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Dienstag, 20. September 2022

Gerassimow, Sergej - Feuerpanorama. Ein ukrainisches Kriegstagebuch


5 von 5 Sternen


Dokumentation des ukrainischen Kriegsalltags in Charkiw

Aktuell, wichtig, erschütternd! In dem Werk „Feuerpanorama“ dokumentiert Sergej Gerassimow das Alltagsleben in Charkiw im Schatten des russischen Angriffskriegs, und zwar vom 24.02.2022 bis zum 18.04.2022. Es sind Informationen aus erster Hand, die eindringlich und klar vor Augen führen, was für ein Verbrechen aktuell in der Ukraine von russischer Seite begangen wird. Und anders als in den Tageszeitungen, in denen man momentan viel vom Krieg liest, geht es in diesem Buch um ein Einzelschicksal und einen lokal begrenzten Raum: um Charkiw. Man dringt durch die Lektüre dieses Werks also intensiv und tief in das kriegsgebeutelte Alltagsleben ein.

Und mich hat bei der Lektüre gewundert und beeindruckt, wie gefasst Gerassimow mit der täglichen Bedrohung umgeht, wie er im Angesicht der Katastrophe in der Lage ist, Ruhe zu bewahren. Er bleibt in Charkiw, obwohl die Front in der Nähe ist. Und er schildert im Buch eindrücklich und klar, wie eine Art „Kriegsnormalität“ entsteht: Lebensmittel, Wasservorräte und Medikamente müssen besorgt werden. Man trotzt der Kälte. Überall bilden sich Schlangen vor den Geschäften. Und ständig lebt man in der Angst vor Raketenangriffen und Artilleriefeuer. Charkiw wird Schritt für Schritt weiter zerstört. Das ist für uns hier unvorstellbar!

Das Buch ist darüber hinaus sehr emotional geschrieben. Offenherzig und schonungslos berichtet Gerassimow von seinen Hassgefühlen auf russische Soldaten und auf die russische Kriegsindustrie. Gleichzeitig bemüht er sich darum, die Geschehnisse zu verstehen und wünscht sich, dass die Russen endlich aufwachen und sich nicht weiter von der Propaganda beeinflussen lassen, sondern zivilen Widerstand üben. Man spürt seine tiefe Abneigung gegenüber der russischen Kriegsrhetorik und den „putinophilen Russen“. Und ich habe mich bei der Lektüre als Außenstehender schon gefragt, wie sollen diese beiden Länder sich jemals wieder einander annähern? Ist der Riss, der durch diesen Krieg entstanden ist, jemals wieder überbrückbar? Denn eines ist klar: Irgendwann wird dieser Krieg enden. Auch habe ich mir die Frage gestellt, wie repräsentativ die Meinung des Autors ist. Denkt nur er so?

Natürlich schwingt in diesem Buch auch Pathos mit, die Widerstandskraft der Ukrainer und ihre Liebe zur Freiheit wird immer wieder beschworen und man muss sich klar darüber sein, dass hier kein objektives Bild des Krieges vermittelt wird. Nicht alle Informationen aus ukrainischen Quellen, die teilweise im Buch angeführt werden, sind überprüfbar. Auch werden v.a. die Wut und der Hass des Autors auf Putin an vielen Stellen deutlich. Gleichzeitig äußert sich der Autor aber auch selbstkritisch und beleuchtet z.B. das Thema des radikalen ukrainischen Nationalismus.

Doch ich muss gestehen, ich habe schon auch Verständnis für die Emotionen von Gerassimow. Sind solche Gefühle nicht nachvollziehbar in einer Situation, in der man unverschuldet in einen Krieg hineingezogen wird und täglich Leid und Tod sieht? Und es ist klar, dass die Kriegsberichterstattung niemals objektiv ausfallen kann, getreu dem Motto „das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit“. Das muss man bei der Lektüre einfach im Hinterkopf haben. In meinen Augen geht es in diesem Buch auch nicht um die Wahrheitsfindung, was die Kriegsberichterstattung angeht. Das kann nicht das Anliegen sein. Nein, es ist ein Zeugnis davon, was der russische Krieg in der Bevölkerung anrichtet, was für ein Leid er verursacht. Und das am Beispiel der Stadt Charkiw, die stellvertretend für weitere Städte stehen kann, die angegriffen wurden und werden.  


Fazit

Wer tief in das aktuelle kriegsgebeutelte ukrainische Alltagsleben eintauchen möchte und lesen will, wie sich eine Art „Bedrohungs-Normalität“ im Schatten des Krieges ausbildet, der sollte dieses Buch lesen. Es ist zugleich ein wichtiges Zeugnis davon, was für ein Leid der russische Angriffskrieg verursacht. Und es gewährt Einblick in die aufgewühlte Gefühlswelt des Autors. Im Zentrum steht mit Sergej Gerassimow ein Einzelschicksal aus Charkiw, das vermutlich repräsentativ für viele weitere Ukrainer und Ukrainerinnen stehen kann. In meinen Augen ein wichtiges Dokument, das man lesen sollte, um zu verstehen, was gerade Grauenvolles in der Ukraine vor sich geht. 5 Sterne!


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