Forschung in der Sackgasse?
In
ihrem Sachbuch „Mehr als nur Atome“ stellt Sabine Hossenfelder der Kosmologie
ein schlechtes Zeugnis aus: zu viel Spekulation, zu wenig gesichertes Wissen,
zu wenig Erklärungskraft. Das wird an der Diskussion verschiedener
Forschungsfragen in vielen Kapiteln deutlich. Es ist eine bittere Bilanz, die
sie zieht. Zwar lässt sie auch an vielen Stellen erkennen, dass sie die Hoffnung
hegt, dass durch bessere Messungen und mehr Daten in Zukunft genauere Modelle entwickelt
werden können, aber das, was man zum jetzigen Zeitpunkt über das Universum zu
wissen glaubt, ist höchst umstritten. Nach ihrer Meinung scheint sich die
Forschung aktuell eher in einer Sackgasse zu befinden. Und ich empfand es beim
Lesen als wohltuend und erfrischend, dass das auch einmal jemand ausspricht.
Oft wird in Sachbüchern ja ein ganz anderer Eindruck erweckt.
Aufmerksam geworden auf das Buch bin ich übrigens durch einen Beitrag von Dr. Bernhard Weßling, der auf diesem Blog aus seiner Expertensicht eine Rezension dazu veröffentlicht hat (s. unter Gastbeitrag), die auch in leicht veränderter Form in der Naturwissenschaftlichen Rundschau (Heft 8/2023) erschienen ist. Anders als ich kennt sich Weßling bestens aus mit der Materie. Er hat selbst ein Buch geschrieben, in dem es viele Schnittmengen mit Themen aus Hossenfelders Werk gibt. Eine vergleichende Lektüre lohnt sich also. Und er bemängelt in seiner Rezension einige inhaltliche Aspekte, die fraglich oder gar falsch erscheinen. Kurzum: Ich empfehle zusätzlich die Lektüre von Weßlings Rezension hier auf diesem Blog. Ich spreche im Folgenden lediglich aus Laiensicht einige Dinge an, die ich kritisch gesehen habe.
Ein Beispiel dafür, dass die Forschung (aktuell) in einer Sackgasse steckt, betrifft die mögliche zukünftige Entwicklung des Universums: Nach Einschätzung der Autorin sind dazu keine klaren Aussagen
machbar, weil viele Faktoren veränderlich sein können, ohne dass wir es zum
heutigen Zeitpunkt wissen (z.B. die dunkle Energie). Letztlich kann die Forschung
nur Mutmaßungen anstellen! Viele Spekulationen lassen sich zudem nicht
überprüfen, weil die Zeiträume im All zu gigantisch sind, um Hypothesen zu
verifizieren. Klar scheint wohl nur eines: Die Entropie wird immer weiter
zunehmen und irgendwann wird das Universum den Zustand der maximalen Entropie
erreicht haben und sich im Gleichgewicht befinden. Dieser Prozess ist
unumkehrbar und unausweichlich! Fraglich ist dann aber wieder, was danach
passiert. Wird das späte Universum die Entropie zerstören? Gibt es einen
Zyklus? Und die Autorin merkt auch an, dass man momentan nicht wisse, wie man
Entropie mit Raumzeit und Gravitation in Verbindung bringen kann.
Was
ich insgesamt schade finde, ist der Umstand, dass man sehr, sehr deutlich merkt,
aus welcher Wissenschaftsdisziplin die Autorin kommt. Ihr Blick auf die Welt
und die vielen ungelösten Fragen ist sehr verengt auf eine rein physikalisch-mathematisch-naturwissenschaftliche
Sichtweise. An einer Stelle stellt sie sogar die Frage in den Raum, ob die
Sprache der Mathematik diejenige Sprache der Natur ist, die es zu entschlüsseln
gilt. Ich hätte mir gewünscht, dass Hossenfelder bei verschiedenen
Fragestellungen, denen sie sich widmet, auch einmal über den Tellerrand ihrer eigenen
Disziplin hinausschaut, z.B. wenn es um die Frage nach Bewusstsein und nach
einem freien Willen geht. So glaubt die Autorin beispielsweise, dass man
Gehirne irgendwann einmal Atom für Atom nachbauen kann und meint, dass das
Gehirn nicht mehr sei, als die Summe seiner atomaren Teile. Eine solche
Sichtweise ist mir zu einseitig. Was sagt denn die Neurowissenschaft dazu? Es
ist doch unklar, wie die neuronalen Bestandteile miteinander interagieren und
wechselwirken. Hier allein auf noch nicht erklärbare Quanteneffekte Bezug zu
nehmen, um menschliche Entscheidungsfähigkeit zu erklären, überzeugt mich (als
Laie!) nicht, aber ich bin natürlich kein Experte. Eine solche verengte
Perspektive wird dem komplexen Untersuchungsgegenstand nach meinem Empfinden
aber nicht gerecht.
Hossenfelder
diskutiert auch, inwieweit das menschliche Verhalten deterministisch ist. Sie
selbst gibt sich als Befürworterin des Determinismus zu erkennen. Den freien
Willen hält die Autorin für eine Illusion. Ich vermute sehr stark, dass sie mit
ihrer Position polarisieren und eine Diskussion anstoßen möchte. Für mich ist
die Frage, ob es einen freien Willen gibt sehr komplex und vielschichtig. Die
Autorin gibt vieles dazu nur sehr verkürzt wieder. Das finde ich dem Gegenstand
gegenüber nicht angemessen, zumal vieles aus anderen Wissenschaftsdisziplinen
hier gar nicht angeführt wird (damit ließen sich ja auch viele weitere Bücher
füllen). Schade! Ich könnte nun einfach die Gegenthese aufstellen und sagen, dass
ich ein Anhänger des Libertarismus bin. Meine These: Wenn ich z.B. ein Stück
Pflaumenkuchen und ein Stück Apfelkuchen vor mir stehen habe, zwischen denen
ich wählen müsste. Ist dann etwa vorhersehbar, welches Stück ich esse?
Dann
geht es an einer Stelle auch wieder um die Frage des Zufalls und um das
anthropische Prinzip (vgl. dazu meine Rezension zu Weßling 2022: Was für ein
Zufall!). Hossenfelder lehnt das Prinzip ab. Sie hält es sogar für falsch. Ich
finde diese kategorische Einschätzung schwierig, zumal das, was die Autorin als
Argument dagegen anführt im Konjunktiv formuliert ist. Noch hat man aber kein
anderes intelligentes Leben gefunden, oder? Was ist daran falsch, anzunehmen,
dass wir als lebende Subjekte die Naturkonstanten als Konstruktionsleistung
unseres Intellekts hervorgebracht haben? Ohne uns könnten die Konstanten nicht
beobachtet und auch nicht formuliert werden. Oder existieren sie etwas
außerhalb der menschlichen Wahrnehmung? Und falls ja, wie ließe sich das
überprüfen?
Am
Ende ihres Buchs stellt die Autorin selbst eine irrwitzige These auf, die sie
dann selbst entkräftet und verwirft: z.B. ist das Universum ein riesiges
Gehirn, bei dem unsere Galaxie nur ein Neuron ist? In meinen Augen war das ein nettes
Gedankenspiel, aber ich konnte die Ausführungen nicht richtig ernst nehmen. Dieses
Kapitel hätte ich nicht benötigt. Spannender hingegen fand ich wiederum eine
andere Frage, der sich Hossenfelder widmet: Ist das Universum vielleicht auf
eine Art miteinander verbunden, die wir nicht verstehen? Kann auf diese Weise
die Begrenzung der Lichtgeschwindigkeit umgangen werden? Eine interessante
Spekulation. Dieses Mal von der Autorin selbst. Aber auch hier stellt sich die
Frage, wie man diese Spekulation überprüfen will.
Was
ich an dem Buch gut finde, ist der selbstkritische Impetus, mit dem es
geschrieben wurde. Das kommt im Nachwort auch gut zum Ausdruck, wie ich finde.
Wissenschaftler sollten sich der Grenzen ihres Wissens bewusst sein und auch
einräumen, dass sie bestimmte Dinge einfach nicht wissen. Wissenschaft kann
nicht alles erklären. So ist es! Ich empfehle dieses Buch solchen Leser:innen,
die sich für Kosmologie interessieren und die gerne von der Autorin vor Augen
geführt bekommen möchten, wie viel man eigentlich noch nicht weiß.
1 Kommentar:
Lieber Herr Kallfell, danke für Ihre Rezension - für mich sehr interessant zu lesen, weil ich daran erkennen kann, wie Leser, die sich nicht (so wie ich) schon tiefer mit dem Themenkreis des Buches von Frau Hossenfelder beschäftigt haben, ihr Buch aufnehmen.
Ich habe selbst eine Rezension aus meiner Sicht geschrieben, u.a. kritisierte ich die (von der Autorin nicht näher belegte) Auffassung, wonach der 2. Hauptsatz der Thermodynamik "höchst suspekt" sei. Damit in Zusammenhang steht, daß ihr physikalisches Weltbild von Gleichgewichts-Thermodynamik und Determinismus geprägt ist, was der Komplexität und Nicht-Linearität der Welt, des Kosmos überhaupt nicht entspricht.
- Meine Rezension erschien in "Naturwissenschaftliche Rundschau" Heft 8 / 2023 und kann auch hier gelesen werden: https://www.bernhard-wessling.com/buchbesprechung-hossenfelder-mehr_als_nur_atome
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