Geschichte einer Außenseiterin
Der
Debutroman „Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens ist zu einem Welterfolg
geworden. Seit drei Jahren ist es eines der erfolgreichsten Bücher überhaupt,
immer in den Bestsellerlisten zu finden. Im August 2022 startet noch dazu die
Verfilmung. An mir ist dieser Hype bisher völlig vorbei gegangen. Ein Grund für
mich, mir das Buch einmal genauer anzuschauen und herauszufinden, was es so
erfolgreich macht.
Ein
Grund für den Erfolg könnte sein, dass es beim Lesen viele Emotionen auslöst.
Im Zentrum steht eine Außenseiterin namens Kya, die mit einem gewalttätigen
Vater aufwächst. Nach und nach wird sie erst von ihrer Mutter, dann von ihren
Geschwistern verlassen und muss sich mit dem Vater allein herumschlagen. Das
löst Betroffenheit und Mitleid beim Leser/ bei der Leserin aus. Im Alter von 10
Jahren überlässt der Vater Kya sich selbst, verschwindet spurlos und Kya wird
zur Selbstversorgerin, sie schlägt sich alleine durch, muss sich in der Marsch
behaupten und ihr Leben bestreiten. Auch hier verfolgt man das Schicksal des
Mädchens mit einer Mischung aus Mitgefühl und Ergriffenheit. Und man ist
dankbar dafür, dass sei auf so ehrliche Leute wie Jumpin und Mable trifft, die
ihr helfen und sie nicht ausgrenzen wie andere.
Die
nächsten großen Gefühle bei der Lektüre werden dadurch ausgelöst, dass Kya mit
dem anderen Geschlecht in Berührung kommt. Hier haben wir zwei interessante
männliche Kontrastfiguren: Den einfühlsamen, sanften und rücksichtsvollen,
fürsorglichen Tate einerseits und den ungestümen und durchtriebenen Chase
andererseits. Man wünscht sich als Leser:in für Kya das Beste und hofft, dass
sie ihr Glück findet und man möchte sie warnen vor naiven Entscheidungen. Ich
bin eigentlich kein Freund von Liebesgeschichten, aber ich muss gestehen, dass
diese hier mich schon bewegt hat. Die Darstellung der Beziehung zu Tate war
nicht kitschig, sondern gefühlvoll und romantisch. Und bei Chase fragt man sich
die ganze Zeit, welche Absichten er verfolgt und ob er es ehrlich mit ihr meint.
Aber ich bin dennoch froh, dass die Liebesgeschichte(n) in diesem Buch die
Handlung nicht zu sehr dominiert haben. Die Familiengeschichte zu Beginn und die
Krimielemente zwischendurch sorgen meines Erachtens für genügend Abwechslung,
so dass es sich nicht um einen reinen Liebesroman handelt.
Die
nächsten großen Emotionen bei der Lektüre werden dann ausgelöst, als Kya unter
Mordverdacht gerät. Man möchte auf der einen Seite wissen, was passiert ist,
warum und auf welche Weise Chase umgekommen ist, aber man möchte auch daran
glauben, dass Kya unschuldig ist und wünscht sich Gerechtigkeit für dieses arme
Mädchen, die von ihrer Umwelt so achtlos behandelt wird.
Ein
weiteres Erfolgsrezept dieses Werks könnte also sein, dass es sich nicht an
Genregrenzen hält und damit für Abwechslung sorgt. Hier werden
Liebesgeschichte, Krimi und Gerichtsdrama miteinander verquickt. Hatte ich am
Anfang noch die Sorge, dass es sich lediglich um eine Liebegeschichte mit
Krimielementen handelt, so bin ich doch zufrieden gewesen, als es auf den
letzten 140 Seiten, also ab Kapitel 38, zu einer Zäsur kommt und ein spannender,
mitreißender Gerichtsprozess dargelegt wird, in den dann auch immer wieder interessante
und aufschlussreiche Rückblenden integriert werden. Von diesem Zeitpunkt an
wird auch das Tempo höher, die Kapitel werden kürzer. Das hat mir gut gefallen.
Grundsätzlich finde ich die erzählerische Gestaltung gelungen. Am Anfang werden
immer wieder Kapitel zu den Mordermittlungen eingebaut, am Ende sind es dann
die Rückblenden, die Ereignisse rund um die Mordgeschehnissen beleuchten. Das
ist gut gemacht, sorgt für Auflockerung und dafür, dass man als Leser:in
mitfiebert.
Nicht
zuletzt möchte ich erwähnen, dass auch die atmosphärischen Beschreibungen der
Umgebung gelungen und anschaulich sind. Die Marschlandschaft wird gut und bildhaft
eingefangen. Man kann sich die Handlungsorte gut vorstellen. Die Naturbeschreibungen
sind detailliert und facettenreich. Toll! Das findet man auch nicht in jedem
Roman in dieser Qualität.
Letztlich
findet man also viele Gründe dafür, warum dieser Roman so erfolgreich sein
könnte. Ich kann die Begeisterung für dieses Werk nachvollziehen. Lediglich
einen kleinen Kritikpunkt hätte ich anzubringen: Das Ende war mir zu
vorhersehbar. Das hat mich aber nicht so gestört, dass ich dafür jetzt einen
Stern abziehen würde.
Fazit:
Ein Buch mit einer starken, außergewöhnlichen Hauptfigur, das Emotionen beim
Lesen auslöst. Kya ist die meiste Zeit über in der Opferrolle, sie wird
ausgegrenzt und schlecht behandelt, man leidet mit ihr mit, wünscht sich
Gerechtigkeit für sie und hofft, dass sie ihr Glück findet. Gleichzeitig ist
man beeindruckt davon, wie selbstständig sie ihr Leben in der Marsch meistert,
auch wenn dieses völlig andersartig ist. Das Werk emotionalisiert und bewegt.
Es überschreitet dabei Genregrenzen und ist in erzähltechnischer Hinsicht gelungen
gestaltet. Auch die Atmosphäre der Marschlandschaft wird sehr gut beschrieben. Ein
tolles Buch, das ich auf jeden Fall weiterempfehlen kann, auch wenn das Ende
etwas vorhersehbar ist. 5 Sterne!
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