Intellektuelle Dechiffrierarbeit
Wer
gerne einen experimentellen und ungewöhnlichen Roman lesen möchte, der ist bei
„Auf See“ von Theresia Enzensberger genau richtig. Die besondere Leistung der
Autorin besteht in meinen Augen darin, dass sie auf eine Montagetechnik
zurückgreift, die ich in der Form so noch nicht gelesen habe. In
erzähltechnischer Hinsicht finde ich dieses literarische Experiment gelungen
und innovativ.
In
die Haupthandlung, über die ich an dieser Stelle nicht zu viel verraten will,
zumal der Klappentext alles Wichtige dazu verrät, werden sogenannte
„Archiv-Kapitel“ integriert, die assoziativ und leitmotivisch miteinander
verbunden sind. So entsteht eine Art Collage. Über die Frage, ob es sich aber
tatsächlich um eine Montage handelt und ob die von Enzensberger gewählte Form
von der klassischen Montage-Technik im Stile eines Alfred Döblin abweicht,
darüber sollen sich die Literaturwissenschaftler streiten. Das soll im Rahmen
dieser Rezension nicht weiter vertieft werden. Nach meiner Ansicht lehnt sich
die Autorin hier an die Leitmotivmontage und assoziative Montage an, wie man
sie aus Filmen kennt.
Der
inhaltliche Zusammenhang zwischen den Archiv-Kapiteln und zwischen der
Haupthandlung und diesen Kapiteln muss dann in einer Art intellektueller
Dechiffrierarbeit vom Leser/von der Leserin erschlossen werden. So finden wir
z.B. einen Text zu Hintergründen über Gregor MagGregor, einem Hochstapler aus
dem 19. Jh. In einem weiteren Archiv-Kapitel erfahren wir etwas über die Insel
Ascension, auf der im 19. Jh. durch Charles Darwin und Joseph Hooker eine Art
Terraforming-Projekt durchgeführt wurde. Auch lernen wir in einer kurzen Skizze
Leicester Hemingway kennen, den Bruder von Ernest Hemingway. In einem weiteren
Archiv-Kapitel wird uns die Republik Nauru mitsamt ihrer Kolonialgeschichte
nähergebracht. Die Scientology-Sekte wird ebenfalls in den Blick genommen. Die
Entstehung des Neoliberalismus wird dargestellt. Und nicht zuletzt geht es um
die Geschichte der Piratenkommune Libertatia. Letztlich kann man viele
Parallelen zum Leben auf der Seestatt und zu Yadas Vater ziehen. Allerdings
muss man sich auf diese Art von Lektüre einlassen wollen. Es ist schon durchaus
herausfordernd, den einzelnen Textkomponenten einen Sinn zu entnehmen, ihnen
einen Zusammenhang zu verleihen und sie mit der Haupthandlung in Beziehung zu
setzen. Es ist also kein Buch, das man mal eben so schnell herunterliest. Ich
empfand die Lektüre eher als eine intellektuelle Anregung, man lernt einiges
dazu. Aber ich musste schon in Stimmung dazu sein.
Auch
wenn ich die Erzähltechnik anspruchsvoll, innovativ und absolut anerkennenswert
finde, sie ist die große Stärke des Buchs, so kann ich diesem Werk keine 5
Sterne geben. Dafür war die Darstellung der Haupthandlung einfach zu schwach,
mit Ausnahme der Zäsur in der Mitte des Buchs. Sie hatte für mich zu wenig
Triebkraft, ich hatte zu wenig offene Fragen im Kopf, vieles fand ich auch zu
nebulös und vage dargestellt. Den Schreibstil empfand ich als zu nüchtern und
zu pragmatisch-sachlich. Die Figurenzeichnung von Yada, von ihrem Vater und von
Helena war mir zu hölzern, zu distanziert, zu wenig greifbar. Auch den
Blickwinkel von Helena habe ich über lange Zeit als zu sperrig und zu wenig
kontextualisiert wahrgenommen. Die Perspektive von Yada fand ich viel lesbarer.
Die Darstellung der Beziehungsverhältnisse zwischen den Figuren hat mich nicht
berührt. Mir fehlte auch eine weitere Vertiefung der Vater-Tochter-Beziehung. Das
Lesen löste grundsätzlich zu wenige Emotionen bei mir aus. Auch die vielen
Perspektivwechsel am Ende des Buchs fand ich unpassend. Mir fehlten genauere
Beschreibungen der Handlungsorte, es kommt keine Atmosphäre auf. Weder die
Seestatt noch das Festland werden sonderlich detailliert dargestellt. Bei mir
wollte bei der Lektüre der Funke einfach nicht so recht überspringen, das mag
anderen Leser:innen anders gehen. Für mich geht der Einsatz der Montageetechnik
zu sehr auf Kosten der Haupthandlung.
Fazit:
Dieses Buch ist für solche Leser:innen geeignet, die intellektuell gefordert
werden wollen und nicht vor Dechiffrierarbeit zurückschrecken. Die
Erzähltechnik der Montage wird gekonnt eingesetzt, sie ist die große Stärke des
Buchs. Aber sie ist auch herausfordernd. Leider konnte mich die Haupthandlung
nicht überzeugen. Deshalb nur 4 Sterne, nur knapp an den 3 Sternen vorbei.
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