Psychisch krank oder doch gesund?
Was
man auf den ersten Seiten auch sofort gut spürt, ist die Verzweiflung der
Patientin. Sie fühlt sich ausgeliefert und befürchtet, für längere Zeit in der
Klinik festzusitzen. Der behandelnde Psychiater, die Pfleger und die Schwestern
um sie herum glauben ihr nicht und attestieren ihr eine dissoziative
Persönlichkeitsstörung. Unter Zwang werden Judith Medikamente verabreicht. Besonders
perfide an der Situation ist, dass Judith meint, eine Tochter zu haben, die nun
unbeaufsichtigt zu Hause sitzt. Sie steht große Ängste aus. Und noch etwas
kommt erschwerend hinzu: Die Einrichtung wirkt trist, trostlos und abstoßend.
Wenig einladend. Die psychiatrische Klinik macht eher den Eindruck eines
Gefängnisses. Judith ist der Gewalt und Willkür ihrer Behandler und Pfleger wehrlos
ausgeliefert.
In
einem parallelen Handlungsstrang wird durch die Beamtin Evelyn Holm ein Tatort
untersucht. Eine Leiche wird gefunden. Es folgen die klassischen Vernehmungen
von Angehörigen des Opfers. Auch bei der Obduktion sind wir dabei. Nach meinem
Eindruck zeichnet sich dieser Strang leider nicht durch eine besondere Finesse
oder kreative Ideen aus. Er hat mich insgesamt am wenigsten gepackt. Teilweise
werden redundante Dinge geschildert (Wo ist nur der Locher geblieben?). Die Polizeiarbeit
läuft gewöhnlich ab und verläuft eher schleppend, ohne größere Überraschungen.
Die Geschehnisse in der Klinik habe ich mit deutlich größerem Interesse
verfolgt.
Was
mir gut gefallen hat, ist der Umstand, dass die Autorin eine starke Wendung in
ihren Thriller einbaut, der die Handlung plötzlich in einem anderen Licht
erscheinen lässt und die Ereignisse in eine neue Richtung lenkt. Das ist toll
arrangiert und raffiniert! Was ich mir noch gewünscht hätte, wäre eine etwas
kunstvollere, schönere Sprachgestaltung. Die Sprache wirkt doch insgesamt recht
schlicht und einfach. Und noch etwas: Der Antagonist trat mir insgesamt zu
wenig in Erscheinung. Schade!
Auch
darf man nicht zu viel Wert auf eine wirklichkeitsnahe Darstellung von
Psychiatrie legen. Die geschilderten Verhältnisse erinnern mehr an russische
Haftbedingungen. Aus dramaturgischen Gründen wurde wohl einiges übertrieben
geschildert. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass eine Patientin so
rechtlos wie Judith behandelt wird (z.B. die vom Psychiater angeordnete
Isolationshaft, bei der Judith unbekleidet ist). Auf der anderen Seite gibt mir
allerdings der Fall von Gustl Mollath zu denken. Vielleicht hat die Autorin
sich von dieser Geschicht inspirieren lassen?! Im Nachwort findet man dazu
allerdings nichts Konkretes. Wer daran denkt, sich Hilfe in einer
psychiatrischen Klinik zu holen, der sollte besser nicht dieses Buch lesen…
Fazit:
Dieser Thriller ist etwas für Leser, die sich für die rechtlose Situation von
Patienten in einer Psychiatrie interessieren (auch wenn das dargestellte Bild
sicherlich nicht ganz realistisch ist) und mit einer Protagonistin mitfühlen
wollen, die sich hilflos und ausgeliefert fühlt. Die Leser erwartet bei der
Lektüre eine raffinierte Wendung. Sie sollten aber damit umgehen können, dass
die Polizeiarbeit wenig kreativ daherkommt, die sprachliche Gestaltung wenig
kunstvoll erscheint und insbesondere der Antagonist blass bleibt. Auch die
übrigen Figuren sind eher statisch angelegt. Wer also Wert auf eine ausgefeilte
Figurenentwicklung legt und differenzierte Beziehungsverhältnisse zwischen den
Charakteren schätzt, der sollte eher Abstand von diesem Thriller nehmen.
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