Keine Abendbrot-Tisch-Familie
Das
Werk „22 Bahnen“ von Caroline Wahl stand schon lange auf meiner Wunschliste.
Ich habe viel Gutes über das Buch gehört, es steht auch schon über 30 Wochen in
der Spiegel-Bestsellerliste. Aus diesem Grund wollte ich mir gern ein eigenes
Urteil bilden. Und ich war schon nach den ersten Seiten überzeugt. V.a. die
Beziehungsverhältnisse zwischen den Figuren und die Charakterzeichnung sind gut
ausgearbeitet und äußerst gelungen. Und auch das Zitat von Alina Bronsky auf
dem Klappentext passt sehr gut. Die starke weibliche Hauptfigur Tilda erinnert
mich auch sehr an Sascha Naimann aus „Scherbenpark“. Hinzu kommen die
eingebauten Dialogsequenzen in Form von direkter Rede, die dem Inhalt
Lebendigkeit und Unmittelbarkeit verleihen. So etwas mag ich. Und auch der
Schreibstil gefällt. Er ist äußerst „süffig“. Das große Thema des Romans:
Alkoholismus und das Leid, das er bei den Angehörigen verursacht.
Zur
Handlung: Zu Beginn lernen wir Tildas Tagesablauf kennen und es ist deutlich spürbar,
dass sie das Tagesende genießt, wo sie zur Ruhe kommt. Ihr fehlen
Rückzugsmöglichkeiten. Schwimmen ist ihre große Leidenschaft, ihr Ruhepol. Dort
hat sie Raum für sich. Sie besitzt eine außergewöhnliche mathematische Begabung
und steht kurz vor ihrem Masterabschluss. Ihr Studium absolviert sie nebenbei,
zusätzlich zu all ihren Pflichten, die sie noch zu erledigen hat. Eine
besondere Beziehung hat sie zu ihrer jüngeren Schwester Ida, um die sie sich
liebevoll und auf rührende Weise kümmert. Für Ida ist sie wie eine Ersatzmutter.
Und das muss sie auch sein, denn die Mutter von Tilda und Ida agiert unzuverlässig
und verantwortungslos. Sie ist Alkoholikerin und leidet unter depressiven
Phasen. Und das unbeschwerte Leben, das Tilda führen könnte, wenn sie keine
privaten Sorgen um ihre Schwester und ihre Mutter haben müsste, ist äußerst
brüchig. Auch in den Phasen, wo Tilda ihr Leben zu genießen scheint, hält ihr
Glück nie lange an. Über allem schwebt der unberechenbare Zustand der Mutter. Ein
Rückfall in die Alkoholsucht ist jederzeit möglich. Der Alkoholismus ist wie
ein Gewitter: zerstörerisch, dunkel, stürmisch und man weiß nie, wo der nächste
Blitz einschlägt. Alle Beteiligten fühlen sich unsicher und ausgeliefert, weil
das Unwetter das Leben überschattet. Man wartet förmlich darauf, dass der Sturm
vorbeizieht und das Licht der Beruhigung endlich hervortritt.
Vor
allem Ida leidet unter den unvorhersehbaren Rückfällen ihrer Mutter, sie kann
kein normales, unbeschwertes Leben als Fünftklässlerin führen. Und Tilda ist
Idas Beschützerin, sie liest der Mutter auch einmal die Leviten und verhält
sich ihr gegenüber hart und kompromisslos. Bewundernswert dabei: die Stärke von
Tilda und der Umstand, wie sie immer wieder in die Bresche springt und die
schwierigen Situationen meistert, in die sie immer wieder gerät. Und was bei
mir Fassungslosigkeit und Wut hervorrief: Die immer wieder falschen Versprechungen
der Mutter, sich zu bessern, und ihre unfassbare Sturheit. Tilda wirkt
erwachsener als ihre eigene Mutter. Es wird förmlich erlebbar, wie schwierig
das Zusammenleben mit einer alkoholkranken Person sich anfühlen muss.
Und
das ist meiner Meinung nach auch die große Leistung der Autorin: Der
krisenhafte Zustand der Mutter und das Leid von Ida und Tilda wird nachempfindbar.
Und ich habe mich bei der Lektüre häufiger gefragt: Was würde ich in einer
solchen Situation tun? Wie würde ich selbst handeln? Man versetze sich dabei in
Tilda hinein: Man steht selbst noch nicht auf eigenen Beinen, ist mittellos,
man hat das Leben noch vor sich und ist bereits verantwortlich für die kleine
Schwester, weil auf die eigene Mutter kein Verlass ist. Hinzu kommt die Scham.
Man möchte nicht, dass andere Leute davon erfahren, wie es zu Hause zugeht. Wie
bestreitet man in einer solchen Situation sein Leben? Woher nimmt Tilda die
Stärke, diese Situation zu bewältigen? Wenn Literatur es schafft, solche Fragen
beim Lesen auszulösen, dann ist sie in meinen Augen relevant und gut gemacht.
Als
man Tilda eine Promotionsstelle in Berlin anbietet, nimmt die Handlung Fahrt
auf, meine Neugier wurde entfacht: Wie wird sich Tilda entscheiden? Wird sie
bei ihrer Schwester bleiben oder geht sie ihren eigenen Weg? Wird die Mutter
sich vielleicht einer Therapie unterziehen und alles endet glücklich? Das sind
die Fragen, die mir bei der Lektüre in den Sinn kamen. Mehr möchte ich an
dieser Stelle nicht verraten. Es möge jede/ jeder selbst herausfinden, in
welche Richtung sich der Inhalt entwickelt. Fazit: Ein sehr gelungenes Werk,
das emotionalisiert. In meinen Augen steht es zu Recht schon lange in der
Spiegel-Bestsellerliste. 5 Sterne von mir!
2 Kommentare:
Dein Kommentar ist präzise und durchdacht. ohne zu viel zu verraten. Man bekommt Lust auf diese Lektüre. Im Mai 2024 erscheint übrigens Caroline Wahls neuestes Werk: "Windstärke 17". Die Einleitung liest sich, als wäre es in gewisser Weise eine Fortsetsetzung von "22 Bahnen". VG
Danke Dir für den Hinweis auf Ihr neues Buch. Das werde ich definitiv in Augenschein nehmen. VG
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