Glukhovsky – Ein Seismograph der russischen Gesellschaft
Der Autor Dmitry Glukhovsky wird vielen Lesern durch seinen Bestseller
„Metro 2033“ bekannt sein. Nun ist im Heyne-Verlag die Übersetzung von vielen
seiner Erzählungen, die vorwiegend aus den Jahren 2010 und 2012 stammen (russ.
Originaltitel „Рассказы о родине“, Anm.
d. Verf.), in Form einer Anthologie erschienen. Darin werden schon sehr weitsichtig
und feinsinnig gesellschaftliche Missstände anprangert. Titel dieses
Sammelbands „Geschichten aus der Heimat“, toll übersetzt von Christiane
Pöhlmann, Franziska Zwerg und M. David Drevs. Und der Inhalt ist aufgrund des
brutalen Angriffskriegs auf die Ukraine wieder sehr aktuell geworden. Ich
wundere mich beispielsweise über den ausbleibenden zivilen Widerstand in
Russland. Und Glukhovsky macht in seinen Erzählungen an fiktiven Geschichten
gut deutlich, wie die russische Gesellschaft „tickt“. Inzwischen ist der Autor
im eigenen Land zur Fahndung ausgeschrieben und musste das Land verlassen.
Schon in seinem Vorwort macht der Autor deutlich, was er von seinem
Vaterland hält. Mit einem bitterbösen, bissigen Ton kommentiert er den Wandel,
den das Land seit Zusammenbruch der UdSSR durchlaufen hat. Mit seinen
Geschichten möchte Glukhovsky seiner Heimat eine Art Diagnose stellen. Und dabei
nimmt er kein Blatt vor den Mund. Er bedient sich dafür vor allem der Mittel
von Satire, Sarkasmus, Ironie und Polemik. Darauf muss man sich gefasst machen,
wenn man dieses Werk liest.
Die Anthologie enthält 20 Erzählungen, die ich nicht alle im Detail
besprechen kann. Ich beschränke mich hier auf solche Geschichten, die ich persönlich
als Highlight empfunden habe.
„Alles hat seinen Preis“
In dieser Erzählung geht es um den Tadschiken Abdurrahim, der als
Wanderarbeiter in einer Arbeitsbrigade auf einer Baustelle am höchsten
Wolkenkratzer in Moskau arbeitet. Er muss feststellen, dass in den obersten
Stockwerken ein Organhandel stattfindet. Den armen tadschikischen
Wanderarbeitern werden die Organe entnommen. In einer anderen Perspektive
werden gleichzeitig die Arbeitgeber und ihre skrupellosen Machenschaften
dargestellt. Es geht hier also um eine Kritik an der Ausbeutung von
Fremdarbeitern. Der Erzählton ist grob, hart und direkt.
„From Hell“
Michail Semjonowitsch, ein Geologe auf Forschungsreise in Sibieren,
entdeckt bei seinen Bohrungen zufällig die Unterwelt und trifft auf ein
unheimliches Monster. In Moskau droht man ihm mit der Psychiatrie, sollte er
seine Entdeckung publik machen. Eingeflochten in diese sehr gelungene Erzählung
sind kursiv gedruckte Passagen zu Medienberichten des russischen Fernsehens, in
denen die mediale Beeinflussung der Bevölkerung satirisch aufs Korn genommen
wird. Gleichzeitig wird eine Kritik an den Zuständen der Sowjetunion deutlich,
in der Systemkritiker dadurch mundtot gemacht wurden, dass man ihnen psychische
Krankheiten attestierte.
Bevor Semjonowitsch seine Arbeiten publik machen kann und einen
Vortrag hält, erhält er plötzlich und unerwartet einen Anruf vom Gazprom-Konzern,
der ihm einen neuen Job anbieten. Doch der Geologe bleibt standhaft. Es geht
ihm um die Wahrheit, doch er wird nur verlacht. Auch hierin steckt natürlich
eine bissige Kritik am Unternehmen. Sehr amüsant ist hierbei auch die Anspielung
auf Faust. So erhält ein Mitarbeiter von Gazprom mephistophelische Züge. Gazprom
steht in direkter Verbindung mit der Hölle. Diese liefert das Gas für das
Staatsunternehmen. Diese Erzählung hat mir sehr gut gefallen.
„Vor der Flaute“
In dieser Geschichte geht es darum, dass ein erfolgreicher Moderator
aufgrund von Erfolglosigkeit abgesetzt werden soll. Die neue Programmpolitik
konzentriert sich auf die Themen „Sex“, „Tod“ und „Geld“, da sei für Wladimir
Bogow mit seiner Sendung kein Platz mehr. Im Zentrum steht hier also die
Medienkritik. Herzhaft lachen musste ich bei der Metapher des Heißluftballons.
Der abgesetzte Moderator entwickelt daraufhin ein neues Konzept für seine
Sendung, um damit seinen eigenen Job zu sichern. Bezeichnenderweise trägt die
neue Sendung dann den schlagkräftigen Titel „Keilerei“. Letztlich wird gut
deutlich, dass der Autor hier einerseits die Propaganda, die in den Medien
betrieben wird, kritisiert, und andererseits ihre Verrohung.
Was mir gut an den Erzählungen von Glukhovsky gefallen hat, sind die
zahlreichen intertextuellen und intermedialen Anspielungen, die immer einmal
wieder vorkommen. Natürlich kann man die Lektüre seines Buchs mehr genießen, wenn
man etwas landeskundliche Kenntnisse besitzt und weiß, wie sich die russische
Gesellschaft in den letzten Jahren entwickelt hat. So sollte man bei dem Text „Vor
der Flaute“ (S. 57-77) beispielsweise wissen, wer Boris Nemzov und Wladimir
Schirinowski sind. Sonst versteht man die versteckten Anspielungen nicht. Als
Ergänzung zu dieser Anthologie kann ich wärmstens das Sachbuch „Die Wahrheit
ist der Feind“ von Golineh Atai empfehlen (vgl. dazu eine frühere Rezension). Atai
verweist z.B. auch darauf, dass der Ton in den Medien insgesamt aggressiver
geworden sei.
In den anderen Erzählungen werden weitere wichtige Themen angeschnitten,
die ein facettenreiches Bild der russischen Gesellschaft zeichnen: Korruption
im Polizeiwesen (Erzählung „Eine gute Sache“), Kritik am Personenkult um den Premierminister
und um den Präsidenten (Erzählung „Die wichtigste Nachricht“), Kritik am
Verhalten von russischen Diplomaten im Ausland (Erzählung „Utopia“), Kritik am
von oben verordneten Patriotismus (Erzählung „Eine für alle“), Alkoholismus (Erzählung
„Am Boden“), Wahlbetrug (Erzählung „Ex machina“), Seilschaften und
Vetternwirtschaft (Erzählung „Appell“), Kritik am russischen Rechtssystem (Erzählung
„Telefonjustiz“), Bestechlichkeit (Erzählung „Die Offenbarung“), Kritik an
Arbeitsbedingungen (Erzählung „Schwefel“) und nicht zuletzt eine Kritik am
Gesundheitssystem (Erzählung „Ein Jahr wie drei“),
Darüber hinaus ist auch die bildhafte Sprache, die der Autor an vielen
Stellen verwendet, lobenswert. Über die kreative Sprachgestaltung, besonders in
Form von interessanten Personifikationen, musste ich des Öfteren schmunzeln. Punktuell
sind die verwendeten Bilder aber auch einmal recht anzüglich („Die gealterte, aufgehübschte Twerskaja
streckte ihre steinernen Schenkel vor ihnen aus, die Limousine bretterte über
den Roten Platz (…) Die Limousine penetrierte die Kremlmauer (…) und so landete
Iwan Wladimirowitsch im Kreml wie ein einsames, völlig verblüfftes Spermatozoid
in einem Präservativ aus Stein“, S. 247). Auch vor Tabubrüchen schreckt der
Autor bei seinen Seitenhieben nicht zurück (vgl. z.B. S. 274). In einigen Erzählungen
finden sich zudem Science-Fiction-Elemente. Auch das empfand ich als sehr
kreativ.
Fazit:
Die Anthologie vereint zahlreiche Erzählungen, die einen
bitterbösen Erzählton aufweisen und eine schonungslose und harte Abrechnung mit
der russischen Gesellschaft darstellen. Es gibt einige erzählerische
Highlights. Die Geschichte, die mir am besten gefallen hat, trägt den Titel „From
Hell“. Auch die bildhafte Sprachgestaltung hat mich bestens unterhalten. Ich
vergebe 4 Sterne! Warum nicht 5 Sterne? In meinen Augen sind nicht alle
Geschichten gleich gut. Auch versteht man in einigen Erzählungen die
Anspielungen ohne Hintergrundwissen nicht immer angemessen. Hier hätte ich
einen Anhang mit Erläuterungen hilfreich gefunden.
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