafikdesignerin April eines Nachts in New York auf eine Skulptur, die aussieht wie ein Roboter und ihr den Atem verschlägt. Sie ist so fasziniert von der Figur, dass sie ihren Freund Andy kontaktiert und ihn darum bittet, ein Video davon aufzunehmen. Darin übernimmt sie die Moderation. Später geht dieses Video viral. April und Andy erhalten zahlreiche Reaktionen auf ihren Youtube-Beitrag und schnell stellt sich heraus, dass solche Skulpturen auf der ganzen Welt aufgetaucht sind, und keiner weiß, wer sie aufgestellt und was es mit ihnen auf sich hat. Der Ereignisse überschlagen sich. Andy und April erhalten Interviewanfragen von Fernsehsendern und verdienen innerhalb kürzester Zeit viel, viel Geld. Sie durchlaufen eine Schleife medialer Aufmerksamkeit.


Es wird deutlich, dass April mit diesem Hype um ihre Person wenig anfangen kann. Der ganze mediale „Zirkus“ wird von ihr recht negativ wahrgenommen. Sie behält eine kritische Distanz zum Geschehen und gerade das macht sie besonders authentisch. Ihr ist die Meinung anderer nicht so wichtig und sie passt sich nicht vorschnell an die Erwartungen an, die von außen an sie herangetragen werden (Andy wirkt da deutlich angepasster). Kurzum: April bewahrt sich ihre Freiheit, Unabhängigkeit und Unbedarftheit. Und Andy und April treiben ihre eigene mediale Inszenierung voran. Ihr medialer Auftritt wird im Laufe der Zeit immer professioneller und sie machen von Marketing-Tricks Gebrauch. Sie wollen den maximalen Profit aus der Aufmerksamkeit ziehen und diese so lange aufrechterhalten wie möglich. Dabei zeigt sich aber auch, unter welchem Druck v.a. April steht. Sie geht voll in ihrer Aufgabe auf und will stets als Erste neue Informationen zur Figur posten. Dabei muss sie sich auch gegen Konkurrenten durchsetzen und Anfeindungen aushalten. Sie zahlt also einen hohen Preis für ihren medialen Erfolg.


Neben der Kritik an den Medien, die in diesem Roman durchscheint, geht es auch darum, das Rätsel um die Skulptur aufzulösen. Was hat es mit ihr auf sich? Handelt es sich etwa um eine außerirdische Kontaktaufnahme? So findet man z.B. heraus, dass das Material aus dem die Figur hergestellt wurde, nicht-irdische Eigenschaften aufweist. Auch diese Fragen treiben die Handlung voran. Im weiteren Handlungsverlauf zeigt sich dabei auch, dass die Menschheit im Wesentlichen in zwei Lager zerfällt, und zwar in diejenigen, die etwas Schlechtes in der Skulptur sehen, und in diejenigen, bei denen sie Hoffnungen auf eine bessere Zukunft weckt. Die Stimmung zwischen den Anhängern dieser beiden Lager wird zunehmend aufgeheizter. Eine interessante Analyse der Psychologie von Massen, die hier deutlich wird.


Der Erzählton ist sehr jugendlich und erfrischend. An vielen Stellen finden sich direkte Leseransprachen, die den Inhalt auflockern und einen persönlichen Draht zur Leserschaft herstellen. Ab und zu schüren vorausdeutende Aussagen weiter die Neugier. Das ist gut gemacht. Darüber hinaus ist die Handlung auch nicht langatmig. Es gibt immer wieder neue Entwicklungen, die das Geschehen in eine neue Richtung lenken. Auch das hat mir gut gefallen. Lediglich das Ende fand ich etwas enttäuschend. Das war mir insgesamt zu dünn, was als Auflösung präsentiert wurde. Die Erwartungshaltung, die geschürt wurde, war schließlich ziemlich hoch. Sie wurde aber in meinen Augen nicht zufriedenstellend bedient. Ein paar mehr Informationen und Hintergründe zu dem, was sich ereignet hat, hätte ich mir schon noch gewünscht.

Dienstag, 11. März 2025

Der Mandalorianer (Staffel 2)


Der Auftrag des Mandalorianers



Zu Beginn der ersten Folge von Staffel 2 wird direkt klar, was das Ziel des Mandalorianers ist: andere seiner Art zu finden und seinen kleinen Schützling auf seinen Heimatplaneten zu bringen. Die Serie bleibt sich treu, auch in Staffel 2 findet man wieder einige Western-Elemente, die ich bereits in einer früheren Rezension beschrieben habe. Allerdings treten sie im weiteren Handlungsverlauf deutlich zurück (Ausnahme: Folge 1).


Handlungsort der ersten Folge ist Tatooine und es tauchen viele wiedererkennbare Dinge aus dem Star Wars Universum auf (z.B. Sandleute und Jawas). Als Fortbewegungsmittel werden Gleiter anstelle von Pferden benutzt. Und was auch beim Schauen dieser zweiten Staffel deutlich wird: Die Folgen sind enger miteinander verzahnt und bauen deutlicher aufeinander auf. Das ist ein Unterschied zur ersten Staffel. Auch empfand ich Staffel 2 humorvoller erzählt. Es gibt hin und wieder einige lustige Szenen, die geschildert werden.


Beginnend mit Folge 3 nimmt die Handlung an Fahrt auf und entwickelt eine neue Tiefe. Auf einmal spielen das Imperium und die Suche nach Jedis wieder eine Rolle. Und Folge 5 bildete einen ersten Höhepunkt: Eine neue Jedi-Ritterin taucht auf (der auch eine eigene Serie gewidmet wurde: Ahsoka) und man erfährt endlich mehr über den kleinen Grogu.


Mit der Figur von Ahsoka wird das Star Wars Universum nun um eine weitere neue Figur erweitert, die sich in meinen Augen nicht ganz widerspruchsfrei einfügt. Ich dachte, dass Luke Skywalker der letzte Jedi-Ritter sei. Ich gehe aber davon aus, dass diese logische Ungereimtheit evtl. in der Serie zu ihr (Titel: „Ahsoka“) aufgelöst und weiter erklärt wird. 


Das Ende dieser zweiten Staffel stellt einen weiteren Höhepunkt dar. Es gibt einen überraschenden Gastauftritt von einer Figur, die ich hier nicht erwähnen möchte. Möge sich jede und jeder selbst überraschen lassen. Nur so viel: Durch den Gastauftritt ist die Figur von Grogu schwer mit Episode VII bis IX vereinbar. Auch hier bin ich gespannt, ob es dafür noch eine logische Erklärung geben wird. Insgesamt hat mir die Serie wieder gut gefallen. Sie kann in meinen Augen qualitativ mit der ersten Staffel mithalten und wartet mit einigen gelungenen Überraschungen auf, die aber hoffentlich mit dem Franchise noch in Einklang gebracht werden.

Montag, 10. März 2025

Olsberg, Karl - Mirror


Künstliche Intelligenz als Lebensberatung



Zu Beginn lernen wir Andy kennen, der zu seinem Geburtstag eine neue Hardware erhält: einen sog. Mirror. Dabei handelt es sich um ein digitales Ebenbild, das seinem Nutzer als eine Art Lebensberater zur Seite steht. Der Mirror überwacht z.B. die Gesundheitswerte, hilft dabei, die richtigen Entscheidungen zu treffen oder Pläne zu verwirklichen, und er berät bei der Partnerwahl. Für Andy hat das Gerät noch einen zusätzlichen Nutzen. Er hat das Asperger-Syndrom und der Mirror hilft ihm dabei, die Gesichtsausdrücke seiner Mitmenschen einzuschätzen, so dass er sich besser in seiner Umwelt zurechtfindet. Im weiteren Handlungsverlauf hilft der Mirror Andy dabei, eine Freundin zu finden: Viktoria (die hochsensibel ist). Zwischen beiden kommt es zu einer Annäherung, bis der Mirror auf einmal damit beginnt, sich in die Beziehung der beiden einzumischen…


Der Preis, den die Anwender für die Nutzung des Mirrors zahlen, ist hoch. Sie lassen sich auf freiwilliger Basis vollständig überwachen, geben viele (v.a. auch persönliche) Daten preis und lassen sich beim eigenständigen Denken helfen. Und es ist erstaunlich, dass die Menschen ohne Weiteres dazu bereit sind, diesen beschriebenen Preis zu zahlen und ihre Privatsphäre aufzugeben. Im Gegenzug ist der Mirror darum bemüht, dem Nutzer sein Leben so angenehm wie möglich zu gestalten.


Doch bald wird offenkundig, dass die Geräte ihre Nutzer massiv beeinflussen und sogar manipulieren. Sie entwickeln eigene Vorstellungen davon, was gut für die Nutzer ist und übertreiben es mit ihrem Optimierungswahn. Die Anwender werden regelrecht abhängig von der neuen Technologie. Kritik an den Mirrors wird öffentlich und es entsteht ein erster Protest, der der Nutzen der neuen Technologie in Zweifel zieht. Doch selbst in dieser Situation finden sich genug Menschen, die das Gerät verteidigen und nicht bereit sind, die Gefahr, die von den Mirrors ausgeht, zu erkennen. Und auch das Mirror-Net, das einen eigenen Willen entwickelt, ergreift Gegenmaßnahmen. Eine beängstigende Vorstellung…


In diesem Thriller gibt es mehrere Perspektiven, die einander abwechseln. Man benötigt ein bisschen Zeit, um den Überblick zu gewinnen. Nach meinem Gefühl wird dem Strang um Andy herum aber der meiste Raum zugestanden. Und das ist auch gut so. Andy und Viktoria entwickeln in meinen Augen die größte Zugkraft in diesem Roman und aufgrund ihrer neurodiversen Züge haben sie bei mir ein besonderes Interesse erregt. Was mir ebenfalls gut gefallen hat, ist der Umstand, dass das Thema Datenschutz in diesem Thriller eine große Rolle spielt. Man sollte mit einer neuen Technologie nicht zu leichtfertig umgehen, so die Botschaft.


Verglichen mit anderen Büchern von Olsberg, die mich alle restlos überzeugt haben (vgl. dazu frühere Rezensionen), fand ich dieses etwas weniger spannend. Am Ende waren es mir zu viele Blickwinkel, die parallel fortentwickelt werden, die Anzahl der Figuren waren mir zu hoch. Ich hätte mir am Schluss mehr Dynamik gewünscht. Aber die im Buch enthaltene Anregung zum Nachdenken hat mir sehr gut gefallen. Ich hoffe sehr, dass die Menschen sich in Zukunft nicht so leicht von einem Gerät manipulieren und auch instrumentalisieren lassen.


Der Roman wird abgerundet von einem aussagekräftigen und lesenswerten Nachwort. Darin hält der Autor seine Überlegungen zur Entwicklung von KI fest und meldet Bedenken an, was die Bereitschaft der Nutzer angeht, ihre privaten Daten preiszugeben. Er sieht in naher Zukunft eine Technologie, wie sie im Buch beschrieben wird, auf uns zukommen. Die Entwicklung der Smartphones sei ja bereits ein erster Schritt in eine solche Richtung (da hat Olsberg nicht Unrecht, wie ich finde). Die Smartphones sind ja schon heute permanente Alltagsbegleiter und helfen jedem von uns dabei, wichtige Entscheidungen zu treffen oder Informationen zu suchen. Aber der Autor will sich nicht falsch verstanden wissen. Er sei kein Gegner von neuer Technologie, aber er hoffe darauf, dass die Menschen verantwortlich mit neuen Technologien umgehen werden. Dieser Hoffnung schließe ich mich an!

Mittwoch, 5. März 2025

Harvey, Samantha - Umlaufbahnen


„Es werde Licht“



Wir befinden uns in der faszinierenden Gedankenwelt von Astronauten, die von oben auf die Erde blicken und eine völlig veränderte Zeitwahrnehmung erfahren, weil sie einen anderen kosmischen Rhythmus erleben. An einem Arbeitstag im All geht die Sonne 16-mal auf und unter. Gleichzeitig wird deutlich, wie verletzlich und zerbrechlich die Erde ist. Inmitten des unendlichen Nichts eine Kugel voll von Leben, winzig und schutzlos den Kräften des Alls ausgeliefert.


Der Aufenthalt auf der Raumstation erfüllt die Astronauten mit Glückseligkeit, doch gleichzeitig sind sie nicht für diese lebensfeindliche Umwelt gemacht. Täglich müssen sie viel Sport treiben, um dem Muskelschwund zu begegnen, der durch die Schwerelosigkeit verursacht wird. Und auch die Wahrnehmung von Raum verändert sich dort oben. Die Welt erscheint als Ganzes, sie wird holistisch wahrgenommen. Länder rasen vorbei. Und von den Spuren des Lebens auf der Erde sieht man nur etwas im Dunkeln der Nacht, wenn sich die Menschen durch Beleuchtung verraten. Im Hinterkopf auch stets die Frage, ob wir allein im Universum sind und was der eigentliche Zweck der Raumfahrt ist.  


Der Tagesablauf auf der Raumstation wird beschrieben. Er ist eng getaktet, unterbrochen nur von Kontaktaufnahmen zu Angehörigen auf der Erde und den Mahlzeiten, und die Astronauten sind ständig eingebunden in Aufgaben. Wissenschaftliche Untersuchungen und meteorologische Beobachtungen müssen durchgeführt werden. U.a. wird die Erde spektrografisch vermessen. Und herausfordernd ist auch das Fehlen von Privatsphäre. Ständiges Zusammensein mit anderen, wenig Rückzugsmöglichkeiten, beschränkt auf einen kleinen Raum. Ein Leben mit vielen Entbehrungen. Sehnsucht nach den Liebsten auf der Erde und unter ständiger Kontrolle und Beobachtung. Der psychologische Druck ist hoch.


Was mir an diesem Buch außerordentlich gut gefallen hat, ist, dass man sich an das Leben auf der Raumstation einfühlen kann. Und die Autorin schafft es hervorragend, die verschiedenartigen Lichteffekte, die von der Erdoberfläche ausgehen, und das kosmische Farbenspiel in Worte zu fassen und zu beschreiben. Es ist beachtlich, wie kreativ und gelungen die Formulierungen sind, um das visuelle Erleben einzufangen. Interessant ist auch, dass die fiktive Handlung des Buchs wenige Jahre in der Zukunft verortet ist. Es ist die Rede von der ersten Astronautin auf dem Weg zum Mond (ein Vorgriff auf die kommende Artemis-Mission).


Der Erzählton dieses Buchs ist ruhig, auf Handlungsebene passiert nicht viel. Im Zentrum stehen v.a. die Schilderungen des Lebens an Bord der Station sowie die Beschreibung der Wahrnehmung der Astronauten. Faszination übt z.B. auch das Schauspiel des Wetters auf der Erde aus. Es wird wenig geredet. Trotzdem gibt es zwischendurch immer wieder einige Highlights, so z.B. die Darstellung des Erlebens eines Außenbordeinsatzes oder ein kurzer Abriss der kosmischen Evolution: „Im kosmischen Kalender des Universums und des Lebens, demzufolge der Urknall am 1. Januar vor fast vierzehn Milliarden Jahren stattfand (…) wurden die ersten Galaxien gegen Ende Januar geboren (…) am 14. September vor vier Milliarden Jahren (das meinen zumindest einige) bildete sich dann eine Art Leben auf der Erde (…) Der erste Weihnachtstag (…) da betraten die Dinosaurier für ihre fünf Tage Ruhm die Bühne. (…) Sechs Sekunden vor Mitternacht kam Buddha (…) In der letzten Sekunde des kosmischen Jahres folgen die Industrialisierung, Faschismus, der Verbrennungsmotor (…)“ (S. 182-185).


Das Buch ist für solche Leserinnen und Leser geeignet, die sich in das innere Erleben von Astronauten auf einer Raumstation hineinversetzen wollen und sich dabei auf poetische Sprache einlassen können. Es gibt keine spannungserregenden Impulse oder einen roten Faden. Die Beschreibungen zeichnen sich durch Handlungsarmut aus. Daran sollte man sich nicht stören. Mir persönlich hat das Buch sehr gut gefallen, weil man sich, wie schon oben erwähnt, gut in das Leben an Bord der Station einfühlen konnte.

Samstag, 1. März 2025

Esipov, Vladimir - Die russische Tragödie


Russische Mentalitätsgeschichte 



Der Autor des Buchs „Die russische Tragödie“ ist selbst in Russland geboren und aufgewachsen und kennt die Kultur des Landes somit aus erster Hand. Er wirft einen kritischen Blick auf seine eigene Heimat und berichtet davon, wie sich Russland in den letzten dreißig Jahren verändert hat. Dabei ist er sehr gut in der Lage, Zusammenhänge zu verdeutlichen und mögliche Gründe aufzuzeigen, warum aus Russland eine Nation geworden ist, die sogar vor einem Angriffskrieg auf die Ukraine nicht mehr zurückgeschreckt hat. Seine Analyse der russischen Gesellschaft wirkt auf mich kenntnisreich und weitestgehend sehr plausibel (soweit ich das selbst überhaupt aus der Ferne beurteilen kann). Die Darstellung liest sich insgesamt sehr eingängig. Die Sprache ist klar. Und er stellt in seinem Vorwort eine wichtige Frage: „Was tun mit dem größten Land des Kontinents, das sich in den letzten dreißig Jahren in mancher Hinsicht stärker verändert hat als einige europäische Länder in den letzten zweihundert Jahren?“ (S. 10)


Kapitel 1 – Die „starke Hand“

Der Autor wirft einen Blick zurück in das Jahr 1999, das seiner Meinung nach ein schicksalhaftes Jahr gewesen ist. Einerseits hat die NATO trotz des Protests aus Moskau in den Jugoslawien-Konflikt eingegriffen, andererseits ist nach der Absetzung Primakovs durch Jelzin ein Machtvakuum im Kreml entstanden (wer erinnert sich heute noch an Primakov und Stepaschin?), an dessen Ende sich Putin durchsetzte, obwohl er zum damaligen Zeitpunkt völlig unbekannt war und man ihm keine großen Chancen bei der Präsidentschaftswahl zutraute. Des Weiteren verweist der Autor auf die schwierigen demokratischen Anfänge und großen wirtschaftlichen Probleme in Russland in den 1990er Jahren, die viel Unsicherheit erzeugten. Den Menschen ist durch die Inflation immer wieder unmöglich gemacht worden, Geld zu sparen bzw. Vermögen zu bilden. Und die Russen haben schnell gemerkt, dass die Demokratie nicht dazu führte, dass es ihnen spürbar besser ging. Die Freiheit der postsowjetischen Zeit ist zu wenig von Rechtsstaatlichkeit gestützt worden, so Esipov. Es haben anarchistische Zustände geherrscht, bei denen sich die Stärksten auf Kosten der Allgemeinheit bereichert haben. Eine starke moralische Desorientierung in der Gesellschaft ist spürbar gewesen. Die Menschen in Russland bringen die demokratischen Anfänge noch heute v.a. mit Existenzängsten in Verbindung. Inflation und Lebensmittelknappheit haben den Alltag der Russen in den 1990er Jahren beherrscht. Noch dazu hat Jelzin in der Öffentlichkeit kein gutes Bild abgegeben, was viele Russen im Inland verstörte. Hartnäckig hielten sich Gerüchte darüber, ob er zu viel trinkt.

 

Kapitel 2 – Der Untergang

Der Autor widmet sich den chaotischen Zuständen Anfang der 1990er Jahre. Er erläutert, dass aus der Sowjetunion 15 neue Nationalstaaten mit einer eigenen nationalen Identität und einer eigenen Amtssprache hervorgegangen sind. Neue Grenzen sind entstanden, Grenzkontrollen sind eingeführt worden. In den baltischen Staaten hat plötzlich eine Visapflicht für Russen gegolten. Und viele Länder haben möglichst rasch aus der Sowjetunion austreten und eigenständig werden wollen. Eigene Armeen und Währungen sind gegründet bzw. eingeführt worden. Gleichzeitig hat sich in vielen Nationalstaaten ein neues Nationalbewusstsein entwickelt. Und dennoch hat es in vielen Ländern russische Minderheiten gegeben, die weder der neuen Amtssprache mächtig waren noch mit den neuen Entwicklungen zufrieden waren. Teilweise haben diese Minderheiten ihrerseits wieder nach Unabhängigkeit gestrebt. Kurzum: Ethnische Konflikte sind vorprogrammiert gewesen.

Diese beschriebenen geopolitischen Verwerfungen waren aber nicht der einzige Grund dafür, warum Chaos herrschte. Auch die Lebensmittelversorgung ist problematisch gewesen. Anfang der 1990er Jahre musste der Lebensmittelverkauf rationiert werden. Diese Erfahrungen haben sich tief ins kollektive Gedächtnis der Russen eingebrannt. Das einstmals stolze Russland hat in einer tiefen Versorgungskrise gesteckt. Kein Wunder, dass sich die Russen (auch heute noch) v.a. nach Stabilität und Ordnung sehnen.

Weiterhin hat es politische Umwälzungen sowie eine Hyperinflation zu Beginn der 1990er Jahre gegeben. Letztere hat zur Enteignung der Bürgerinnen und Bürger geführt. Anhand der Analyse des Autors wird in meinen Augen gut deutlich, wie die Sowjetunion nach 1990 als einstige Supermacht plötzlich „implodierte“ und politisches und wirtschaftliches Chaos herrschte. Der Preis, den die Bürger für ihre Freiheit zahlen mussten, war hoch. Armutsgefährdung griff um sich. Kriminalität entstand, weil der Rechtsstaat nicht souverän genug agieren konnte. Esipov spricht von einer „Bereicherungsmentalität“. Kurzum: Keine gute Grundlage für eine Vertrauensbildung in die Demokratie.

 

Kapitel 3 – Die Wahlen

In diesem Kapitel rückt das Thema „Wahlen“ in den Fokus. Esipov wirft einen Blick zurück auf das Jahr 1996, als Boris Jelzin sich für eine zweite Amtszeit bewarb. Jelzins Gegner war ein Kommunist namens Zjuganov, der in den Umfragen führte. Niemand hat gewusst, wie die Wahl ausgeht. Doch Jelzin hat es geschafft, die öffentliche Meinung mit einer Kampagne zu drehen. Dafür hat er eine unglaubliche TV-Präsenz an den Tag gelegt und auf das Mittel der Dämonisierung seines Gegners zurückgegriffen. Jelzin hat gar die Angst vor einem Bürgerkrieg geschürt. Nach Ansicht des Autors öffnete dieser Wahlkampf der öffentlichen Meinungsmanipulation Tür und Tor. In medialer Hinsicht ist alles unternommen worden, um den kommunistischen Gegenkandidaten zu verhindern. Sowohl die Oligarchen als auch die Journalisten waren klar auf der Seite Jelzins. Von einer objektiven Berichterstattung konnte nicht die Red sein, so Esipov. In der Bevölkerung hat dies eine negative Signalwirkung gehabt und die Politikverdrossenheit hat zugenommen. Die Medien, so die Auffassung der Russen, könnten nicht unabhängig berichten.

Und der Autor stellt weitere Analysen dazu an. Er meint, dass die Wahlen in Russland nie wirklich demokratisch gewesen sind. Bei keiner Präsidentschaftswahl hat es z.B. öffentliche TV-Debatten gegeben. Und auch die geringe Wahlbeteiligung ist Ausdruck von Politikverdrossenheit (hier hätte ich mir mehr Zahlen als Belege gewünscht).

Eine weitere Zäsur, auf die Esipov in diesem Kapitel eingeht, ist das Jahr 2012. Proteste haben Putins Wiederwahl begleitet. Danach hat eine Verschärfung von Gesetzen stattgefunden. In den Augen des Autors ist die Zivilgesellschaft vor allem mit folgenden Maßnahmen angegriffen worden: Die Verschärfung des Demonstrations- und Versammlungsrechts sowie eine deutlich stärkere behördliche Kontrolle von Stiftungen, Medien und nicht-staatlichen Organisationen.

 

Kapitel 4 – Die USA

In diesem Kapitel dreht sich alles um den einstigen Gegner der Sowjetunion: Die USA. Schon was die Popkultur Ende der 1980er Jahre betraf, ist die Sowjetunion dem Opponenten klar unterlegen gewesen. Der Lebensstil der Amerikaner ist auch vielen Sowjetbürgerinnen und -bürgern äußerst attraktiv erschienen. Man hat den Klassenfeind als äußerst kreatives und wohlhabendes Land wahrgenommen. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR hat Amerika einige Anstrengungen unternommen, um den einstigen Gegner zu unterstützen. Luftbrücken sind eingerichtet worden, mit denen Medikamente und Lebensmittel nach Russland transportiert worden sind. Es hat einige Initiativen humanitärer Hilfe gegeben, so Esipov. Auch ist Russland Geld geliehen worden, damit es Kredite aufnehmen konnte. Man hat es bei seinem wirtschaftlichen Transformationsprozess beraten. 1996 hat Jelzin im Wahlkampf sogar Unterstützung von amerikanischen PR-Strategen erhalten. Doch bei aller Hilfe gab es nach der Analyse des Autors auch Erniedrigungen. So hat Russland 1998 Zahlungsunfähigkeit anmelden müssen. Und Russlands Protest beim Kosovo-Krieg im Jahr 1999 ist überhört worden. Russland hat sich jahrelang nicht in der Position befunden, Stärke zu demonstrieren. Im Laufe der Jahre hat sich sogar immer mehr die Ansicht durchgesetzt, dass die USA Russland destabilisieren will. Nach Ansicht Esipovs knüpft man unter Putin wieder an das alte Feindbild an und stilisiert Amerika zum Gegner (wie zu Sowjetzeiten). Es macht fast den Eindruck, als hat Russland eine tiefe Kränkung erfahren und will sich nun für die erlittenen Erniedrigungen rächen. Inzwischen lehnt man das amerikanische Modell der individuellen Freiheit wieder ab und Russland will sich wieder als Gegenmodell zu den USA positionieren. Dies ist ein Akt der Selbstbehauptung, so der Autor. Wie zu Sowjetzeiten isoliert sich Russland damit v.a. wieder selbst. Und die Unterstützung der Amerikaner für die Ukraine wird als Bestätigung für die genannte These angesehen, dass die USA Russland schaden und es zerstören will.

 

Kapitel 5 – Die Presse

Esipov verweist darauf, dass Journalisten in Russland sehr gefährlich leben. Dies verdeutlicht er am Beispiel von Anna Politkovskaja, die 2006 ermordet wurde. Dabei hat der kritische Journalismus zu Beginn der 1990er Jahre eine kurze Blütephase erlebt. Die Medien haben die Arbeit von Politikern kritisch begleitet und sind eine wichtige Stütze der Zivilgesellschaft gewesen. Doch die wirtschaftlichen Verwerfungen und die Not der Menschen, die mit ihren eigenen Problemen beschäftigt waren, haben verhindert, dass ein kritischer Journalismus dauerhaft Fuß fassen konnte. Der Autor zählt die vielen Opfer namentlich auf, die im Laufe der Zeit (und noch vor Politkovskaja) ermordet worden sind. Freie Medien werden vom Staat als Gefahr für die gesellschaftliche Stabilität und Ordnung angesehen. Esipov erläutert auch die schwierigen Ausbildungsverhältnisse von Journalisten. Die Ausbildungsstandards haben zu wünschen übriggelassen. Dementsprechend ist die Qualität der journalistischen Arbeit auch nicht immer tadellos gewesen, so der Autor. Es hat jede Menge Falschmeldungen gegeben. Und der Journalismus ist aufgrund seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit nicht frei von Einflussnahme von außen gewesen. Aus diesem Grund begegnen viele Russen der Berichterstattungen immer auch mit einer gewissen Skepsis. Gleichzeitig hat der Staat die Pressefreiheit nach und nach weiter ausgehöhlt und die freie Meinungsäußerung Schritt für Schritt stärker eingeschränkt. Eine weitere negative Entwicklung ist gewesen, dass sich europäische Verlage nach einem Zwischenhoch allmählich vom russischen Markt zurückgezogen haben. Zwar hat es eine Zeit lang für russische Journalistinnen und Journalisten das Angebot von Fortbildungen im Ausland gegeben, doch mit der Zeit sind diese Bemühungen vom russischen Staat immer weiter beschnitten worden. Die ausländischen Fortbildungsveranstaltungen und Programme sind nach und nach eingestellt worden. Und der Autor zählt weitere Gründe auf, warum sich eine freie Presse in Russland nicht etablieren konnte: das Fehlen von Rechtsstaatlichkeit und einer unabhängigen Justiz sowie eines kaufkräftigen Publikums. Seit den 2000er Jahren ist die staatliche Kontrolle über Medien und Zeitungen immer größer geworden. Mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Gleichschaltung der Medien ihren Höhepunkt erreicht und es wird wieder an die sowjetische Berichterstattung der 1970er Jahre angeknüpft, so Esipov. Es ist wieder die Rede von Militär und präventiven Atomschlägen, von Waffen und von westlicher Bedrohung. Kritische Massenmedien werden als ausländische Agenten eingestuft, um ihnen die Legitimität abzusprechen. Nun ist die Meinungsbildung wieder verstaatlicht und die Propaganda agiert ganz im Sinne des Kremls.

 

Kapitel 6 – Das Geld

Esipov erläutert, dass einige wenige, die Reichtum angehäuft haben, diesen auch zur Schau stellen. In Russland herrscht eine unglaubliche Dekadenz. Das macht der Autor am Beispiel der Gastronomie deutlich. Reichtum in Russland geht immer auch mit einer gewissen Prunksucht einher. Man zeigt nach außen, was man hat. Moskau ist eine der teuersten Städte der Welt, unterscheidet sich aber vom Rest des Landes. Es existiert eine riesige Kluft zwischen den Preisen in der Hauptstadt und den Löhnen, die normalen Leuten auf dem Land gezahlt werden. Esipov erklärt das teilweise auch damit, dass nach den Jahren des Verzichtes zu Sowjetzeiten ein regelrechter Konsumwahn nach deren Zusammenbruch ausgebrochen ist. Nach den schwierigen 90er Jahren haben sich die Russen allmählich immer mehr leisten können. Ein wichtiger Grund für die Vermehrung des Wohlstands ist auch der steigende Ölpreis gewesen (ab den 2000er Jahren ist das BIP jedes Jahr um 7% gestiegen, erst ab 2012 ist diese rasante Entwicklung gestoppt worden). Sogar Auslandsurlaube sind möglich geworden. Und noch eine These äußert Esipov: Der Besitz von Statussymbolen ist den Russen wichtiger als politischer Aktivismus. Und der Autor geht noch auf einen weiteren interessanten Aspekt ein: Er vergleicht die Sparquote der Russen mit der der Deutschen. Dabei stellt er heraus, dass die Russen so gut wie überhaupt keine Affinität zum Sparen haben (vermutlich auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus den 1990er Jahren). Weiterhin beschreibt Esipov die tief verankerte Ungerechtigkeit im postsowjetischen Russland und erläutert auch das Steuermodell. Dabei zeigt sich die ganze Härte des Systems. So etwas wie ein Prinzip der Solidarität existiert nicht. Der Spitzensteuersatz liegt bei unglaublichen 15% und die Korruption spielt nach wie vor eine große Rolle (v.a. Bestechungsgelder an Beamte).

 

Kapitel 7 – Das Image im Ausland

In diesem Kapitel beschreibt der Autor zunächst eine persönliche Erfahrung, die er in den 90er Jahren gemacht hat. Er wird bei Deutschen während eines Abendessens mit vielen Klischees zu Russland konfrontiert. Dabei stellt er fest, dass die Ansichten der Gastgeber zu seiner Heimat sehr negativ waren. Doch Esipov wollte nicht bemitleidet, sondern gleichbehandelt werden. Und seiner Einschätzung nach mag es vielen Russen in den 1990er Jahren ebenfalls so gegangen sein. Die Hoffnungen des Auslands, die damals an Russland gerichtet worden sind, sind immens gewesen. Man hat erwartet, dass Russland sich wie Estland entwickelt. Doch eine wirkliche Wende hat es in Russland nicht gegeben, so der Autor. Viele Strukturen sind erhalten geblieben. Das Land hat zwar mit dem Westen eine strategische Partnerschaft angestrebt, aber nicht den Wunsch verspürt, der NATO beizutreten. In Deutschland ist das Bild von Russland darüber hinaus völlig romantisiert worden. Und gleichzeitig haben viele Deutsche gedacht, dass es in Russland überaus gefährlich ist (als Beleg führt der Autor Dokumentationen an, die damals im Fernsehen gezeigt wurden). In den 2000er Jahren ist auch aus diesem Grund in Russland ein Gegengewicht entstanden. Man hat die Deutungshoheit über die Informationen zum Land behalten und ein anderes Bild ins Ausland vermitteln wollen. Der Kreml hat die Medien auch deswegen staatlich kontrollieren wollen, weil man einen angeblich ausländisch geführten Informationskrieg entgegentreten wollte. Russlands Image im Ausland sollte auf diese Weise verbessert werden und gleichzeitig wollte man die eigene Bevölkerung gegen Einflüsse von außen immunisieren. Dabei sind auch die deutschen Medien ins Visier des Kremls geraten. So warf man ihnen vor, ein zu negatives Bild von Russland zu zeichnen. Doch letztlich haben sich mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine alle Hoffnungen, die das Ausland in Russland gesetzt hat, zerschlagen. Es hat eine neue Zeitrechnung begonnen, so Esipov. Und Russland hat mit Butscha sein wahres Gesicht gezeigt.

 

Kapitel 8 – Die Armee

Vladimir Esipov beschreibt einleitend seine Erfahrungen mit dem Militärunterricht zu Sowjetzeiten. Dieser ist 1990 abgeschafft worden. Doch seit dem September 2023 hat das Thema der militärischen Ausbildung wieder in den Schulen Einzug gehalten. Auf diese Weise will man den Grad an Militarisierung im Alltag deutlich erhöhen. Der Staat wendet viel Geld auf, um in die patriotische Erziehung seiner Jugend zu investieren. Darüber hinaus sind inzwischen im ganzen Land sog. militärpatriotische Parks entstanden, die die Bevölkerung in Form von Freilichtausstellungen über die Militärgeschichte des Landes informieren. Das Militär ist zu einem Kernelement der nationalen Identität geworden, so der Autor. Für das Nationalbewusstsein spielen militärische Siege eine große Rolle. Putin hat v.a. in Alexander III ein großes Vorbild gefunden. Es gilt wieder das Prinzip der Abschottung nach außen und der Repression nach innen. Erfolgreiche kriegerische Auseinandersetzungen werden glorifiziert. In diesem Zusammenhang verweist der Autor auch auf das einschneidende Erlebnis des Untergangs der Kursk, bei der die Führung des Landes völlig versagt hat. Die russische Flotte hat sich damals vor den Augen der Öffentlichkeit blamiert. Der eigene Nationalstolz hat sehr darunter gelitten. Man ist nicht in der Lage gewesen, die Seeleute zu retten, und hat auch keine Hilfe aus dem Ausland annehmen wollen. Die damals noch freien Medien haben sehr kritisch über den Vorfall berichtet. Nach Einschätzung des Autors hat das Militär durch dieses Ereignis an Bedeutung gewonnen und Präsident Putin hat daraus gelernt, wie gefährlich ihm eine kritische Berichterstattung werden kann. Abschließend beschreibt der Autor seinen Besuch beim Moskauer Themenpark „Patriot“. V.a. dem Gedenken an den Zweiten Weltkrieg kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Auf einem Schießstand kann man sogar restaurierte Waffen aus dieser Zeit abfeuern. Der Krieg wird als Unterhaltung vermarktet. Für Familien ist er ein beliebtes Ausflugsziel. Und es wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs oberflächlich ist. Man beschränkt sich v.a. auf glamouröse Aspekte. Die dunklen Seiten bleiben ausgeblendet.

 

Kapitel 9 – Der S*x (Pst!)

Hier thematisiert der Autor die intolerante Haltung vieler russischen Bürgerinnen und Bürger zur LGBTQIA+ Bewegung. Durch die siebzigjährige Selbstisolation hat sich keine weltoffene Haltung entwickeln können, so Esipov. Zudem sind die Russen konservativ und prüde. Sexualität ist während der Zeit des Totalitarismus ein Tabuthema gewesen (auch in der Öffentlichkeit). Sexualkundeunterricht z.B. hat es damals an den Schulen nicht gegeben. V.a. rechtsradikale Kräfte agieren heute offen homophob. Der Staat hat zudem einige diskriminierende Gesetze verabschiedet. Der Zusammenbruch der UdSSR hat also letztlich nicht zu einer toleranteren Gesellschaft geführt. Das Gegenteil ist der Fall. Die liberale Haltung des Westens wird strikt abgelehnt. Gleichzeitig hat die sexuelle Befreiung zu Beginn der 1990er Jahre einen starken Geburtenrückgang zur Folge gehabt. Russland kämpft seit Jahren mit einem demographischen Wandel. Die Gesellschaft altert und es gibt immer weniger Nachwuchs. Aus heutiger Sicht ist es erstaunlich, dass dieses Land eine Popgruppe wie T.A.T.u. hervorbrachte, die 2003 sogar am Eurovision Song Contest teilnahm. Nach Einschätzung des Autors ist das Auftauchen dieser Popgruppe der Anfang vom Ende gewesen. Konservative Kräfte haben einige Anstrengungen unternommen, diese popkulturelle Strömung zu unterbinden. Ende 2022 hat die ablehnende Haltung dann ihren Höhepunkt erreicht. Putin hat ein Gesetz verabschiedet, dass die Erwähnung von Homosexualität in den Medien verbietet. Aus den Regalen öffentlicher Bibliotheken sind sogar einige Buchtitel verschwunden, die vermeintlich anrüchigen Inhalt thematisieren. Und an die Stelle des Sexualkundeunterrichts in den Schulen ist nun die Militärausbildung gerückt, so der Autor.

 

Kapitel 10 – Die Sehnsüchte der Mittelschicht

Mit Beginn des Angriffskriegs in der Ukraine haben über 1000 Firmen Russland verlassen (dazu zählen z.B. auch IKEA und Adidas sowie VW). Insbesondere IKEA ist ein Symbol für westlichen Lebensstandard und hat einen unglaublichen Boom erlebt. Die erste Filiale wurde im Jahr 2000 in Moskau eröffnet. Doch anders als erwartet, haben die russischen Bürgerinnen und Bürger nicht geschockt auf den Rückzug von IKEA reagiert. Die Bevölkerung hält bis heute still. Eine Revolution bleibt nach wie vor aus. Auch wenn sich der Westen vielleicht etwas anderes erhofft hat, reagieren die Russen nicht wütend. Stattdessen fügen sie sich ihrem Schicksal und meiden weiterhin die Politik als Betätigungsfeld. Krisen werden von der Bevölkerung als gegeben hingenommen, die sich sowieso nicht ändern lassen. Es gibt keine Bereitschaft zum Protest. Der Autor stellt die These in den Raum, dass die Russen mit der Öffnung des Landes überfordert gewesen sind. Vermutlich ist sie zu schnell verlaufen. An die Stelle von Modernität rückt nun Rückwärtsgewandheit. Das Verlangen nach Demokratie ist nicht größer geworden, obwohl die Kaufkraft im Laufe der Jahre zugenommen hat. Zwar haben die Sanktionen dazu geführt, dass aus den heimischen Regalen viele Produkte verschwunden sind, aber sie sind durch heimische Produkte ersetzt worden. Die Sanktionen sind letztlich wirkungslos geblieben. Es ist kein Widerstand entstanden. In den Augen des Autors sind die Russen äußerst resilient und anpassungsfähig. Und die Mittelschicht tickt anders als in anderen Ländern. Sie ist Unsicherheit gewohnt. Die Sparquoten sind gering, es wird nicht weit in die Zukunft geplant und sie erwartet nicht viel vom Staat. Auch die Korruption wird hingenommen. Ernsthafte Bemühungen, diese in den Griff zu kriegen, gibt es nicht. Zwar hat der Wunsch nach Konsum zugenommen, nicht aber das Verlangen nach Freiheit.

 

Kapitel 11 – Die Nachbarn und ihre Revolutionen

In diesem Kapitel betrachtet der Autor u.a. das Verhältnis Russlands zur Ukraine genauer. Den Anfang bildet eine Erzählung zu einem Fußballspiel von 1999, bei dem Russland im Spiel gegen die Ukraine wegen eines Eigentors nicht an der EM teilnahm. Das problematische Verhältnis zwischen beiden Ländern ist schon damals deutlich geworden, so Esipov.

Des Weiteren thematisiert der Autor die Ereignisse um die Machtübernahme in Georgien durch Saakaschwili. Georgien ist ein Vorreiter gewesen, was die Orientierung am Westen betrifft. Georgien hat sich von der Kontrolle durch Moskau befreien wollen. Doch nach der Machtübernahme hat sich die Beziehung zwischen beiden Ländern verschlechtert. Die Differenzen mündeten im 5-Tage-Krieg um Südossetien und Abchasien. Das Verhältnis beider Länder ist bis heute angespannt.

In der Ukraine ist die Präsidentschaftswahl von 2004 entscheidend gewesen. Damals haben sich die Ukrainer schon zwischen einem westlich (= Juschtschenko) und einem östlich (= Janukowitsch) orientierten Kandidaten entscheiden müssen. Janukowitsch gewann zwar die Wahl, aber man ging von einem Wahlbetrug aus und ein Protest begann. Die sog. Orangene Revolution. Es kam zu einer schweren innenpolitischen Krise, die Moskau überhaupt nicht gefiel. Das Land war tief gespalten und zerstritten. Das oberste Gericht entschied, dass die Stichwahl wiederholt werden musste und diese entschied Juschtschenko für sich. Der Kreml ist entsetzt gewesen. Russland hat sich abgelehnt gefühlt. Der zivilgesellschaftliche Protest in der Ukraine hat den Kreml so verängstigt, dass Gesetze verabschiedet worden sind, mit denen man verhindern wollte, dass in Russland so etwas wie in der Ukraine geschehen kann.

Und auch das Jahr 2013 ist ein wichtiger Einschnitt gewesen. Damals hat sich die Ukraine zwischen einer Annäherung an die EU oder an Russland entscheiden müssen. Eine Zustimmung zum Assoziierungsabkommen bedeutete eine Absage an die Zollunion mit Russland. Als das Abkommen der EU im letzten Moment abgelehnt werden sollte, kam es zu neuerlichen Protesten im Land. Die Situation eskalierte. Es kam zu Todesfällen und Janukowitsch musste fliehen. Die Ukrainer hatten damals keine Angst sich gegen die Gewaltanwendung zur Wehr zu setzen, die gegen sie eingesetzt wurden. Gleichzeitig hat Russland damals Gegenmaßnahmen ergriffen und die Krim annektiert. Der Krieg mit der Ukraine begann…

Auch die Ereignisse in Kirgisistan nimmt der Autor in den Blick. Auch dort ist es angesichts des Vorwurfs einer Wahlfälschung zu Tumulten gekommen. In Russland hat sich die Ansicht verbreitet, dass die Revolutionen von außen gesteuert werden (v.a. von den USA). Nach Esipov hat Russland folgende Lehre aus den Ereignissen in Georgien, der Ukraine und Kirgisistan gezogen: Die Schwächung der Zivilgesellschaft! Am Beispiel von Belarus erläutert der Autor aber auch, dass die Proteste nicht überall in sog. postsowjetischen Ländern zu Erfolg geführt haben. Lukaschenko hat sich mit massiver Gewaltanwendung an der Macht gehalten (unterstützt auch durch Russland). Dort ist die Opposition brutal „niedergeknüppelt“ worden.

 

Kapitel 12 – Der allgegenwärtige Tod

Der Autor beschreibt eine Verrohung des medialen Alltags. Im Fernsehen werden häufig Gewaltverbrechen gezeigt. Mord und Totschlag bestimmen das Programm, und das zu jeder Sendezeit. V.a. drei Ereignisse sind medial ausgeschlachtet worden und haben die Gesellschaft in einen lethargischen Ohnmachtszustand versetzt: 1. Der Untergang der Kursk, 2. Die Geiselnahme im Bolschoi-Theater und 3. Das Attentat auf eine Schule in Beslan. Diese nationalen Tragödien sind von der Bevölkerung hoffnungsvoll am Fernseher verfolgt worden. Die Russen haben auf einen guten Ausgang gehofft und sind dann doch enttäuscht worden.

Hinzu kommen die vielen Auftragsmorde, die v.a. in den 1990er Jahren ihren Höhepunkt erreichten. Immer wieder hat es prominente Opfer gegeben (Journalisten, Politiker, Bänker, Geschäftsleute etc.).

 

Kapitel 13 – Die unerträgliche Gemütlichkeit des Seins

Der Autor erläutert, dass die Sanktionen des Westens kaum Wirkung zeigen. Auf illegalen Umwegen finden viele Markenprodukte doch ihren Weg in die Regale. In der russischen Gesellschaft machen sich zudem Ohnmacht und Apathie breit. Das Gespräch über die Ukraine wird gemieden. Die Hoffnung, dass die Sanktionen die Bevölkerung kritischer gegenüber dem Regime werden lassen, hat sich nicht erfüllt. Die Leidensfähigkeit und das Improvisationstalent der Russen ist immens.