Dokumentation
des ukrainischen Kriegsalltags in Charkiw
Aktuell,
wichtig, erschütternd! In dem Werk „Feuerpanorama“ dokumentiert Sergej
Gerassimow das Alltagsleben in Charkiw im Schatten des russischen
Angriffskriegs, und zwar vom 24.02.2022 bis zum 18.04.2022. Es sind
Informationen aus erster Hand, die eindringlich und klar vor Augen führen, was
für ein Verbrechen aktuell in der Ukraine von russischer Seite begangen wird. Und
anders als in den Tageszeitungen, in denen man momentan viel vom Krieg liest,
geht es in diesem Buch um ein Einzelschicksal und einen lokal begrenzten Raum:
um Charkiw. Man dringt durch die Lektüre dieses Werks also intensiv und tief in
das kriegsgebeutelte Alltagsleben ein.
Und
mich hat bei der Lektüre gewundert und beeindruckt, wie gefasst Gerassimow mit
der täglichen Bedrohung umgeht, wie er im Angesicht der Katastrophe in der Lage
ist, Ruhe zu bewahren. Er bleibt in Charkiw, obwohl die Front in der Nähe ist.
Und er schildert im Buch eindrücklich und klar, wie eine Art „Kriegsnormalität“
entsteht: Lebensmittel, Wasservorräte und Medikamente müssen besorgt werden. Man
trotzt der Kälte. Überall bilden sich Schlangen vor den Geschäften. Und ständig
lebt man in der Angst vor Raketenangriffen und Artilleriefeuer. Charkiw wird
Schritt für Schritt weiter zerstört. Das ist für uns hier unvorstellbar!
Das
Buch ist darüber hinaus sehr emotional geschrieben. Offenherzig und
schonungslos berichtet Gerassimow von seinen Hassgefühlen auf russische
Soldaten und auf die russische Kriegsindustrie. Gleichzeitig bemüht er sich
darum, die Geschehnisse zu verstehen und wünscht sich, dass die Russen endlich
aufwachen und sich nicht weiter von der Propaganda beeinflussen lassen, sondern
zivilen Widerstand üben. Man spürt seine tiefe Abneigung gegenüber der
russischen Kriegsrhetorik und den „putinophilen Russen“. Und ich habe mich bei
der Lektüre als Außenstehender schon gefragt, wie sollen diese beiden Länder
sich jemals wieder einander annähern? Ist der Riss, der durch diesen Krieg
entstanden ist, jemals wieder überbrückbar? Denn eines ist klar: Irgendwann
wird dieser Krieg enden. Auch habe ich mir die Frage gestellt, wie repräsentativ
die Meinung des Autors ist. Denkt nur er so?
Natürlich
schwingt in diesem Buch auch Pathos mit, die Widerstandskraft der Ukrainer und
ihre Liebe zur Freiheit wird immer wieder beschworen und man muss sich klar
darüber sein, dass hier kein objektives Bild des Krieges vermittelt wird. Nicht
alle Informationen aus ukrainischen Quellen, die teilweise im Buch angeführt
werden, sind überprüfbar. Auch werden v.a. die Wut und der Hass des Autors auf
Putin an vielen Stellen deutlich. Gleichzeitig äußert sich der Autor aber auch
selbstkritisch und beleuchtet z.B. das Thema des radikalen ukrainischen
Nationalismus.
Doch
ich muss gestehen, ich habe schon auch Verständnis für die Emotionen von
Gerassimow. Sind solche Gefühle nicht nachvollziehbar in einer Situation, in
der man unverschuldet in einen Krieg hineingezogen wird und täglich Leid und
Tod sieht? Und es ist klar, dass die Kriegsberichterstattung niemals objektiv
ausfallen kann, getreu dem Motto „das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit“.
Das muss man bei der Lektüre einfach im Hinterkopf haben. In meinen Augen geht
es in diesem Buch auch nicht um die Wahrheitsfindung, was die
Kriegsberichterstattung angeht. Das kann nicht das Anliegen sein. Nein, es ist
ein Zeugnis davon, was der russische Krieg in der Bevölkerung anrichtet, was
für ein Leid er verursacht. Und das am Beispiel der Stadt Charkiw, die
stellvertretend für weitere Städte stehen kann, die angegriffen wurden und
werden.
Fazit:
Wer tief in das aktuelle kriegsgebeutelte ukrainische Alltagsleben eintauchen
möchte und lesen will, wie sich eine Art „Bedrohungs-Normalität“ im Schatten
des Krieges ausbildet, der sollte dieses Buch lesen. Es ist zugleich ein
wichtiges Zeugnis davon, was für ein Leid der russische Angriffskrieg
verursacht. Und es gewährt Einblick in die aufgewühlte Gefühlswelt des Autors.
Im Zentrum steht mit Sergej Gerassimow ein Einzelschicksal aus Charkiw, das
vermutlich repräsentativ für viele weitere Ukrainer und Ukrainerinnen stehen
kann. In meinen Augen ein wichtiges Dokument, das man lesen sollte, um zu
verstehen, was gerade Grauenvolles in der Ukraine vor sich geht. 5 Sterne!
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