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Dienstag, 6. Dezember 2022

Glukhovsky, Dmitry - Geschichten aus der Heimat


4 von 5 Sternen


Glukhovsky – Ein Seismograph der russischen Gesellschaft


Der Autor Dmitry Glukhovsky wird vielen Lesern durch seinen Bestseller „Metro 2033“ bekannt sein. Nun ist im Heyne-Verlag die Übersetzung von vielen seiner Erzählungen, die vorwiegend aus den Jahren 2010 und 2012 stammen (russ. Originaltitel „Рассказы о родине“, Anm. d. Verf.), in Form einer Anthologie erschienen. Darin werden schon sehr weitsichtig und feinsinnig gesellschaftliche Missstände anprangert. Titel dieses Sammelbands „Geschichten aus der Heimat“, toll übersetzt von Christiane Pöhlmann, Franziska Zwerg und M. David Drevs. Und der Inhalt ist aufgrund des brutalen Angriffskriegs auf die Ukraine wieder sehr aktuell geworden. Ich wundere mich beispielsweise über den ausbleibenden zivilen Widerstand in Russland. Und Glukhovsky macht in seinen Erzählungen an fiktiven Geschichten gut deutlich, wie die russische Gesellschaft „tickt“. Inzwischen ist der Autor im eigenen Land zur Fahndung ausgeschrieben und musste das Land verlassen.

 

Schon in seinem Vorwort macht der Autor deutlich, was er von seinem Vaterland hält. Mit einem bitterbösen, bissigen Ton kommentiert er den Wandel, den das Land seit Zusammenbruch der UdSSR durchlaufen hat. Mit seinen Geschichten möchte Glukhovsky seiner Heimat eine Art Diagnose stellen. Und dabei nimmt er kein Blatt vor den Mund. Er bedient sich dafür vor allem der Mittel von Satire, Sarkasmus, Ironie und Polemik. Darauf muss man sich gefasst machen, wenn man dieses Werk liest.

Die Anthologie enthält 20 Erzählungen, die ich nicht alle im Detail besprechen kann. Ich beschränke mich hier auf solche Geschichten, die ich persönlich als Highlight empfunden habe.

 

„Alles hat seinen Preis“

In dieser Erzählung geht es um den Tadschiken Abdurrahim, der als Wanderarbeiter in einer Arbeitsbrigade auf einer Baustelle am höchsten Wolkenkratzer in Moskau arbeitet. Er muss feststellen, dass in den obersten Stockwerken ein Organhandel stattfindet. Den armen tadschikischen Wanderarbeitern werden die Organe entnommen. In einer anderen Perspektive werden gleichzeitig die Arbeitgeber und ihre skrupellosen Machenschaften dargestellt. Es geht hier also um eine Kritik an der Ausbeutung von Fremdarbeitern. Der Erzählton ist grob, hart und direkt.

 

„From Hell“

Michail Semjonowitsch, ein Geologe auf Forschungsreise in Sibieren, entdeckt bei seinen Bohrungen zufällig die Unterwelt und trifft auf ein unheimliches Monster. In Moskau droht man ihm mit der Psychiatrie, sollte er seine Entdeckung publik machen. Eingeflochten in diese sehr gelungene Erzählung sind kursiv gedruckte Passagen zu Medienberichten des russischen Fernsehens, in denen die mediale Beeinflussung der Bevölkerung satirisch aufs Korn genommen wird. Gleichzeitig wird eine Kritik an den Zuständen der Sowjetunion deutlich, in der Systemkritiker dadurch mundtot gemacht wurden, dass man ihnen psychische Krankheiten attestierte.

Bevor Semjonowitsch seine Arbeiten publik machen kann und einen Vortrag hält, erhält er plötzlich und unerwartet einen Anruf vom Gazprom-Konzern, der ihm einen neuen Job anbieten. Doch der Geologe bleibt standhaft. Es geht ihm um die Wahrheit, doch er wird nur verlacht. Auch hierin steckt natürlich eine bissige Kritik am Unternehmen. Sehr amüsant ist hierbei auch die Anspielung auf Faust. So erhält ein Mitarbeiter von Gazprom mephistophelische Züge. Gazprom steht in direkter Verbindung mit der Hölle. Diese liefert das Gas für das Staatsunternehmen. Diese Erzählung hat mir sehr gut gefallen.

 

„Vor der Flaute“

In dieser Geschichte geht es darum, dass ein erfolgreicher Moderator aufgrund von Erfolglosigkeit abgesetzt werden soll. Die neue Programmpolitik konzentriert sich auf die Themen „Sex“, „Tod“ und „Geld“, da sei für Wladimir Bogow mit seiner Sendung kein Platz mehr. Im Zentrum steht hier also die Medienkritik. Herzhaft lachen musste ich bei der Metapher des Heißluftballons. Der abgesetzte Moderator entwickelt daraufhin ein neues Konzept für seine Sendung, um damit seinen eigenen Job zu sichern. Bezeichnenderweise trägt die neue Sendung dann den schlagkräftigen Titel „Keilerei“. Letztlich wird gut deutlich, dass der Autor hier einerseits die Propaganda, die in den Medien betrieben wird, kritisiert, und andererseits ihre Verrohung.

 

Was mir gut an den Erzählungen von Glukhovsky gefallen hat, sind die zahlreichen intertextuellen und intermedialen Anspielungen, die immer einmal wieder vorkommen. Natürlich kann man die Lektüre seines Buchs mehr genießen, wenn man etwas landeskundliche Kenntnisse besitzt und weiß, wie sich die russische Gesellschaft in den letzten Jahren entwickelt hat. So sollte man bei dem Text „Vor der Flaute“ (S. 57-77) beispielsweise wissen, wer Boris Nemzov und Wladimir Schirinowski sind. Sonst versteht man die versteckten Anspielungen nicht. Als Ergänzung zu dieser Anthologie kann ich wärmstens das Sachbuch „Die Wahrheit ist der Feind“ von Golineh Atai empfehlen (vgl. dazu eine frühere Rezension). Atai verweist z.B. auch darauf, dass der Ton in den Medien insgesamt aggressiver geworden sei.

 

In den anderen Erzählungen werden weitere wichtige Themen angeschnitten, die ein facettenreiches Bild der russischen Gesellschaft zeichnen: Korruption im Polizeiwesen (Erzählung „Eine gute Sache“), Kritik am Personenkult um den Premierminister und um den Präsidenten (Erzählung „Die wichtigste Nachricht“), Kritik am Verhalten von russischen Diplomaten im Ausland (Erzählung „Utopia“), Kritik am von oben verordneten Patriotismus (Erzählung „Eine für alle“), Alkoholismus (Erzählung „Am Boden“), Wahlbetrug (Erzählung „Ex machina“), Seilschaften und Vetternwirtschaft (Erzählung „Appell“), Kritik am russischen Rechtssystem (Erzählung „Telefonjustiz“), Bestechlichkeit (Erzählung „Die Offenbarung“), Kritik an Arbeitsbedingungen (Erzählung „Schwefel“) und nicht zuletzt eine Kritik am Gesundheitssystem (Erzählung „Ein Jahr wie drei“),

 

Darüber hinaus ist auch die bildhafte Sprache, die der Autor an vielen Stellen verwendet, lobenswert. Über die kreative Sprachgestaltung, besonders in Form von interessanten Personifikationen, musste ich des Öfteren schmunzeln. Punktuell sind die verwendeten Bilder aber auch einmal recht anzüglich („Die gealterte, aufgehübschte Twerskaja streckte ihre steinernen Schenkel vor ihnen aus, die Limousine bretterte über den Roten Platz (…) Die Limousine penetrierte die Kremlmauer (…) und so landete Iwan Wladimirowitsch im Kreml wie ein einsames, völlig verblüfftes Spermatozoid in einem Präservativ aus Stein“, S. 247). Auch vor Tabubrüchen schreckt der Autor bei seinen Seitenhieben nicht zurück (vgl. z.B. S. 274). In einigen Erzählungen finden sich zudem Science-Fiction-Elemente. Auch das empfand ich als sehr kreativ.

 

Fazit

Die Anthologie vereint zahlreiche Erzählungen, die einen bitterbösen Erzählton aufweisen und eine schonungslose und harte Abrechnung mit der russischen Gesellschaft darstellen. Es gibt einige erzählerische Highlights. Die Geschichte, die mir am besten gefallen hat, trägt den Titel „From Hell“. Auch die bildhafte Sprachgestaltung hat mich bestens unterhalten. Ich vergebe 4 Sterne! Warum nicht 5 Sterne? In meinen Augen sind nicht alle Geschichten gleich gut. Auch versteht man in einigen Erzählungen die Anspielungen ohne Hintergrundwissen nicht immer angemessen. Hier hätte ich einen Anhang mit Erläuterungen hilfreich gefunden.

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