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Montag, 15. August 2022

Enzensberger, Theresia - Auf See


4 von 5 Sternen


Intellektuelle Dechiffrierarbeit

Wer gerne einen experimentellen und ungewöhnlichen Roman lesen möchte, der ist bei „Auf See“ von Theresia Enzensberger genau richtig. Die besondere Leistung der Autorin besteht in meinen Augen darin, dass sie auf eine Montagetechnik zurückgreift, die ich in der Form so noch nicht gelesen habe. In erzähltechnischer Hinsicht finde ich dieses literarische Experiment gelungen und innovativ.

In die Haupthandlung, über die ich an dieser Stelle nicht zu viel verraten will, zumal der Klappentext alles Wichtige dazu verrät, werden sogenannte „Archiv-Kapitel“ integriert, die assoziativ und leitmotivisch miteinander verbunden sind. So entsteht eine Art Collage. Über die Frage, ob es sich aber tatsächlich um eine Montage handelt und ob die von Enzensberger gewählte Form von der klassischen Montage-Technik im Stile eines Alfred Döblin abweicht, darüber sollen sich die Literaturwissenschaftler streiten. Das soll im Rahmen dieser Rezension nicht weiter vertieft werden. Nach meiner Ansicht lehnt sich die Autorin hier an die Leitmotivmontage und assoziative Montage an, wie man sie aus Filmen kennt.

Der inhaltliche Zusammenhang zwischen den Archiv-Kapiteln und zwischen der Haupthandlung und diesen Kapiteln muss dann in einer Art intellektueller Dechiffrierarbeit vom Leser/von der Leserin erschlossen werden. So finden wir z.B. einen Text zu Hintergründen über Gregor MagGregor, einem Hochstapler aus dem 19. Jh. In einem weiteren Archiv-Kapitel erfahren wir etwas über die Insel Ascension, auf der im 19. Jh. durch Charles Darwin und Joseph Hooker eine Art Terraforming-Projekt durchgeführt wurde. Auch lernen wir in einer kurzen Skizze Leicester Hemingway kennen, den Bruder von Ernest Hemingway. In einem weiteren Archiv-Kapitel wird uns die Republik Nauru mitsamt ihrer Kolonialgeschichte nähergebracht. Die Scientology-Sekte wird ebenfalls in den Blick genommen. Die Entstehung des Neoliberalismus wird dargestellt. Und nicht zuletzt geht es um die Geschichte der Piratenkommune Libertatia. Letztlich kann man viele Parallelen zum Leben auf der Seestatt und zu Yadas Vater ziehen. Allerdings muss man sich auf diese Art von Lektüre einlassen wollen. Es ist schon durchaus herausfordernd, den einzelnen Textkomponenten einen Sinn zu entnehmen, ihnen einen Zusammenhang zu verleihen und sie mit der Haupthandlung in Beziehung zu setzen. Es ist also kein Buch, das man mal eben so schnell herunterliest. Ich empfand die Lektüre eher als eine intellektuelle Anregung, man lernt einiges dazu. Aber ich musste schon in Stimmung dazu sein.

Auch wenn ich die Erzähltechnik anspruchsvoll, innovativ und absolut anerkennenswert finde, sie ist die große Stärke des Buchs, so kann ich diesem Werk keine 5 Sterne geben. Dafür war die Darstellung der Haupthandlung einfach zu schwach, mit Ausnahme der Zäsur in der Mitte des Buchs. Sie hatte für mich zu wenig Triebkraft, ich hatte zu wenig offene Fragen im Kopf, vieles fand ich auch zu nebulös und vage dargestellt. Den Schreibstil empfand ich als zu nüchtern und zu pragmatisch-sachlich. Die Figurenzeichnung von Yada, von ihrem Vater und von Helena war mir zu hölzern, zu distanziert, zu wenig greifbar. Auch den Blickwinkel von Helena habe ich über lange Zeit als zu sperrig und zu wenig kontextualisiert wahrgenommen. Die Perspektive von Yada fand ich viel lesbarer. Die Darstellung der Beziehungsverhältnisse zwischen den Figuren hat mich nicht berührt. Mir fehlte auch eine weitere Vertiefung der Vater-Tochter-Beziehung. Das Lesen löste grundsätzlich zu wenige Emotionen bei mir aus. Auch die vielen Perspektivwechsel am Ende des Buchs fand ich unpassend. Mir fehlten genauere Beschreibungen der Handlungsorte, es kommt keine Atmosphäre auf. Weder die Seestatt noch das Festland werden sonderlich detailliert dargestellt. Bei mir wollte bei der Lektüre der Funke einfach nicht so recht überspringen, das mag anderen Leser:innen anders gehen. Für mich geht der Einsatz der Montageetechnik zu sehr auf Kosten der Haupthandlung.

 

Fazit

Dieses Buch ist für solche Leser:innen geeignet, die intellektuell gefordert werden wollen und nicht vor Dechiffrierarbeit zurückschrecken. Die Erzähltechnik der Montage wird gekonnt eingesetzt, sie ist die große Stärke des Buchs. Aber sie ist auch herausfordernd. Leider konnte mich die Haupthandlung nicht überzeugen. Deshalb nur 4 Sterne, nur knapp an den 3 Sternen vorbei.

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