Ein dunkles Kapitel der ukrainischen Geschichte
In
dem Roman „Denk ich an Kiew“ von Erin Litteken wird ein sehr dunkles Kapitel
der ukrainischen Geschichte emotional und ergreifend erzählt: Es geht um den
Holodomor, den durch Stalin forcierten Tod durch Hunger in der Ukraine Anfang
der 1930er Jahre (vgl. dazu das Nachwort der Autorin).
Und
gerade jetzt, in Zeiten des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine, ist es
ein wichtiges Buch, das deutlich macht, dass die Ukraine nicht zum ersten Mal
unter aggressiver Politik leidet. Im kollektiven Gedächtnis der Ukraine spielt
dieses Verbrechen bis heute eine Rolle. Die Ukraine hatte unter Stalins
Herrschaft entsetzlich unter Deportationen und Hungersnöten zu leiden. Und der
Widerstand gegen die Zwangskollektivierungs- und die Entkulakisierungsmaßnahmen
war in der Ukraine besonders stark (vgl. dazu Brian Moynahan (1994): Das
Jahrhundert Russlands, S. 138-139). All das kommt in dem Roman von Litteken gut
zur Geltung, wenn auch nur recht oberflächlich. Es ist gut recherchiert und
schildert in meinen Augen ein vermutlich sehr authentisches Bild der damaligen
Zustände.
Der
Roman enthält zwei Handlungsstränge: In dem einen Handlungsstrang wird das
Dorfleben um Katja Anfang der 30er Jahre geschildert, in dem anderen,
gegenwärtigen Handlungsstrang wird die Großmutter von Cassie in den Blick
genommen, die an einer beginnenden Alzheimerkrankheit leidet. An ihrem Beispiel
wird die Traumatisierung der älteren Generation gut deutlich, die die
vergangenen Ereignisse verdrängt hat. Allerdings fand ich, wie viele andere
Rezensenten, den Handlungsstrang um Katja deutlich interessanter und
ereignisreicher. Den Strang um Cassie empfand ich doch als sehr langatmig und
mit wenig „Zugkraft“ gestaltet.
Insgesamt
wird die geschichtliche Situation treffend dargestellt, aber die Emotionen kommen
mir oft zu kurz. Viele traurige Ereignisse werden mir zu knapp und zu nüchtern
abgehandelt, ohne dass sie bei mir intensive Betroffenheit ausgelöst haben. Es
mag sein, dass es da anderen Leser:innen anders ergeht, vielleicht lag es an
mir. Aber ich empfand die Darstellung oft als zu sachlich. Allerdings war das
nicht durchgängig so, es gab auch durchaus einige Stellen, die berührt haben.
Z.B. die Passage, wo deutlich wird, wie schon Kinder und Jugendliche politisch
indoktriniert werden. Und der tägliche Überlebenskampf wird ebenfalls an
einigen Stellen schon eindringlich geschildert, aber eben nur punktuell.
Besonders eindringlich und erschütternd waren für mich immer solche
Textpassagen, die die repressiven gesellschaftlichen Zustände deutlich machten.
Fazit:
Ein gut recherchierter Roman, bei dem die gesellschaftlichen Zustände in der
Ukraine Anfang der 30er Jahre recht gut deutlich werden. Ein wichtiges Buch mit
Aktualitätsbezug. Allerdings hat der Roman auch seine Längen. V.a. der
Erzählstrang um Cassie ist langatmig und ereignisarm geraten. Oft empfand ich
die Erzählweise als zu sachlich und zu nüchtern. Grundsätzlich hätte ich mir
gewünscht, dass Litteken geschichtlich noch mehr in die Tiefe geht. Ich vergebe
3 Sterne, weil ich emotional zu wenig erreicht worden bin!
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