5 von 5 Sternen
„Schreiben ist küssen mit dem Kopf“
Normalerweise lese ich keine Liebesromane. Doch bei „Gut gegen
Nordwind“ von Daniel Glattauer habe ich eine Ausnahme gemacht. Und zwar aus
zwei Gründen: Ich mag Glattauers Schreibstil und es handelt sich um einen
E-Mail-Liebesroman, der schon von der ersten Seite an überzeugt. Bereits die
ersten E-Mails, die Leo Leike und Emmi Rothner austauschen, sind klasse.
Zwischen beiden entsteht direkt ein witziger verbaler Schlagabtausch. Beide
Protagonisten sind nicht auf den Mund gefallen und necken sich kreativ und
humorvoll. Und man will wissen, wie es mit den beiden weitergeht und was aus
ihnen wird. Interessant ist auch der Beruf von Leo. Er ist Uni-Assistent für
Sprachpsychologie und Kommunikationsberater und das schlägt sich auch in seiner
Wortwahl und seinem Charakter großartig nieder. Was er am Sprachgebrauch von
Emmi herausliest, ist einfach unnachahmlich. Der Autor hat hier einfach tolle
Charaktere entworfen, die Faszination beim Lesen erzeugen. Und über allem
schwebt die Frage: Werden sich Leo und Emmi irgendwann begegnen?
Beide Protagonisten können überaus geschliffen formulieren und man
merkt den E-Mails an, dass sie zunehmend ernsthafter werden. Das Interesse
aneinander und die Offenheit nehmen
stetig zu. Leo schüttet Emmi gegenüber sein Herz aus, sie wiederum ist anfangs
eher distanziert. Und was auch auffällt: Beide gehen überaus direkt miteinander
um, v.a. Emmi. Vermutlich auch in dem Wissen, dass sie den Kontakt jederzeit
abbrechen können. Im Verlauf der Beziehungsentwicklung beginnen beide
sehnsüchtig auf Mails des jeweils anderen zu warten, doch ihr Privatleben
lassen sie zumindest anfangs außen vor. Sie schaffen einen virtuellen Raum nur
für sich beide, in dem sie spielerisch mit ihren Gefühlen umgehen. Es ist ein
Flirt in einem geschützten Zwischenraum, in einem Raum voller
Unverbindlichkeit.
Was mir während der Lektüre nahegegangen ist: Emmis charakterliche
Entwicklung. An vielen Stellen fand ich sie oft verletzend und auch
oberflächlich. Sie möchte Leo auf Abstand halten und ihm nicht viel Einblick in
Privates gewähren. Mit zunehmender Dauer des Kontakts treten auch
Eifersüchteleien und Verlangen zutage. Ich empfand Emmi häufig als sehr
egozentrisch. Leo tat mir fast schon leid. Aber evtl. sehen das andere
Leser:innen anders. Das sollte jede(r) selbst herausfinden. Reizvoll ist für
beide jedenfalls, dass sie jeweils nur in idealtypischer Form in der
Vorstellungswelt des anderen existieren.
Und wieder tritt das Talent des Autors hervor, treffsicher zu
formulieren und sprachliche Nuancen außerordentlich feinfühlig zu gestalten. Er
hat einen unglaublich scharfsinnigen, analytischen Blick auf das Innenleben seiner
Figuren und er ist in der Lage, die inneren Zustände und die Gefühle der beiden
psychologisch nachvollziehbar, empfindsam und differenziert zum Ausdruck zu
bringen. So sind z.B. auch die Ungeduld und das Warten aufeinander förmlich
greifbar. Die Charaktere wirken unheimlich lebensecht (bis auf die Tatsache,
dass sich wohl nur wenige Menschen so geschliffen ausdrücken können wie Emmi
und Leo). Eine großartige schriftstellerische Leistung!
Fazit:
Ein Liebesroman mit unnachahmlichen Charakteren, die beide eine
interessante Entwicklung durchmachen. Die E-Mails, die sich beide schicken,
sind unheimlich kreativ, spielerisch und gewähren einen empfindsamen Einblick
ins Innere von Leo und Emmi. Lesemotivation entsteht durch die Frage, was aus
beiden wird und ob sie sich im realen Leben begegnen werden. Ein tolles Buch,
das ich erst spät für mich entdeckt habe. Aber ich bin froh, dass ich es – wenn
auch verspätet – noch gelesen habe. Absolute Empfehlung!
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