Dieses Blog durchsuchen

Montag, 22. September 2025

Usami, Rin - Idol in Flammen



Einblick in die labile Psyche eines Fan-Girls



Lust auf einen Einblick in die instabile, labile Psyche eines Fan-Girls in Japan? Lust auf das Eintauchen in ein Phänomen der japanischen Pop-Kultur? Dann empfehle ich den Roman „Idol in Flammen“ von Rin Usami. Ein Buch, das in Japan zu einem großen Bestseller avancierte. Die Autorin selbst ist noch erstaunlich jung, 1999 geboren. Sie lebt heute in Tokio und hat bereits zwei wichtige Literaturpreise gewonnen.


In dem Buch wird eine zentrale Frage in den Blick genommen: Wie positioniert sich die Fanszene zu einer Musikgruppe, wenn der Sänger mit einem schweren Vorwurf konfrontiert wird?


Die Hauptfigur Akari ist so besessen von ihrem Idol Masaki, dass sie alles, was er sagt, transkribiert und in Ordnern abheftet. CDs, DVDs und Fotobände kauft sie gleich in dreifacher Ausführung. Und Fernsehprogramme über ihn zeichnet sie auf. Auf einem Blog veröffentlicht sie Betrachtungen zu ihm. Seine Handlungen und Aussagen werden bis ins kleinste Detail analysiert. Akari unterscheidet verschiedene Arten von Fans: „Es gibt so viele Arten, Fan zu sein, wie es Menschen gibt. Manche Fans bejahen religiös alles, was ihr Idol tut, andere meinen, ein echter Fan müsse auch Grenzen ziehen. Es gibt Fans, die in ihr Idol verliebt sind, aber kein Interesse an seiner Arbeit als Künstler haben, und Fans, die sich zwar keine Beziehung wünschen, aber trotzdem aktiv auf alle Posts reagieren. Dann gibt es die, die sich nur für die Musik interessieren und denen Skandale egal sind, und die, die aufs Geldausgeben für das eigene Idol fixiert sind, wobei anderen der Austausch in der Fangemeinde am wichtigsten ist.“ Was für eine differenzierte Darstellung!


Und auch die Gedanken von Masaki sind interessant. Was treibt ihn an, Musik zu machen? (vgl. S. 22: „Vielleicht hoffe ich, dass mich irgendwer da draußen, auch wenn es nur eine einzige Person ist, durchschaut und versteht. Sonst würde ich mir das alles nicht geben, dieses Leben in der Öffentlichkeit, meine ich“). Akari entwirft ein idealtypisches Bild von ihm, es entsteht eine Projektion ihrer eigenen Wünsche und Fantasien. Sie glaubt ihn zu durchschauen und zu verstehen. Sie ist mit ihren Gedanken so sehr bei ihrem Idol, dass sie die schulischen Pflichten vernachlässigt. Trotz des Skandals bleibt sie Masaki treu und hält zu ihm. Die Musik von Masaki erlebt Akari sehr intensiv: „Es fühlt sich an, als würde ich Masakis Gesang mit den Ohren aufnehmen und aus meinem eigenen Mund entweichen lassen. Seine Stimme und seine Augen legen sich über meine Stimme und meine Augen“ (S. 34).


Auch erhalten wir einen Einblick in den Blog von Akari und in das Treiben rund um den Blog herum (z.B. Kommentare und Austausch mit anderen Fans). Das Ausleben des Fan-Daseins ist für Akari das wichtigste („Aber eins weiß ich absolut sicher: Masakis Fan zu sein ist das Zentrum meines Lebens, die eine Konstante. Mein Idol ist meine Körpermitte, meine Wirbelsäule“). Was für ein Eingeständnis! Scheinbar versucht die Protagonistin ihre eigene innere Leere zu füllen. Man merkt, dass es um die Psyche von Akari nicht gut bestellt ist. Sie hat Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, scheint eine Essstörung zu entwickeln. Leistungsabfall in der Schule macht sich bemerkbar. Eine Abwärtsspirale beginnt. Akari entwickelt ein zunehmend stärker werdendes negatives Selbstbild. Sie wird so sehr von Masaki und den Skandal um ihn vereinnahmt, dass sie von ihrer Umwelt nicht viel mitbekommt.


Weitere Symptome, die sich bei der Protagonistin zeigen: Antriebslosigkeit und Traurigkeit. Sie leidet ganz offensichtlich unter eine Depression. Und ihr familiäres Umfeld reagiert wenig sensibel und empathisch, setzt sie sogar noch unter Druck, eine Arbeit zu finden. Doch trotz dieses überaus labilen psychischen Zustands steigert sie sich immer weiter in die Begeisterung um Masaki hinein („Ich bin nicht ich, wenn ich nicht Masakis Fan bin. Ein Leben ohne ihn ist nur noch ein Warten auf den Tod“, S. 112). Und außer den bewegenden Einblick in die fragile Psyche, die nach meinem Empfinden sehr treffend und feinfühlig gestaltet wurde, lernt man beiläufig auch noch etwas über die japanische Musikszene und Pop-Kultur. Wer sich dafür interessiert, der sollte im Internet vor allem die Begriffe „Idol-Kultur“, „Idol“ und „Japan“ genauer recherchieren.


Bleibt abschließend noch eine Bemerkung zur Rezeption dieses Werks. „Idol in Flammen“ erhielt im Feuilleton damals keine große Beachtung, wenn ich der Zusammenfassung auf perlentaucher.de Glauben schenken darf. Die psychologische Bedeutung des Werks wurde ebenfalls nicht angemessen gewürdigt, wenn man sich die Zusammenschau durchliest. U.a. stieß ich auf die Rezension von Miriam Zeh (Deutschlandfunk Kultur, Stand: 20.09.2025), der ich aber in zwei zentralen Punkten nicht zustimmen kann. So ist für mich z.B. unklar, warum die Rezensentin dem Buch einen didaktischen Impetus zuschreibt. Für mich war kein erhobener Zeigefinger erkennbar, auch empfand ich den Inhalt des Buchs nicht als belehrend. Und macht das Ende des Romans nicht deutlich, dass die Obsessivität von Akari gar nicht so unerschütterlich zu sein scheint? Und noch eine letzte Bemerkung: Ist Akari nicht schon allein aufgrund ihrer Erkrankung eine rätselhafte Figur? So stellt sich doch z.B. die Frage, ob die Depression evtl. Ursache oder Folge des betriebenen Fankults ist. Oder ist die Erkrankung weder Ursache noch Folge für das obsessive Fan-Dasein? Ist das Fan-Dasein vielleicht mehr eine Begleiterscheinung der Erkrankung? Ist es vielleicht der einzige kleine Bereich im Leben, der Akari noch Freude bereitet? Wie schafft es Akari, einseitig so viel Energie für ihre Leidenschaft aufzubringen und andere Dinge dafür so zu vernachlässigen? Passt das zu einer depressiv erkrankten Person? Ich bin kein Psychologe und kann das nicht beantworten, aber es gibt doch viele Rätsel auf. Eine These: Kann Akari womöglich ihre Freiheit, Kreativität und Erfolgserlebnisse nur im Fankult ausleben? Sicher ist für mich nur, dass man zahlreiche Belege im Text findet, die darauf hindeuten, dass Akari unter einer Depression leidet. Und diese Diagnose ist implizit im Text zu finden, man muss sie herauslesen. Ist das nicht rätselhaft genug in Bezug auf diese Figur?


Ich hoffe sehr, dass ich mit meiner Rezension deutlich machen konnte, dass es sich nicht um ein oberflächliches Werk handelt, wie es in Rezensionen (z.B. auf vorablesen.de) behauptet wird. Das ist in meinen Augen definitiv nicht der Fall! Im Gegenteil: In diesem schmalen Büchlein steckt einfach unglaublich viel. 5 Sterne von mir! Das Werk ist nicht nur in interkultureller Hinsicht interessant, sondern auch in psychologischer.

Freitag, 19. September 2025

Verne, Jules - Die Jagd nach dem Meteor

 


Rivalität und Gier





Mr. Dean Forsyth, 45 Jahre alt und Hobbyastronom, beschäftigt sich den größten Teil des Tages damit, den Himmel nach Planeten und Sternen abzusuchen. Er träumt davon, ein Objekt zu entdecken, das einmal nach ihm benannt wird. Er verfügt über ein kleines, aber feines Observatorium, ausgestattet mit Teleskopen und Fernrohren. Eines Tages glaubt er, einen Asteroiden gefunden zu haben.

Doch mit Doktor Sydney Hudelson hat Forsyth einen Rivalen. Ebenso wie dieser widmet er sich ebenfalls der Erforschung des Kosmos. Und auch er glaubt, einen Asteroiden beobachtet zu haben. Fortan entwickelt sich ein Wettstreit der beiden Hobbyforscher um die Frage, wer das Objekt als erstes bemerkt hat. Es läuft auf einen Konflikt beider Männer hinaus, der letztlich sogar vor Gericht landet…

Besondere Brisanz erhält die Entdeckung zusätzlich dadurch, dass die Pariser Sternwarte herausfindet, dass der Asteroid aus purem Gold besteht. Fortan bemüht man sich darum, den Wert des Himmelskörpers zu berechnen. Und natürlich kommt es, wie es kommen muss. Hudelson und Forsyth beanspruchen den Besitz des Meteors jeweils für sich, wenn er auf der Erde aufschlägt. Die Gier der beiden sucht ihresgleichen…

Doch beide Hobby-Astronomen haben die Rechnung ohne Zephyrin Xirdal gemacht. Auch er hat es auf den Himmelskörper abgesehen. Er plant dessen Umlaufbahn so abzulenken, dass er auf einem Grundstück einschlägt, welches er zuvor käuflich erworben hat. Dafür entwickelt er ein entsprechendes Gerät…

Der Erzählton ist satirisch-amüsant, v.a. bei den Charakterisierungen der Figuren musste ich schmunzeln. In meiner Rezension möchte ich thematisieren, inwieweit es sich bei „Die Jagd nach dem Meteor“ um einen Klassiker handelt. In gewisser Weise ist das der Fall. Jules Verne gehört zu den meistübersetzten Autoren überhaupt, er war zu seinen Lebzeiten sehr erfolgreich (auch wenn das kein Kriterium ist), schrieb insgesamt 98 Bücher (eine beeindruckende Leistung) und seine Werke werden heute immer noch gelesen (Jules Verne starb 1905). Er behandelt in diesem Buch zeitlose Themen, die in meinen Augen auch heute noch Relevanz besitzen: Rivalität von Forschenden, menschliche Gier und Kapitalismus-Kritik. Zudem hat Jules Verne die nachfolgende Science-Fiction-Literatur stark beeinflusst (noch ein Argument für einen Klassiker).

Kritiker mögen aber beanstanden, dass das Werk erst posthum veröffentlicht wurde (1908) und vom Sohn überarbeitet wurde. Das nimmt dem Buch die Authentizität. Hinzu kommt, dass es ein relativ unbekanntes Werk ist. Das spricht gegen die Einschätzung, dass es sich um einen Klassiker handelt. Und das Kriterium, das am meisten umstritten sein dürfte, ist das von hoher literarischer Qualität (wobei erst einmal genauer definiert werden müsste, was man darunter versteht und wie man sie denn ermitteln kann). In sprachlicher Hinsicht ist „Die Jagd nach dem Meteor“ nämlich nicht sonderlich anspruchsvoll oder innovativ. Es ist ein (trivialer?) leicht zugänglicher Stil, noch dazu humorvoll gestaltet. Aber ist es deswegen kein Klassiker? Es lohnt sich einmal darüber nachzudenken… Und wer mag, kann Bezüge zu den gegenwärtigen Diskussionen um den deutschen Buchpreis herstellen. Sind es nicht v.a. Bücher mit Klassikerpotential, die diesen Preis erhalten? Müssen sie nicht v.a. den Anspruch von hoher literarischer Qualität erfüllen? Aber was heißt das im Umkehrschluss? Dass ein Werk eine umso höhere literarische Qualität aufweist, desto chiffrierter, innovativer und anspruchsvoller die inhaltliche und die sprachliche Gestaltung ausfällt? Oder ist ein klar zugänglicher Stil nicht gewinnbringender für das Lesepublikum? Kann der Ausschluss eines breiteren Leserkreises sinnvoll sein, wenn es um die Vergabe eines Literaturpreises geht? Kann es das Ziel sein, dass nur ein kleiner auserlesener Kreis die hohe literarische Qualität von Büchern zu schätzen vermag? Für mich wäre das ein sehr elitärer Zugang zu Literatur…

Dienstag, 16. September 2025

Caroline Wahl - Die Assistentin




Wenn Arbeit krank macht…




Um die Stelle einer Verlagsassistentin in einem renommierten Münchener Verlagshaus zu ergattern (die auffällige Parallele zur Biographie der Autorin ist sicherlich kein Zufall), durchläuft Charlotte zu Beginn des Romans einen regelrechten Gesprächsmarathon. In den vielen Runden des Castings muss sie sich immer wieder neu beweisen. So erleben wir u.a. mit, wie sie sich gedanklich auf das erste Kennlerngespräch mit dem Verleger Ugo Maise vorbereitet – eine exzentrische Persönlichkeit, die uns zunächst als recht eigen beschrieben wird. Als Vorbereitung auf das Gespräch recherchiert Charlotte im Vorfeld einige Kuriositäten über ihn. Und das erste Aufeinandertreffen mit diesem vermeintlich charismatischen Chef über Zoom verläuft erstaunlich oberflächlich und ist reduziert auf den Austausch von Small-Talk. Die Aufgaben und Inhalte der Stelle spielen im Gespräch keine Rolle. Zwischendurch überkommen Charlotte immer auch mal wieder Selbstzweifel, ob sie nicht doch lieber Musikerin werden sollte. Sie entscheidet sich dann aber gegen ihr Bauchgefühl und für die Stelle beim Verlag.


Im weiteren Handlungsverlauf entpuppt sich der Verleger als anstrengende Person mit vielen schrulligen Sonderwünschen, die herrlich ins Lächerliche gezogen werden (eines seiner bevorzugten Gerichte: Nudelsuppe ohne Nudeln?!). Als Leser bekomme ich das Gefühl, dass es Ugo Maise nur darum geht, seinem Umfeld das Leben möglichst schwer zu gestalten. Seine Stimmungsschwankungen sind bei den Mitarbeitern berüchtigt und gefürchtet. Später erscheint er uns äußerst besitzergreifend und kindisch. Er überschreitet eindeutig Grenzen (gegenüber Charlotte kommt es z.B. zu sexistischen Äußerungen). Fehler seiner Mitarbeiter bestraft er mit Ignoranz und Distanz. Kurzum: Ein schwer zu ertragender Charakter.


Charlotte erscheint uns im neuen Arbeitsumfeld eher als Einzelgängerin, die mit Cliquen nicht richtig zurechtkommt. Kollegentreffen meidet sie. Sie hat keine richtigen Freunde und auch nicht das Gefühl, dass sie welche braucht. Die Gruppendynamiken am Arbeitsplatz sind ihr zuwider. Amüsant liest sich auch das Zusammenspiel Charlottes mit ihrer chaotischen Kollegin Ivana, die ihr das Leben noch zusätzlich unnötig schwer macht. Anders als Ivana macht Charlotte einen sehr strukturierten Eindruck und behält immer die Übersicht, auch wenn sich der Chef äußerst sprunghaft verhält. Später nimmt die Arbeit Charlotte immer mehr in Anspruch. Arbeit und Privates vermengen sich. Auf das Lob ihres Chefs legt sie viel Wert. Sie wünscht sich eine Gehaltserhöhung und mehr Verantwortung. Dafür ist sie sogar bereit, ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen…


In einer früh eingeflochtenen Vorausdeutung erfahren wir dann, dass Charlotte bald gekündigt werden wird. Dies lässt natürlich gleich die Frage aufkommen, warum und wie es dazu kommt und was Charlotte dann tut. Doch es stellt sich schnell heraus, dass die Erzählerinstanz in regelmäßigen Abständen immer mal wieder solche kommentierenden Vorausdeutungen einstreut, um die Leserschaft in eine bestimmte Richtung zu lenken und Ergebnisse von (möglichen) Handlungsentwicklungen vorwegzunehmen (vgl. S. 110 ff). Diese (teils textuelle) Metaebene mag den ein oder anderen irritieren, ich fand sie interessant oder stellenweise amüsant. Was ich aber problematisch finde, ist der Umstand, dass durch die Kommentare auf Metaebene eine Distanz zum Geschehen entsteht. Die emotionale Beteiligung an Charlottes Schicksal nimmt dadurch spürbar ab, so mein Eindruck. Deswegen habe ich auch begrüßt, dass die Kommentare nur über einen begrenzten Zeitraum vermehrt zu finden sind und gegen Ende nicht mehr so präsent sind.


Womit ich mich schwer tue, ist das Verhalten des Verlegers als spezifisch männliches Verhalten zu deuten (mit Ausnahme des sexistischen Verhaltens, das bei einer Frau vermutlich in dieser Form nicht anzutreffen ist). Ich lese grundsätzlich aber eher eine Kritik an Menschen in Machtpositionen heraus, die ihre Machtfülle für sich ausnutzen und glauben, ihre Mitarbeiter terrorisieren zu können. Nicht umsonst wird mehrfach auch die Anspielung auf „Der Teufel trägt Prada“ in die Handlung integriert. Dort ist es ja eine Frau, die sich exzentrisch aufführt. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es auch Frauen in Machtpositionen gibt, die sich ähnlich aufführen wie Ugo Maise (gegenüber Männern und gegenüber Frauen). Oder ist das völlig abwegig? Aber natürlich gebe ich zu, dass Männer häufiger Machtpositionen bekleiden, so dass v.a. das männliche Geschlecht durch solche Chefs, wie sie im Buch beschrieben werden, in einem schlechten Licht erscheint. Und noch etwas: Kann man aus diesem Einzelschicksal von Charlotte eine verallgemeinernde Kritik an der Verlagsbranche herauslesen (vgl. dazu S. 111)? In meinen Augen, nein. Das führt zu weit. Woher soll man wissen, ob und inwieweit das Beispiel von Ugo Maise repräsentativ ist? Und wenn das Buch eine Kritik an patriarchalen Strukturen sein soll, so frage ich mich auch, um welche Strukturen es genau geht. Geht es darum, dass Maise so schalten und walten kann, wie er es tut, ohne dass er von einer weiteren Instanz kontrolliert wird? Oder geht es darum, dass Maise ausschließlich Frauen als Assistentinnen einstellt und sich ihnen gegenüber so verhält, wie er es tut? Sind das die patriarchalen Strukturen, um die es geht?


Ein Thema, das in meinen Augen ebenfalls in diesem Roman verarbeitet wird, ist „Überlastung am Arbeitsplatz“. Darin liegt für mich eine weitere Stärke des Romans, darüber müsste man ebenfalls diskutieren: Was passiert, wenn man bis zur Selbstaufgabe arbeitet und durch die hohe Arbeitsbelastung krank wird? Inwieweit trägt der Chef eine Mitverantwortung für das Schicksal von Charlotte? Oder hätte sie früher die Reißleine ziehen sollen? Leider spielt die Tragödie von Charlotte erst am Ende des Romans eine Rolle. Der Schilderung ihres gesundheitlichen Kollapses sowie der Erholung wird nur wenig Raum zugestanden. Schade! Und sie hat Glück, dass sie durch einen Arbeits- und Ortswechsel wieder auf die Beine kommt…


Zur Sprachgestaltung: Worüber ich häufiger gestolpert bin, sind Satzwiederholungen, die immer mal wieder eingestreut werden. Punktuell sind diese auch in ihren Vorgängerwerken mal zum Einsatz gekommen, aber so oft wie dieses Mal dann auch wieder nicht. Hier habe ich mich gefragt, was die Funktion dieser Wiederholungen ist. Auf mich wirken sie ungelenk (sorry…). Ich wusste leider nicht richtig etwas damit anzufangen. Vielleicht komme ich zu einem späteren Zeitpunkt noch hinter das Rätsel dieser sprachlichen Auffälligkeit…


Biographisches: Darüber hinaus habe ich mich gefragt, wie viel von Caroline Wahl in diesem Buch steckt. Die biographische Parallele habe ich eingangs erwähnt. Ich finde es aber müßig, darüber zu spekulieren. Letztlich weiß nur die Autorin selbst, ob sie an der ein oder anderen Stelle selbst Erlebtes darin verarbeitet oder vielleicht auch übertreibt. Ob sie jemals darüber Auskunft geben wird, wage ich zu bezweifeln.


Abschließend noch etwas mehr Kritik: Das Buch hat zwischendurch auch Längen. Nicht alles liest sich flüssig. Ich bin nicht durchgängig an den Zeilen haften geblieben. Die in der Vorausdeutung angekündigte Dramaturgie (vgl. S. 110) setzt erst spät ein (zu spät!). Einige Vorausdeutungen raubten mir etwas die Neugier, da dem Fortgang der Handlung vorgegriffen wurde. Einiges habe ich ziemlich unbeteiligt gelesen. Die sich wiederholenden Beschreibungen des absolut unangemessenen Verhaltens von Ugo Maise drehen sich stellenweise etwas im Kreis. Sonst habe ich aber nichts auszusetzen. Ich komme auf 4 Sterne.

Montag, 15. September 2025

Schalansky, Judith - Der Hals der Giraffe


Einblick in eine dehumanisierte Psyche



Eine Lehrerin kurz vor der Pension offenbart ihr menschenverachtendes Weltbild. Sie verhält sich gegenüber ihren Schüler:innen vollkommen distanziert, ist erstarrt in Routinen, betrachtet die Welt pessimistisch und beurteilt die ihr anvertrauten Lerner:innen verächtlich und abschätzig. Sie lässt keinerlei Nähe und Beziehungsebene zu. Besonders bezeichnend: Die Vergleiche ihrer Schützlinge mit dem Tierreich. Darum geht es in dem (Anti-)Bildungsroman „Der Hals der Giraffe“ von Judith Schalansky.

 

Inge Lohmark unterrichtet am Charles-Darwin-Gymnasium die Fächer Biologie und Sport, praktiziert das „survival-of-the-fittest“-Prinzip direkt in ihrem Unterricht und tritt als Befürworterin sozialer Schließungsmechanismen auf. Ihr Unterrichtsstil zeichnet sich durch geschlossene Wissensabfragen, Frontalunterricht, Abschreiben lassen, permanenten Leistungsdruck und zynischem Humor aus. Ihre Erzrivalin: Eine jüngere Kollegin („die Schwanneke“), die Schülernähe zur Schau trägt. Und ihre unmittelbare Umwelt nimmt sie in Form biologischer Schemata wahr, d.h. sie kategorisiert und analysiert permanent. Der Blick auf die Welt ist sachlich, kalt und distanziert. Die Einschätzung des Schulsystems ist nach 30 Jahren Berufserfahrung böse und desillusioniert. Die Beziehung zu ihrer eigenen Tochter ist gestört und unterkühlt. Entfremdung wird deutlich. Und was auch durchscheint: DDR-Sozialisation.

 

Auffällig ist auch die Sprachgestaltung. Assoziative Gedankenreihung, kurze, knappe pointierte Sätze, zahlreiche Ellipsen. Die Gedankenwelt von Inge Lohmark wird so gut greifbar, doch ihr Weltbild hat mich als Leser befremdet und ratlos zurückgelassen. Kann man so sein? Wie wird man so? War sie schon immer so? Ist sie als Charakter nicht evtl. überzeichnet? Hat ihr Charakter nicht auch andere Schattierungen? Das sind Fragen, über die man nachdenken kann. Und zumindest zeigt sich im Buch auch, dass Inge überaus belesen ist. Im Lehrerzimmer begegnet man auch anderen Lehrertypen. Im Gespräch treffen verschiedene Weltanschauungen aufeinander. Nicht alle Kollegen zeigen einen solch geringschätzigen Blick auf die Schutzbefohlenen.

 

Jetzt könnte man als Leser:in mit Inge Lohmark hart ins Gericht gehen und ihr vorwurfsvoll begegnen. Doch ist das angemessen? Sie erscheint mir zutiefst dehumanisiert und unempathisch. Man könnte fast die These in den Raum stellen, dass hier das Psychogramm einer Burn-out-Patientin literarisch gestaltet worden ist. Gleichzeitig fehlt dafür aber die Erschöpfung, die Inge nicht zu erkennen gibt, denn sie agiert überaus kraftvoll und rigoros. Sie ist (noch?) durchsetzungsstark. Allerdings bin ich auch kein Psychologe, so dass es mir die Einschätzung, ob Inge unter einem Burn-Out leidet, nicht leicht fällt. Vieles deutet aber daraufhin. Ist Inges Zustand womöglich eine Abwehrreaktion? Will sie sich auf diese Weise vor weiteren belastenden Interaktionen schützen? Braucht sie Hilfe? 


Letztlich ein Roman, der zum Nachdenken anregt. Inge Lohmark ist eine unsympatische Figur, die ein menschenverachtendes Weltbild offenbart. Distanz zu den Schüler:innen ist ihr wichtig. Man tendiert als Leser:in schnell dazu, sie zu verurteilen. Doch was ich mich bei der Lektüre gefragt habe: War sie schon immer so? Und wie ist sie so geworden? Hier bleibt vieles offen. Auch das Ende lässt viel Raum zum Spekulieren. Ein Buch, über das man an vielen Stellen gut ins Gespräch kommen kann. Und der Schreibstil ist passend zum Inhalt gestaltet worden. Eine lohnenswerte Lektüre, die herausfordert. Ich gebe 5 Sterne!

Donnerstag, 11. September 2025

Strobel, Arno - Welcome Home



Gefährliche Nachbarschaft




Zu Beginn sind wir dabei, wie Marco und Ines Winkler in ihr neues Haus einziehen, eine Nachbarin kennen lernen und die erste Nacht in der neuen Umgebung verbringen.


Doch schon bald kommt es zu ersten ungewöhnlichen Ereignissen. Nachts springt aus unerfindlichen Gründen die Hauptsicherung heraus und die Winklers bilden sich ein, etwas im Haus gesehen oder gehört zu haben. Dringt etwa jemand nachts in ihr Haus ein? Oder spielt die Wahrnehmung ihnen nur einen Streich?


Eingeschoben sind in typischer „Strobel-Manier“ auch Täterkapitel, bei denen deutlich wird, dass der oder die potentielle Täter:in ein Opfer häuslicher Gewalt geworden ist. Und es dauert nicht lang, da taucht auch schon die erste Leiche auf und die Spannung nimmt zu. Denn nun wird die Bedrohung real und folgende Frage erhält Bedeutung: Wie lebt es sich in einem neuen Haus, wenn in unmittelbarer Nachbarschaft jemand ermordet wurde?


Marco und Ines sind zutiefst verstört, v.a. als sie Details zum Mord erfahren. Die ganze Nachbarschaft ist in Aufruhr und die Winklers führen viele Gespräche mit den anderen Anwohnern über das Geschehen. Ines hat große Angst und möchte das Haus am liebsten verlassen. Doch wie soll das gehen? Die Winklers müssen an Ort und Stelle bleiben, sie haben keine Ausweichmöglichkeit, egal ob es ihnen gefällt oder nicht.


Was mir dieses Mal gefällt, ist der Umstand, dass wir Familie Winkler begleiten und nah an ihnen dran sind. Man kann sich gut in ihre Lage hineinversetzen. Die Ermittlungsarbeit steht dieses Mal nicht so im Vordergrund. Und gerade das, finde ich gut. Polizisten tauchen immer nur dann auf, wenn Ines und Marco befragt werden. Zudem ist es beklemmend zu lesen, wie wenig Möglichkeiten die Beamten haben, die Bewohner der kleinen Siedlung zu schützen. Die Nachbarn sind v.a. auf sich allein gestellt und müssen Maßnahmen ergreifen. Ich will nicht zu viel verraten, nur so viel: Es bleibt nicht bei einem Mord… 


Wie man es von Strobel kennt, werden der Handlung stetig neue Impulse verliehen, so dass es nicht langatmig wird. Der Plot macht einen durchdachten und gut konstruierten Eindruck. Auch emotionalisiert der Fall (v.a. im weiteren Handlungsverlauf). Das alles ist gelungen. Allerdings habe ich auch einen zentralen Kritikpunkt (Achtung: Wer nicht gespoilert werden möchte, liest ab hier sicherheitshalber nicht weiter). Der Verdacht wird lange Zeit zu stark auf nur eine Person gelenkt. Irgendwie ist doch klar, dass diese Person als Täter dann nicht in Frage kommt. Sonst wäre der Fall zu vorhersehbar. 

Montag, 8. September 2025

McFadden, Freida - Der Lehrer

 

Gefährliche Nähe




Schon der einleitende Prolog lässt jede Menge offene Fragen im Kopf entstehen. Es wird ein Leichnam verscharrt. Doch wer erzählt dort? Man weiß nicht, um wen es sich bei der Leiche handelt und wer sie verschwinden lassen will. Höchst mysteriös…

Danach lernen wir Eve kennen, die mit Nate verheiratet ist und an der gemeinsamen Ehe nicht viel zu schätzen weiß. Obwohl sie ein Haus und einen erfüllenden Beruf sowie einen attraktiven Ehemann mit vielen positiven Charaktereigenschaften hat, wirkt sie sehr unzufrieden. Eve vermisst Nähe, Zuneigung, Zweisamkeit und auch Abwechslung. Das Beziehungsleben empfindet sie als eintönig. Es folgt immer denselben Ritualen. Zugleich wird deutlich, dass Eve viel Wert auf Äußerlichkeiten legt. Das lässt sie in meinen Augen v.a. zu Beginn recht oberflächlich und nicht gerade sympathisch wirken. Schon bald erfährt sie, dass eine neue Schülerin ihre Klasse besuchen wird: Addie.

Mit Addie (Langform: Adeline) machen wir ebenfalls auf den ersten Seiten Bekanntschaft. Sie verspürt eine deutliche Schulunlust und würde am liebsten zu Hause unterrichtet werden. Auch ein Schulwechsel käme ihr durchaus gelegen. Sie beichtet uns Leser:innen, dass irgendetwas im vergangenen Schuljahr vorgefallen ist. Doch was genau, erfahren wir nicht sofort. Es wird nach und nach enthüllt. Sie fühlt sich beobachtet und denkt, dass sich alle um sie herum an das erinnern, was in der Vergangenheit passiert ist. Später erlebt sie auch Anfeindungen durch Mitschüler. Dabei spielt vor allem eine gewisse Kenzie eine zentrale Rolle. Grundsätzlich erscheint Addie aber als eine unauffällige Schülerin, die nicht gern im Mittelpunkt steht. Sie ist eine Außenseiterin und hat nicht viele Freunde.

Eine weitere Figur, die eine wichtige Rolle spielt, ist Nate (der Ehemann von Eve). Von ihm erfahren wir immer durch Aussagen anderer etwas. Wir können uns als Leser zu Beginn also kein gutes Bild von ihm machen und müssen uns auf das verlassen, was andere über ihn mitteilen. Er arbeitet mit Eve an der gleichen Schule und ist in vielen Aspekten genau das Gegenteil von ihr. Er ist zugewandt, empathisch und schülernah. Auch verbringt er viel Zeit in der Schule und macht einen sehr engagierten, aufopferungsbereiten Eindruck. Eve vertritt da eine andere Berufsauffassung. Sie hinterlässt einen strengeren, ungeduldigeren und distanzierteren Eindruck. Während Nate bei den Schüler:innen sehr beliebt ist, kann man das von Eve nicht behaupten. Dennoch macht sie sich um Nate Sorgen, als sie erfährt, dass Addie bald seinen Englischkurs besuchen wird. Aufgrund von Addies Vorgeschichte (über die ich hier lieber nichts verraten will) hat Eve eine böse Vorahnung…

Das Schulleben wird in diesem Thriller gut eingefangen. Die Gesprächsinhalte sind situativ passend gestaltet worden. Man kann gut miträtseln (was in meinen Augen v.a. auch an dem vorangestellten Prolog liegt). Gut arrangiert ist auch, dass die Autorin es schafft, die Sympathien für die Figuren mal in die eine, mal in die andere Richtung zu lenken. In Bezug auf Addie war ich anfangs ziemlich hin- und hergerissen in meinem Urteil. Sie wirkte nicht so arglistig, wie sie durch das Urteil anderer Figuren (und auch durch den Klappentext) dargestellt wurde. Stattdessen hatte man zeitweise eher Mitleid mit ihr, weil sie aus sehr problematischen Verhältnissen stammt. Gleichzeitig habe ich mich bei der Lektüre gefragt, inwieweit man der Einschätzung einer solch unsympathischen Figur wie Eve überhaupt trauen kann. Auch zu Nate ändert sich im weiteren Handlungsverlauf die Bewertung. Das alles ist schon sehr geschickt konzipiert. Ein klarer Vorteil der Ich-Perspektive! Womit ich nicht gerechnet habe, ist, dass sich die Themen „Begierde“ und „Lust“ wie ein roter Faden durchs Werk ziehen (wer mit wem und warum oder warum nicht und wie oft denn gleich… :-). Es spielen sich diverse Beziehungsdramen ab. Da hatte ich in inhaltlicher Hinsicht eine andere Erwartungshaltung. Aber ich konnte mich darauf einlassen und es hat mich nicht gestört. Das Einzige, was ich bemängeln könnte, ist der Umstand, dass der eigentliche „Thrill“ erst spät einsetzt (er hat es dann aber in sich). Insgesamt hat mich dieses Buch aber super unterhalten und es hat mir besser gefallen als „Die Kollegin“. Die ersten beiden Bände der Reihe um das Hausmädchen Millie bleiben aber unerreicht. Trotzdem gibt es von mir 5 Sterne.

Donnerstag, 4. September 2025

Neumüller, Ralph Alexander - Das Stoffuniversum



Der Reisende




Der Ich-Erzähler Frank Kurath schläft ein und wacht am nächsten Tag in einer völlig neuen Umgebung auf, und zwar an der Seite einer ihm völlig Unbekannten. Er muss sich zunächst orientieren und alle relevanten Informationen zusammentragen, um seinen Platz in der fremden Welt möglichst unauffällig einzunehmen. Und es soll nicht seine einzige Reise bleiben...


Was es mit Kurath auf sich hat und warum er immer wieder woanders aufwacht, bleibt zunächst im Dunkeln und wird Schritt für Schritt aufgelöst. Anfangs wissen wir nur, dass die Situation für den Ich-Erzähler sehr belastend ist. Immer wieder verliert er die Bindung zu ihm nahestehenden Personen und muss sich an ein neues Leben anpassen. Er fühlt sich einsam und den Umständen hilflos ausgeliefert. Sein Leidensdruck ist groß. Als Leser fragte ich mich, wie es mit Frank Kurath weitergehen wird, ob er das Geheimnis seiner Reisen aufdecken wird und aus dem Teufelskreis ausbrechen kann. Das waren für mich genügend offene Fragen, um stets neugierig weiterzulesen. Ich will nicht zu viel verraten, aber eines Tages trifft Kurath einen Physiker, der ihm womöglich weiterhelfen kann. Und schon bald erfährt der Ich-Erzähler, dass er nicht allein mit seinem Problem ist…


Es ist immer wieder interessant, wie sich Kurath trotz völliger Ahnungslosigkeit in einer neuen Umgebung mit neuer Arbeit und neuen Arbeitskolleginnen und -kollegen behaupten kann. Zu 90% erwacht er in Wien, aber manchmal befindet er sich auch ganz woanders. Die Idee hinter den Reisen ist faszinierend. Innerhalb der verschiedenen Welten sind der Kenntnisstand, die geschichtlich-gesellschaftspolitische Entwicklung sowie der technologische Fortschritt der Gesellschaften unterschiedlich. Auch der körperliche Zustand, mit dem Kurath erwacht, ist veränderlich. Wie ist das möglich?


Da vorher nie klar ist, wie lange der Ich-Erzähler in einer Welt bleibt (Tage, Woche oder Monate), entstehen bei der Lektüre Offenheit, Ungewissheit und Dynamik. Das hat mir sehr gut gefallen. Insgesamt werden viele interessante und kreative Ideen im Roman verarbeitet. Besonders gefallen hat mir z.B., dass Kurath einen Überblick über Hunderte von Welten hat und dabei sogar gewisse Grundkonstanten entdeckt. Noch etwas: Es war mir an keiner Stelle zu abgedreht oder zu weit hergeholt. Alles fügt sich zu einem logischen und schlüssigen Gesamtbild zusammen. Ich habe das gesamte Buch durchweg gern gelesen und konnte es kaum aus der Hand legen. Ein größeres Kompliment kann ich einem Buch nicht machen. Das sind klare 5 Sterne! In meinen Augen ein würdiger DSFP-Preisträger!

Dienstag, 2. September 2025

Dambeck, Thorsten - Mars. Die Geheimnisse des roten Planeten

 

Faszination Mars




Im Vorwort wird verdeutlicht, woraus die Faszination für den Mars resultiert. Einerseits ist es die Fülle an Bildmaterial, die vom Planeten inzwischen verbreitet worden ist und zu futuristischen Träumereien einlädt, andererseits erscheint der Mars am ehesten als derjenige Himmelskörper, der der Erde am ähnlichsten ist und Leben beherbergt haben könnte. Darüber hinaus taucht immer wieder die Idee auf, schon bald einen interstellaren Flug zum Nachbarplaneten zu unternehmen. Wird es in naher Zukunft dazu kommen? Die Marsforschung floriert nach wie vor und es gibt einige Untersuchungsgegenstände, die für Faszination sorgen. So lassen sich Spuren von Wasser auf dem Mars beobachten und in geologischer Hinsicht findet man auf ihm sowohl sehr alte als auch jüngere Gesteine, die etwas über die Entwicklung des Planeten verraten. Was noch aussteht, ist, die von Rovern gesammelten Proben zur Erde zurückzuholen, um sie hier weiter zu untersuchen.



Kapitel 1 – Mythos Mars



Schon 1877 machte der Mars durch Beobachtungen des Italieners Giovanni Schiaparelli auf sich aufmerksam. Dieser erspähte etwas auf dem Nachbarplaneten, das er als „canali“ bezeichnete. Er will geometrische Formen auf dem roten Planeten ausgemacht haben. Man vermutete, dass Marsbewohner dahintersteckten. Einige Zeitgenossen bestätigten später diese Beobachtungen von Schiaparelli, andere bestritten sie. Die Kontoverse um die Kanäle dauerte bis Anfang des 20. Jh. an und wurde erst 1910 widerlegt. Und auch in der Literatur findet der Mars Erwähnung, so z.B. das Werk „auf zwei Planeten“ von Kurd Lasswitz (1897) sowie das Buch „Krieg der Welten“ von H. G. Wells.



Kapitel 2 – Der unruhige Planet



Inzwischen ist die Oberfläche des Mars aufgrund der Untersuchungen durch Rover die am besten untersuchte Planetenoberfläche des Sonnensystems. Der Planet ähnelt der Erde in seiner Tageslänge. Und auch die vereisten Kappen an Nord- und Südpol sind unserem Heimatplaneten ähnlich. Man findet zudem gewaltige Schildvulkane auf dem Mars (u.a. den Olympus Mons) sowie gewaltige Canyon-Systeme mit bis zu 10km tiefen Abgründen (z.B. das Vales Marineris). Der Planet besitzt eine Atmosphäre, die zu 96% aus CO2 besteht. Und auf ihm entwickeln sich heftige Stürme, die Staub und Sand bis in eine Höhe von 50km aufwirbeln können. Die durchschnittliche globale Temperatur des Mars beträgt -63 Grad (Zum Vergleich: Auf der Erde sind es +15 Grad). Ebenfalls gibt es auf dem roten Planeten, ähnlich wie auf der Erde, Jahreszeiten. Diese dauern etwa 6 Monate. Für eine vollständige Umrundung um die Sonne braucht der Planet 687 Tage. Ähnlich wie auf der Erde und auf dem Mond kann es auch auf dem Mars Erdbeben geben. Und es zeigt sich, dass der Mars früher einmal ein magnetisches Feld aufwies, das er verloren hat.

Eine der Fragen, die in dem Kapitel thematisiert werden, ist, wie der Olympus Mons so hoch werden konnte. Dafür sorgten v.a. die geringere Schwerkraft und das Ausbleiben von tektonischen Aktivitäten. Von seiner Flächenausdehnung ist der Berg gewaltig. Er entspricht der Landfläche Polens! Die Vulkane auf dem Mars sind schneller abgekühlt als auf der Erde. Man schätzt, dass die aktivste Phase mehrere Milliarden Jahre in der Vergangenheit liegt. Man hat bisher keine Vulkane entdecken können, die in den letzten 10.000 bis 20.000 Jahren ausgebrochen sind. Doch es gibt auch Forscher, die glauben, dass die vulkanische Aktivität noch nicht ganz zum Erliegen gekommen ist und sich zudem auf bestimmte Regionen beschränkt. Ein Nachweis dafür steht aber noch aus…

Das Valles Marineris ist das größte Talsystem im Sonnensystem. Wie konnten diese gewaltigen Strukturen entstehen? Antwort: Die Entstehung des Canyons ist eine Folge von sog. „Dehnungsspannungen“, durch die sich tektonische Brüche ausgebildet haben. Die Kruste ist einfach „aufgerissen“. Vermutlich flossen eine gewisse Zeit gewaltige Wassermassen durch das Valles Marineris.

Auch die Eisschichten an den Polarregionen werden näher in den Blick gerückt. Heute weiß man, dass die Polkappen zu 90% aus Wassereis bestehen. Sie sind deutlich kälter auf der Erde und erreichen Rekordtemperaturen von bis zu -153 Grad. Im Zuge des Wechsels der Jahreszeiten nehmen die Eismengen zu und ab. Seismologen haben auch untersucht, wie der Planet aufgebaut ist. Bei einem Asteroideneinschlag, der einen 150m großen Krater auf der Oberfläche hinterließ und 2021 stattfand, entdeckte man am Rand des Kraters Brocken aus Wassereis. Diese müssen aus der Tiefe an die Oberfläche befördert worden sein. Mit Hilfe seismologischer Untersuchungen konnte man auch etwas zur Beschaffenheit der Kruste sowie der des Planetenkerns des Nachbarplaneten herausfinden. Man geht davon aus, dass der Mars einen Eisenkern besitzt (so wie die Erde). Anders als auf der Erde ist der Mars-Kern aber komplett geschmolzen (aber was hat diese Feststellung für Konsequenzen, hier hätte ich mir noch Erklärungen gewünscht). Auch interessant: Auf dem Mars gibt es nur eine einzige Kontinentalplatte, die globale Ausmaße hat. Eine Plattentektonik wie auf der Erde ist ihm fremd.

Abschließend finden die beiden Marsmonde Erwähnung: Phobos und Deimos. Beide Monde sind sehr klein. Der Durchmesser von Phobos beträgt 26km und der von Deimos gerade einmal 16km. Zudem sind beide Monde nicht kugel-, sondern kartoffelförmig. Beide bewegen sich sehr schnell um ihr Zentralgestirn und weisen eine gebundene Rotation auf. Interessant fand ich in diesem Zusammenhang die Ausführungen darüber, wie einem Beobachter auf dem Mars die beiden Monde erscheinen mögen. Eine lange Zeit dachte man, dass es sich bei Phobos und Deimos um eingefangene Asteroiden handeln könnte. Inzwischen gibt es aber wieder Zweifel an dieser Theorie, weil sich die Umlaufbahnen von Deimos und Phobos so nur schwer erklären lassen. Alternativ könnten die Monde auch durch gewaltige Einschläge von Asteroiden auf der Planetenoberfläche entstanden sein (ähnlich wie der Erdmond). Eine einfache Antwort auf diese Frage gibt es leider nicht. Es konkurrieren verschiedene Erklärungsmodelle miteinander. Zukünftige Missionen werden hier wahrscheinlich zu neuen Erkenntnissen führen. Bisher ist noch keine Sonde auf den Monden gelandet (was sich ändern soll). Berechnungen zu Phobos ergaben, dass er aufgrund seiner sinkenden Umlaufbahn irgendwann von der Schwerkraft des Mars zerrissen wird. Vermutlich wird dies in weniger als 39 Millionen Jahren der Fall sein.



Kapitel 3 – Die Mars-Atmosphäre



In diesem Kapitel geht es v.a. auch um die Wetterphänomene auf dem Mars. Der Planet kennt Jahreszeiten. Wolken sind auf ihm zu finden. Und auch Phänomene wie Raureif und Schneefall sind ihm nicht fremd. Ebenfalls beobachtbar sind Staubstürme, die sogar globale Ausmaße annehmen und den gesamten Planeten einhüllen können. Interessant ist auch der Umstand, dass Marsforscher immer wieder davon berichtet haben, dass sie Methan gemessen hätten. Was könnte der Ursprung dieses Gases sein? Welche Prozesse sind auf dem Mars am Werk? Eine Theorie besagt, dass es als Methanhydrat im Untergrund gespeichert ist, und regelmäßig durch Temperaturschwankungen freigesetzt wird. Doch auch ein biologischer Ursprung kann bisher nicht ausgeschlossen werden, auch wenn er zum gegenwärtigen Zeitpunkt unwahrscheinlich ist. Zukünftige Forschung wird diese Frage vermutlich besser beantworten können.

Auf dem Mars konnten immer schon mächtige Staubstürme beobachtet werden. Das gestaltet zukünftige Missionen besonders schwierig, denn der Staub kann elektrostatisch aufgeladen sein und technisches Gerät zerstören. Auch der Betrieb mit Solarzellen wird dadurch deutlich erschwert. Der Rover Opportunity wurde z.B. 2018 von einem solchen Sturm zur Strecke gebracht. Unklar ist bis heute, ob es innerhalb dieser Stürme auch Blitze gibt.



Kapitel 4 – Mars-Landschaften



In diesem Kapitel wird ein Überblick über die mit Mars-Rovern unternommenen Fahrten gegeben und es enthält viele spektakuläre (v.a. auch großformatige, hochauflösende) Fotos, die einen Eindruck vom Nachbarplaneten vermitteln. Das Visuelle steht hier also im Vordergrund. Ein Highlight dabei ist sicherlich das ausklappbare Panorama-Bild (S. 146 ff.). Insgesamt sind 115km der Wüsten auf dem roten Planeten befahren worden. In den Texten zu den Bildern wird auch immer wieder darauf hingewiesen, dass man Spuren von Wasser im Gestein entdeckt. In der Frühgeschichte des Mars muss es also Gewässer dort gegeben haben. Das belegen zahlreiche geologische Strukturen.



Kapitel 5 – Leben auf dem Mars?



In diesem Kapitel dreht sich alles um die entscheidende Frage: Gab es Leben auf unserem Nachbarplaneten? Diese Frage ist bis heute noch nicht abschließend beantwortet. Bislang hat man allerdings noch keinen Nachweis für Leben gefunden. Auch die verschiedenen Sonden, die bislang Experimente auf dem Marsboden durchführten, fanden noch keine Bestätigung dafür, dass es womöglich Mikroben dort gegeben hat. Vielleicht sind aber auch die Messinstrumente und Methoden bisher nicht genau genug gewesen? Am erfolgversprechendsten erscheint wohl eine Untersuchung des Untergrunds, der vor Strahlung aus dem All und starken Temperaturschwankungen besser geschützt ist. Die „Unterwelt“ des Mars ist bislang noch nicht ausreichend genug untersucht worden. Keine Sonde grub tiefer als 30cm.

Abschließend erteilt der Autor der Vorstellung, dass der Mars irgendwann besiedelt werden könnte, eine Absage. Bislang sind die zu bewältigenden Herausforderungen einfach zu groß. Muskel- und Knochenschwund, ein geschwächtes Immunsystem und ein erhöhtes Krebsrisiko sind nur einige der Probleme, mit denen Astronaut:innen zu kämpfen hätten. Da der Mars kein Magnetfeld besitzt ist die kosmische Strahlung sehr gefährlich. Weiterhin ist mit mentalen Schwierigkeiten zu rechnen. Die Astronaut:innen werden unter großem Stress stehen. Und sie werden unter Schlafstörungen leiden, da der Tag-Nacht-Rhythmus unnatürlich verläuft. Sie wären in einer winzigen Kapsel eingesperrt, die die Insassen nur wenige Zentimeter vom lebensgefährlichen Weltraum trennt. Auf engstem Raum müsste man mehrere Monate mit anderen Mannschaftsmitgliedern auskommen.

Auch die futuristische Idee von Terraforming wird skeptisch beurteilt. Selbst wenn man das gesamte auf dem Mars befindliche Kohlendioxid freisetzen könnte, würde dieses nicht ausreichen, um den Planeten zu erwärmen. Menschliches Leben auf dem Mars bleibt also vorerst Science-Fiction.

Montag, 1. September 2025

Bentow, Max - Rabenland

 

333 Tage




Ein Mädchen irrt orientierungslos und panisch durch den Wald und wird von einem Auto erfasst. Sie wird sofort ins Krankenhaus gebracht. Es ist die 17-jährige Lilly Steiner, die von ihrer Familie seit 333 Tagen vermisst wird. Doch sie kann sich an nichts erinnern. Nils Trojan und Carlotta Weiß nehmen sofort die Ermittlungen auf. Wo hat das Mädchen gesteckt, was ist ihr widerfahren? Wurde sie entführt? Und wird sie sich wieder an das Vergangene erinnern? Das sind die zentralen Fragen, die man sich zu Beginn stellt. Das Amnesie-Motiv sorgt dafür, dass direkt Spannung entsteht und die Neugier der Leserinnen und Leser angefacht wird. Und dadurch, dass ein potentieller Entführer es weiter auf Lilly abgesehen haben könnte, entsteht eine Bedrohungssituation. Sehr geschickt!


Das Geschehen wird ereignis-, wendungs- und temporeich erzählt. Spannungsbögen werden immer mal wieder geschickt durch Zeitsprünge unterbrochen. Die Kapitel sind kurz und man ist schnell im Geschehen drin. So wie man es von Bentow kennt. So wie ich es mag. Die Ermittlungen enthüllen ständig etwas Neues, es gibt keinen Stillstand. Kurzum: Es wird nicht langweilig. Auch das bin ich von Bentow gewohnt und habe nichts anderes erwartet. Klasse!


Allerdings gibt es auch Punkte die mir nicht so gut gefallen haben. 1. Stellenweise werden die vorkommenden psychischen Erkrankungen der Protagonisten leider zu stereotyp und klischeehaft abgehandelt. 2. Carlotta Weiß bleibt dieses Mal sehr blass. Von ihrer Intuition und ihren Fähigkeiten, sich in den potentiellen Täter hineinzuversetzen, ist dieses Mal nicht viel zu spüren. Sehr schade! Stattdessen agiert sie in diesem Thriller mehr als Psychologin, führt die zentralen Gespräche mit Lilly und organisiert Ortsbegehungen mit der Amnesie-Patientin, um verlorengegangene Erinnerungen wieder aufzufrischen. 3. Ich bin kein Freund des Traum-Motivs (es sei denn in Form einer psychischen Spiegelung). Das wirkt auf mich stellenweise etwas konstruiert, v.a. wenn es sich lange Zeit so liest, als handele es sich bei den symbolischen Inhalten des Traums um eine Art Zukunftsvision (was später glücklicherweise wieder anders gelöst wird). 4 Am Ende gibt es einen zu großen und unwahrscheinlichen Zufall. Das hat mich nicht überzeugt. Kurzum: Die beiden vorangegangen Teile mit Carlotta Weiß haben mir besser gefallen. Ich komme auf knappe 4 Sterne, knapp an den 3 Sternen vorbei.

Nisi, Sarah - Ich will dir nah sein



Psychogramm einer Obsession




Zu Beginn erhalten wir erst einmal einen Überblick über die handelnden Figuren. Es dauert ein wenig, bis man den Überblick erhält und weiß, worauf das Ganze hinausläuft. Insgesamt sind es vier Blickwinkel, die einander abwechseln:


Lester

Lester ist Angestellter des Fundbüros der Londoner Verkehrsbetriebe. Fundstücke, die nicht abgeholt werden, nimmt er gern mit zu sich nach Hause. Er ist ein Sonderling, der sich neugierig für das Leben seiner Nachbarn interessiert. Für die Wohnung eines verstorbenen Nachbarn hatte er sogar einen Zweitschlüssel, so dass er in dessen Abwesenheit seine Wohnung genauer inspizieren konnte. Als aufmerksamer Beobachter bekommt Lester mit, dass bald eine neue Nachbarin neben ihm einzieht…


Erin

Darüber hinaus machen wir Bekanntschaft mit Erin, einer professionellen Tänzerin, die an einer Fußverletzung laboriert und für ihre Ballett-Auftritte über die Schmerzgrenze hinausgeht. Sie betäubt sich regelmäßig mit Schmerzmitteln und ist bereit, ein großes gesundheitliches Risiko einzugehen. Wir erfahren, dass sie in eine neue Wohnung zieht…


Rhys

Rhys ist der Makler, der Erin die neue Wohnung vermittelt. Bei einem Blick in seine Datenbank fällt ihm auf, dass in einem Wohnkomplex Appartements auffällig häufig immer wieder neu vermietet werden. Was könnte der Grund dafür sein? Als verantwortungsvoller Makler stellt Rhys Nachforschungen an…


Ein Blick in die Vergangenheit

Ein weiterer Blickwinkel betrifft Lesters Vergangenheit. Es wird geschildert, wie er Kontakt zu einer gehörlosen Schauspielerin aufnimmt, die er beobachtet und schon bald bedrängt. Kein gutes Vorzeichen…


Die vier Blickwinkel sind geschickt aufeinander abgestimmt. Und nach einigen Seiten wird klar, dass sich eine Katastrophe anbahnt. Lester ist nicht nur neugierig, schon bald verhält er sich aufdringlich und entwickelt eine Obsession für seine neue Nachbarin. Wir erfahren auch, dass die Wohnungen im Gebäude sehr hellhörig sind, so dass Lester seine neue Nachbarin gut belauschen kann. Als Leser fragte ich mich, ob und wie Erin sich aus dieser Situation befreien kann und ob Rhys ihr helfen wird. Die Spannung ist über das ganze Buch hinweg stark ausgeprägt. Man möchte wissen, was aus Erin wird und fiebert mit. Gleichzeitig habe ich die Vergangenheitskapitel zu Lester mit Interesse gelesen. Was hat er sich bereits zuschulden kommen lassen? Das Einzige, was der oder die ein oder eine andere als zu belastend empfinden könnte, ist die starke Präsenz der Täterperspektive. Über viele Seiten hinweg ist man in der verstörenden Gedankenwelt von Lester, der stark von seinen Trieben gesteuert wird und immer mehr Grenzen überschreitet. Für sensiblere Leserinnen und Leser könnte das zu sehr unter die Haut gehen. Man wird aber mit einem großartigen Ende belohnt, das eine faustdicke Überraschung bereithält. Die Auflösung ist in meinen Augen sehr gelungen. Insgesamt ein sehr rundes Buch, das super konzipiert ist und mich sehr gut unterhalten hat. 5 Sterne!


Wassjakina, Oxana - Die Wunde


Über Verlust und Abschiednehmen




Eine Ich-Erzählerin verliert ihre Mutter an den Krebs und durchläuft zu Beginn des Buchs die Formalitäten einer Urnenbestattung. Die Geschehnisse werden dabei auffällig sachlich und knapp-pointiert dargestellt, der Stil ist äußerst nüchtern, lakonisch und unprätentiös. Die bürokratischen Abläufe werden durch warmherzige Erinnerungsepisoden kontrastiert, die die gemeinsame Zeit mit der Mutter thematisieren. Viel Raum nimmt v.a. der Prozess des Abschiednehmens ein. An einigen Stellen ist die Sprache des Romans poetisch-bildhaft. Auch Gedichte werden passagenweise eingebaut. Doch dieses Element taucht nicht überbordend auf. Weitestgehend ist die sprachliche Gestaltung klar und leicht zugänglich.



Nachdem die Einäscherung vorgenommen worden ist, will die Ich-Erzählerin Oxana, die als Dichterin tätig ist (Vorsicht: Autofiktionalität!) die Asche ihrer Mutter nach Sibirien bringen. Bei der Darstellung des Privatlebens von Oxana werden menschliche Abgründe nicht ausgespart: Trunksucht und häusliche Gewalt sowie Aberglaube kommen punktuell mal vor und finden Erwähnung. Darüber hinaus bekennt sich die Protagonistin offen dazu, lesbisch zu sein und eckt in ihrem Umfeld damit an. Sie gewährt uns Einblick in ihre sexuellen Erfahrungen und in ihr Liebesleben, und das ziemlich direkt und unverblümt. Ich habe mich tatsächlich gewundert, dass man solche Inhalte in russischer Literatur noch findet (das Buch ist von 2021). Es wundert mich jedoch nicht, dass die Autorin als Queer-Aktivistin und Feministin Anfeindungen ausgesetzt ist. Sie lebt aber noch nicht im Exil (wie so viele andere Autorinnen und Autoren).



Auch die dunklen Seiten der Krebserkrankung der Mutter werden nicht ausgespart. Diese Passagen gehen sehr unter die Haut und sollten besser nicht von Leserinnen und Lesern gelesen werden, die dadurch „getriggert“ werden könnten. So werden die letzten Wochen und Monate des Zusammenlebens von Mutter und Tochter beschrieben. U.a. geht es auch um das Thema des Verlusts von Weiblichkeit und darum, wie sich Oxana auf den Tod ihrer Mutter vorbereitet. Dabei folgt der Text keiner klaren Struktur. Gedanken, Erinnerungen (v.a. an die Mutter und ihre Beziehungen zu diversen Männern sowie an die Kindheit), Reflexionen und Reiserfahrungen wechseln einander ab. Während die innere Handlung (v.a. die Reflexionen) episodenhaft und essayistisch geschildert wird, wird die äußere Rahmenhandlung in Form der Reise teils schwarzhumorig präsentiert.

Stava, Sophie - Eine falsche Lüge


Zwillingszwilling



Die Ich-Erzählerin Sloane gibt sich einem Vater (Jay) gegenüber fälschlicherweise als Krankenschwester aus, als sie den Bienenstich seiner kleinen 5-jährigen Tochter (Harper) auf dem Spielplatz versorgt. In Wirklichkeit arbeitet sie als Nageltechnikerin in einem Beauty-Salon, ist Mitte 30 und hält sich finanziell gerade so über Wasser. Sie lebt noch bei ihrer Mutter, die eine Erwerbsminderungsrente bezieht.


In direkter Leseransprache gibt Sloane freimütig zu, dass sie sich neugierig für das Leben anderer Menschen interessiert, andere gern beobachtet und auch um die ein- oder andere Lüge nicht verlegen ist. Der Reichtum anderer Leute fasziniert sie. Der Vater der Kleinen hinterlässt auf sie einen bleibenden und v.a. attraktiven Eindruck. Sie träumt davon, aus ihrem alten Leben auszubrechen und gibt sich der Hoffnung hin, dass aus ihr und Jay etwas werden könnte. Gleichzeitig macht sie jedoch keinen selbstsicheren Eindruck und zweifelt häufiger an ihrem äußeren Erscheinungsbild.


Es wird schnell deutlich, dass sich Sloane die Wahrheit immer ein wenig „zurechtbiegt“, v.a. um sich interessanter zu machen, Aufmerksamkeit zu generieren und von ihren Mitmenschen Zuneigung zu erhalten. Kurzum: Sie will gemocht werden. Das ist ihre große Schwäche. Dafür perfektioniert sie ihre Lügengebilde und ist äußerst geübt darin, ihrem Gegenüber das zu erzählen, was dieses gern hören möchte.


Wenig später lernt Sloane auch die Frau von Jay kennen (Violet), die sich ebenfalls noch einmal für ihre Hilfe bedankt. Beide liegen auf der gleichen Wellenlänge und freunden sich an. Sie haben viele Gemeinsamkeiten. Nach einigen Treffen offeriert ihr Violet eine Stelle als Kindermädchen. Sloane erhofft sich dadurch eine neue berufliche Perspektive (und sie hat ja auch noch ein Auge auf Jay geworfen). Der Haken ist nur, dass Harper krank ist. Sie laboriert an einem Herzleiden. Violet hält Sloane immer noch für eine Krankenschwester und v.a. aus diesem Grund für besonders fähig. Und Sloane spielt ihre Rolle weiter. Sie hält an ihrer Lüge fest und nimmt Violets Angebot an. Spätestens ab diesem Zeitpunkt fragt man sich, ob sie die Lüge nicht irgendwann einholen wird. Was passiert, wenn Harper ernsthaft in Gefahr gerät? Als Leser und Leserin wartet man förmlich darauf, dass etwas Unheilvolles passiert…


Die Ich-Perspektive sorgt dafür, dass wir nah an den Gefühlen und Gedanken von Sloane sind. Wir erhalten einen Einblick in das, was sie umtreibt. Die Lügen von Sloane sorgen für Ungewissheit. Man wartet förmlich darauf, dass sie sich in etwas verstrickt oder dass sie auffliegt. Das erzeugt eine gewisse Erwartungshaltung und befeuert die Neugier. Die Charakterzeichnung von Sloane ist in meinen Augen auch gelungen. Mit zunehmendem Handlungsverlauf wirkt sie immer seltsamer. In die Freundschaft mit Violet steigert sie sich immer obsessiver hinein. Schon bald überschreitet sie Grenzen. Und als Leser merkt man, dass mit ihr etwas nicht stimmt und sie unter einem negativen Selbstbild leidet. Wo wird das hinführen?


Zusätzliche zwischenmenschliche Spannung entsteht dann zusätzlich noch dadurch, dass Sloane ein Auge auf den verheirateten Jay geworfen hat. Als Leser habe ich mich gefragt, ob Violet nicht irgendwann etwas davon mitbekommt und wie sie darauf reagieren wird. Zum Erzählstil: Der Schreibstil ist angenehm, das Buch liest sich flüssig, die Sprache bzw. die Übersetzung ist klar und pointiert. Eine hohe Dialoghaftigkeit sorgt für Unmittelbarkeit und Lebendigkeit. Zum Plot: Ein weiterer Pluspunkt sind überraschende Wendungen, die durch Perspektivwechsel herbeigeführt werden. Später kommt Violet zu Wort, danach Jay. So erscheint der Inhalt noch einmal in einem anderen Licht und das Geschehen entwickelt sich in unerwartete Richtungen. Das ist sehr gut arrangiert und hat mich an die Thriller von Freida McFadden erinnert. Allerdings geht die Autorin ihren eigenen Weg und kupfert das Erfolgsrezept von McFadden nicht einfach nur ab. Es ist kein billiger Abklatsch von schon Bekanntem! Insgesamt handelt es sich um einen spannenden, ereignisreichen Thriller. Ich fühlte mich sehr gut unterhalten und habe das Buch sehr gern gelesen. Man kann gut miträtseln und das Buch hält den Spannungsbogen von der ersten bis zur letzten Seite gut aufrecht. Von mir gibt es dafür 5 Sterne.