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Donnerstag, 1. August 2024

Calden, Saskia - Die falsche Patientin


Psychisch krank oder doch gesund?



Judith Lennard wacht in einer psychiatrischen Klinik auf einer geschlossenen Station in einem Bett fixiert auf und weiß nicht, was los ist. Man hält sie für eine gewisse Frau Jansen. Sie streitet dies ab, doch man nimmt sie nicht ernst. Eine Horrorvorstellung! Und von der ersten Seite an stellt man sich natürlich als Leser sofort die Frage, wie es um den Geisteszustand der Erzählerin bestellt ist. Wird sie irrtümlich festgehalten oder leidet sie unter einen zweifelhaften Selbsteinschätzung? Hat sie sich ihr ganzes Leben, an das sie sich erinnert, etwa nur eingebildet? Die Auflösung dieser Frage treibt die Handlung zu Beginn gut voran. Und die Ohnmacht und Machtlosigkeit von Judith erzeugt beim Lesen eine hohe emotionale Beteiligung.

 

Was man auf den ersten Seiten auch sofort gut spürt, ist die Verzweiflung der Patientin. Sie fühlt sich ausgeliefert und befürchtet, für längere Zeit in der Klinik festzusitzen. Der behandelnde Psychiater, die Pfleger und die Schwestern um sie herum glauben ihr nicht und attestieren ihr eine dissoziative Persönlichkeitsstörung. Unter Zwang werden Judith Medikamente verabreicht. Besonders perfide an der Situation ist, dass Judith meint, eine Tochter zu haben, die nun unbeaufsichtigt zu Hause sitzt. Sie steht große Ängste aus. Und noch etwas kommt erschwerend hinzu: Die Einrichtung wirkt trist, trostlos und abstoßend. Wenig einladend. Die psychiatrische Klinik macht eher den Eindruck eines Gefängnisses. Judith ist der Gewalt und Willkür ihrer Behandler und Pfleger wehrlos ausgeliefert.

 

In einem parallelen Handlungsstrang wird durch die Beamtin Evelyn Holm ein Tatort untersucht. Eine Leiche wird gefunden. Es folgen die klassischen Vernehmungen von Angehörigen des Opfers. Auch bei der Obduktion sind wir dabei. Nach meinem Eindruck zeichnet sich dieser Strang leider nicht durch eine besondere Finesse oder kreative Ideen aus. Er hat mich insgesamt am wenigsten gepackt. Teilweise werden redundante Dinge geschildert (Wo ist nur der Locher geblieben?). Die Polizeiarbeit läuft gewöhnlich ab und verläuft eher schleppend, ohne größere Überraschungen. Die Geschehnisse in der Klinik habe ich mit deutlich größerem Interesse verfolgt.

 

Was mir gut gefallen hat, ist der Umstand, dass die Autorin eine starke Wendung in ihren Thriller einbaut, der die Handlung plötzlich in einem anderen Licht erscheinen lässt und die Ereignisse in eine neue Richtung lenkt. Das ist toll arrangiert und raffiniert! Was ich mir noch gewünscht hätte, wäre eine etwas kunstvollere, schönere Sprachgestaltung. Die Sprache wirkt doch insgesamt recht schlicht und einfach. Und noch etwas: Der Antagonist trat mir insgesamt zu wenig in Erscheinung. Schade!

 

Auch darf man nicht zu viel Wert auf eine wirklichkeitsnahe Darstellung von Psychiatrie legen. Die geschilderten Verhältnisse erinnern mehr an russische Haftbedingungen. Aus dramaturgischen Gründen wurde wohl einiges übertrieben geschildert. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass eine Patientin so rechtlos wie Judith behandelt wird (z.B. die vom Psychiater angeordnete Isolationshaft, bei der Judith unbekleidet ist). Auf der anderen Seite gibt mir allerdings der Fall von Gustl Mollath zu denken. Vielleicht hat die Autorin sich von dieser Geschicht inspirieren lassen?! Im Nachwort findet man dazu allerdings nichts Konkretes. Wer daran denkt, sich Hilfe in einer psychiatrischen Klinik zu holen, der sollte besser nicht dieses Buch lesen…

 

Fazit: Dieser Thriller ist etwas für Leser, die sich für die rechtlose Situation von Patienten in einer Psychiatrie interessieren (auch wenn das dargestellte Bild sicherlich nicht ganz realistisch ist) und mit einer Protagonistin mitfühlen wollen, die sich hilflos und ausgeliefert fühlt. Die Leser erwartet bei der Lektüre eine raffinierte Wendung. Sie sollten aber damit umgehen können, dass die Polizeiarbeit wenig kreativ daherkommt, die sprachliche Gestaltung wenig kunstvoll erscheint und insbesondere der Antagonist blass bleibt. Auch die übrigen Figuren sind eher statisch angelegt. Wer also Wert auf eine ausgefeilte Figurenentwicklung legt und differenzierte Beziehungsverhältnisse zwischen den Charakteren schätzt, der sollte eher Abstand von diesem Thriller nehmen.

 

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