Die Offenlegung eines „kranken“ Systems
Gute
Literatur schafft es in meinen Augen, zum Reflektieren anzuregen und
Fremdverstehen zu fördern. Noch dazu mag ich es, wenn sie eine
gesellschaftspolitische Relevanz hat. Hanna Bervoets legt mit ihrem Werk „Dieser
Beitrag wurde entfernt“ einen Roman vor, der diese Anforderungen erfüllt. In
einer verdichteten Schreibweise mit hoher Intensität schildert sie am Beispiel
von Kayleigh und ihrer Freundin Sigrid die belastende Tätigkeit im Bereich der
Content-Moderation und zeigt auf, wie sich die Beschäftigung mit gewalthaltigen
Inhalten auf die Betroffenen auswirkt. Gezeigt wird eine abschreckende und
verstörende Arbeitswelt.
Die
Darstellung der Arbeitsbedingungen wirkt sehr realistisch. Der unglaubliche
Leistungsdruck und die übergriffige Überwachung der Mitarbeiter:innen wird gut
deutlich. Psychologische Unterstützung fehlt weitestgehend. Ich war geschockt
und habe mich darüber gewundert, dass die Angestellten das mit sich machen
lassen und so wenig hinterfragen. In ihrem Nachwort macht die Autorin deutlich,
dass sie sorgfältig für ihren Roman recherchiert hat. Sie führt weiterführende
Literatur zu dem Thema an. Auf diese Weise wirkt ihr Werk fast dokumentarisch, der
Inhalt bleibt aber natürlich fiktiv. Im Zentrum steht nicht die
Charakterzeichnung und -entwicklung, im Zentrum steht die Offenlegung eines „kranken“
Systems, in dem jeder einzelne leidet. Der Roman ähnelt eher einer
soziologischen Studie, in der die Missstände aufgezeigt werden.
Auch
die erzählerische Gestaltung verleiht dem Ganzen ein hohes Maß an
Authentizität. Die Ich-Erzählerin adressiert in einer Art Erlebnisbericht in
Form eines Briefs einen Anwalt. Das fand ich sehr passend und gelungen! Auch
wenn die näheren Umstände des Falls und was letztlich daraus wird im Dunkeln
bleiben. Das fand ich zwar schade, kann aber nachvollziehen, dass die Autorin
hier lieber eine Leerstelle entstehen lassen wollte.
Der
Einstieg in den Roman erfolgt unmittelbar, man ist sofort mittendrin im
Geschehen. Und man wird auch sofort mitgerissen, weil man wissen will, was der
Protagonistin passiert ist, was sie erlebt hat, warum sie gekündigt hat. Und
ich habe das Buch mit einer großen Anspannung gelesen. Immer wieder musste ich
innehalten, um das Gelesene zu verarbeiten. Man ist als Leser sehr gefordert,
viele Stellen verstören durch die konkrete Erwähnung von gewalthaltigen
Inhalten. Es gibt immer wieder Schockmomente beim Lesen. In diesem Zusammenhang
habe ich mich schon gefragt, ob das wirklich sein muss, ob diese Drastik
gerechtfertigt ist. Oder bedient die Autorin gar mit den schockierenden
Beispielen den Voyeurismus der Leser:innen? Ist das bedenklich? Meiner Meinung
nach wäre eine Schonung der Leserschaft hier fehl am Platze. Denn erst durch
die Erwähnung dieser Beispiele wird der Kontrast zu den absurden Richtlinien
richtig deutlich.
Als
verstörend habe ich beim Lesen empfunden, dass es bei der Beurteilung von
gewalthaltigen medialen Inhalten als Content-Moderator weniger um den Inhalt
selbst geht, als vielmehr um das Überprüfen von Richtlinien. Und diese
Richtlinien sind nicht unbedingt in sich konsistent und logisch. Offensichtlich
gewalthaltigen Inhalten wird die Anstößigkeit abgesprochen, weil sie den
absurden Richtlinien noch entsprechen.
Gleichzeitig
wird deutlich, wie sich die moralischen Maßstäbe und die
Wirklichkeitswahrnehmung der Mitarbeitenden verschieben. Der innere Kompass
gerät aus dem Gleichgewicht. Eine Verrohung in der Belegschaft ist die Folge. So
wird z.B. deutlich, dass Sprache aus dem zu sichtenden Material in den eigenen
Sprachgebrauch übernommen wird. Einige glauben plötzlich an
Verschwörungstheorien. Gleichzeitig ist beängstigend, dass die Protagonistin so
wenig in Frage stellt. Ihr geht es in erster Linie darum, Ziele zu erfüllen und
die Richtlinien korrekt anzuwenden. Sie scheint das Gesehene gar nicht groß an
sich heranzulassen, verdrängt es lieber und flüchtet sich stattdessen in Alkohol
und Sex. Ihre Freundin Sigrid reagiert da anders. Ihr psychischer Zustand
verschlechtert sich zusehends. Und es ist gut, dass die Autorin hier einen
Kontrast zwischen den beiden Figuren angelegt hat, um zu einer differenzierteren
psychologischen Darstellung der Folgen der Tätigkeit zu gelangen.
Zum
Ende hin werden die Handlungsweisen der Figuren zunehmend irrationaler. Man ist
als Leser:in sehr gefordert, sich den Sinn und den Zusammenhang zu erschließen.
Vieles bleibt nebulös und unausgesprochen. Das wird nicht jede/r mögen. Auch
bleibt viel offen, am Ende hatte ich mehr Fragen als Antworten im Kopf, mit
denen ich mich allein gelassen fühlte. Das hat mich aber nicht so gestört, dass
ich dafür einen Stern abziehen würde.
Fazit:
Ein Roman, der seine Leserschaft fordert. Es ist ein schwieriges Thema, dass
die Autorin hier behandelt, aber sie macht es in meinen Augen sehr gut. Ich
empfehle das Buch solchen Leserinnen und Lesern weiter, die bereit sind, sich
damit auseinanderzusetzen, wie der Konsum gewalthaltiger Medien sich auf
Betroffene auswirkt, und die sich auch von einigen schockierenden Beispielen,
die zur Veranschaulichung dienen, nicht abschrecken lassen. Auch sollte man
sich darauf einlassen können, die Offenheit des Werks auszuhalten. Ich vergebe
5 Sterne und spreche eine Empfehlung aus. Denn ich mag Literatur mit
gesellschaftspolitischer Relevanz, die zum Nachdenken anregt.
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