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Donnerstag, 1. August 2024

Raabe, Marc - Der Morgen


Art Mayer – eigensinnig, stur und desillusioniert



Nach dem Besuch in einem Kiosk wird ein namenloser Junge von älteren Jugendlichen gedemütigt. Er kassiert Prügel, wird bloßgestellt. Sie entwenden ihm Geld und wollen aus ihm ein Mobbing-Opfer machen. In regelmäßigen Abständen soll er ihnen finanzielle Mittel von den Eltern beschaffen. In Form von Rückblicken wird das Schicksal dieses namenlosen Jungen immer wieder im weiteren Handlungsverlauf thematisiert. Wie geht es mit ihm weiter? Und um wen handelt es sich? Ich will hier nicht zu viel verraten. Nur so viel: Die eingebauten Rückblenden sind ein großer Gewinn für die Handlung. Themen wie „Erste Liebe“ und „Mutproben“ werden hier vertieft. Sie sind spannend geschrieben, erfüllen eine wichtige Funktion und nehmen anfangs mehr Raum ein, als ich zunächst vermutet habe. Klasse!

 

Nach diesem Einstieg folgt ein Schwenk zum Ermittler Art Mayer, der bei mir auf Anhieb Interesse weckte, weil er als Figur sehr gut konzipiert ist. Er ist ein kauziger, eigensinniger Einzelgänger, der sich durch einen starken Beschützerinstinkt auszeichnet und Schwierigkeiten mit Autoritäten hat. Stellenweise wirkt er auch einmal stur und zugeknöpft. Er wägt z.B. genau ab, wem er wann welche Informationen zukommen lässt. Von seinem Job als Polizist wirkt er desillusioniert. Er legt wenig Wert auf ein wohnliches Ambiente und ermittelt auf eigene Faust im Fall einer vermissten Nachbarin, die als Stripperin gearbeitet hat. Dafür heuert er in einem Nachtklub als Türsteher an und macht sich auf die Suche nach ihr. Wird er sie aufspüren? Ein weiteres Charakteristikum: Art ist Diabetiker, der sich selbst behandelt und seine Erkrankung immer wieder auf die leichte Schulter nimmt. Ratschläge eines Arztes nimmt er nicht an.

 

In einem weiteren Handlungsstrang findet man bei einem Verkehrsunfall zufällig auf der Ladefläche eines Transporters eine Leiche, die sich als Frau des Gesundheitsministers entpuppt. Der Fahrer hat sich direkt nach dem Unfall aus dem Staub gemacht. Auf dem Opfer ist die private Wohnungsadresse des Bundeskanzlers notiert. Ist auf ihn etwa ein Anschlag geplant? Hat der anstehende G20-Gipfel etwas damit zu tun? Ist der Bundeskanzler das nächste Ziel? Der Umstand, dass die Taten in der politischen Elite des Landes angesiedelt sind, verleiht ihnen eine besondere Brisanz. Das hebt diesen Thriller von vielen anderen, die ich kenne, ab.

 

Mit Nele Tschaikowsky wird eine noch unerfahrene Beamtin an den Tatort gerufen, die erst jüngst das positive Ergebnis ihres Schwangerschaftstests erfahren hat. Sie ist Kommissaranwärterin und es handelt sich um ihr erstes Mordopfer. Später wird ihr Art Mayer als Kollege zur Seite gestellt. Beide ergeben ein ungleiches Team. Sie sind sich nicht grün. Art tritt Nele gegenüber zu Beginn äußerst schroff, barsch und herablassend auf. Er lässt sie immer wieder auflaufen. Allerdings lässt sich Nele von ihm nicht einschüchtern und behauptet sich. Nur so viel sei hier verraten: Mit der Zeit nähern sich beide einander an. Und das Zusammenspiel der beiden Ermittler ist gelungen konzipiert. Hat mir gut gefallen! Grundsätzlich hat mir auch die Schilderung des brüsken Umgangstons zwischen den verschiedenen Beamten zugesagt. Es blitzen immer mal wieder Reibereien und Rivalitäten auf. Man geigt sich gegenseitig auch einmal die Meinung.

 

Am Beispiel einer Volontärin, die sensationsgierig Fotos vom Opfer geschossen hat, wird auch die Rolle der Presse kritisch beleuchtet, die aufgrund der Brisanz des Falls mit einer Informationssperre belegt wird. Wird sie sich daran halten? Und die Polizeiarbeit wird durch weitere Einflüsse von außen erschwert. Anonyme Leaks im Internet geben Täterwissen und unter Verschluss gehaltene erste Ermittlungsergebnisse preis. Wer steckt dahinter? Auch das ist interessant konzipiert worden.

 

Insgesamt handelt es sich um einen souverän erzählten Thriller, der viel Positives aufweist (z.B. eine gelungene Charakterzeichnung, v.a. von Art Mayer). Für mich gibt es jedoch einige Aspekte, die zu einem perfekten Leseerlebnis gefehlt haben. So hätte ich mir ein höheres Erzähltempo gewünscht. Stellenweise empfand ich die Schilderungen als etwas zu langatmig. Ich hätte mir punktuell mehr Stringenz gewünscht, weniger Weitschweifigkeit. Und was mir auch nicht zugesagt hat, ist, dass ein Handlungsstrang, der zu Beginn des Thrillers angelegt wurde, offen gelassen wird. Auf diese Weise soll das Interesse der Leserinnen und Leser geweckt werden, auch den nächsten Band zu lesen. Mich schreckt so etwas eher ab. Schade!

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