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Donnerstag, 7. Juli 2022

Bervoets, Hanna - Dieser Beitrag wurde entfernt


5 von 5 Sternen


Die Offenlegung eines „kranken“ Systems

Gute Literatur schafft es in meinen Augen, zum Reflektieren anzuregen und Fremdverstehen zu fördern. Noch dazu mag ich es, wenn sie eine gesellschaftspolitische Relevanz hat. Hanna Bervoets legt mit ihrem Werk „Dieser Beitrag wurde entfernt“ einen Roman vor, der diese Anforderungen erfüllt. In einer verdichteten Schreibweise mit hoher Intensität schildert sie am Beispiel von Kayleigh und ihrer Freundin Sigrid die belastende Tätigkeit im Bereich der Content-Moderation und zeigt auf, wie sich die Beschäftigung mit gewalthaltigen Inhalten auf die Betroffenen auswirkt. Gezeigt wird eine abschreckende und verstörende Arbeitswelt.

Die Darstellung der Arbeitsbedingungen wirkt sehr realistisch. Der unglaubliche Leistungsdruck und die übergriffige Überwachung der Mitarbeiter:innen wird gut deutlich. Psychologische Unterstützung fehlt weitestgehend. Ich war geschockt und habe mich darüber gewundert, dass die Angestellten das mit sich machen lassen und so wenig hinterfragen. In ihrem Nachwort macht die Autorin deutlich, dass sie sorgfältig für ihren Roman recherchiert hat. Sie führt weiterführende Literatur zu dem Thema an. Auf diese Weise wirkt ihr Werk fast dokumentarisch, der Inhalt bleibt aber natürlich fiktiv. Im Zentrum steht nicht die Charakterzeichnung und -entwicklung, im Zentrum steht die Offenlegung eines „kranken“ Systems, in dem jeder einzelne leidet. Der Roman ähnelt eher einer soziologischen Studie, in der die Missstände aufgezeigt werden.

Auch die erzählerische Gestaltung verleiht dem Ganzen ein hohes Maß an Authentizität. Die Ich-Erzählerin adressiert in einer Art Erlebnisbericht in Form eines Briefs einen Anwalt. Das fand ich sehr passend und gelungen! Auch wenn die näheren Umstände des Falls und was letztlich daraus wird im Dunkeln bleiben. Das fand ich zwar schade, kann aber nachvollziehen, dass die Autorin hier lieber eine Leerstelle entstehen lassen wollte.

Der Einstieg in den Roman erfolgt unmittelbar, man ist sofort mittendrin im Geschehen. Und man wird auch sofort mitgerissen, weil man wissen will, was der Protagonistin passiert ist, was sie erlebt hat, warum sie gekündigt hat. Und ich habe das Buch mit einer großen Anspannung gelesen. Immer wieder musste ich innehalten, um das Gelesene zu verarbeiten. Man ist als Leser sehr gefordert, viele Stellen verstören durch die konkrete Erwähnung von gewalthaltigen Inhalten. Es gibt immer wieder Schockmomente beim Lesen. In diesem Zusammenhang habe ich mich schon gefragt, ob das wirklich sein muss, ob diese Drastik gerechtfertigt ist. Oder bedient die Autorin gar mit den schockierenden Beispielen den Voyeurismus der Leser:innen? Ist das bedenklich? Meiner Meinung nach wäre eine Schonung der Leserschaft hier fehl am Platze. Denn erst durch die Erwähnung dieser Beispiele wird der Kontrast zu den absurden Richtlinien richtig deutlich.

Als verstörend habe ich beim Lesen empfunden, dass es bei der Beurteilung von gewalthaltigen medialen Inhalten als Content-Moderator weniger um den Inhalt selbst geht, als vielmehr um das Überprüfen von Richtlinien. Und diese Richtlinien sind nicht unbedingt in sich konsistent und logisch. Offensichtlich gewalthaltigen Inhalten wird die Anstößigkeit abgesprochen, weil sie den absurden Richtlinien noch entsprechen.

Gleichzeitig wird deutlich, wie sich die moralischen Maßstäbe und die Wirklichkeitswahrnehmung der Mitarbeitenden verschieben. Der innere Kompass gerät aus dem Gleichgewicht. Eine Verrohung in der Belegschaft ist die Folge. So wird z.B. deutlich, dass Sprache aus dem zu sichtenden Material in den eigenen Sprachgebrauch übernommen wird. Einige glauben plötzlich an Verschwörungstheorien. Gleichzeitig ist beängstigend, dass die Protagonistin so wenig in Frage stellt. Ihr geht es in erster Linie darum, Ziele zu erfüllen und die Richtlinien korrekt anzuwenden. Sie scheint das Gesehene gar nicht groß an sich heranzulassen, verdrängt es lieber und flüchtet sich stattdessen in Alkohol und Sex. Ihre Freundin Sigrid reagiert da anders. Ihr psychischer Zustand verschlechtert sich zusehends. Und es ist gut, dass die Autorin hier einen Kontrast zwischen den beiden Figuren angelegt hat, um zu einer differenzierteren psychologischen Darstellung der Folgen der Tätigkeit zu gelangen.

Zum Ende hin werden die Handlungsweisen der Figuren zunehmend irrationaler. Man ist als Leser:in sehr gefordert, sich den Sinn und den Zusammenhang zu erschließen. Vieles bleibt nebulös und unausgesprochen. Das wird nicht jede/r mögen. Auch bleibt viel offen, am Ende hatte ich mehr Fragen als Antworten im Kopf, mit denen ich mich allein gelassen fühlte. Das hat mich aber nicht so gestört, dass ich dafür einen Stern abziehen würde.

 

Fazit: 

Ein Roman, der seine Leserschaft fordert. Es ist ein schwieriges Thema, dass die Autorin hier behandelt, aber sie macht es in meinen Augen sehr gut. Ich empfehle das Buch solchen Leserinnen und Lesern weiter, die bereit sind, sich damit auseinanderzusetzen, wie der Konsum gewalthaltiger Medien sich auf Betroffene auswirkt, und die sich auch von einigen schockierenden Beispielen, die zur Veranschaulichung dienen, nicht abschrecken lassen. Auch sollte man sich darauf einlassen können, die Offenheit des Werks auszuhalten. Ich vergebe 5 Sterne und spreche eine Empfehlung aus. Denn ich mag Literatur mit gesellschaftspolitischer Relevanz, die zum Nachdenken anregt.

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