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Donnerstag, 23. März 2023

Furre, Heidi - Macht


4 von 5 Sternen


Innere Echokammer


Der Roman „Macht“ ist das Debut von der norwegischen Autorin Heidi Furre und widmet sich sehr eindringlich dem Thema „sexualisierte Gewalt“. Im Zentrum steht ausschließlich die Protagonistin Liv, die gedanklich völlig von dem Trauma, das sie erlebt hat, vereinnahmt wird. Nach außen wahrt sie den Schein und funktioniert, doch in ihr drinnen sieht es dramatisch aus. Sie macht auf mich einen depressiven Eindruck und zeichnet sich durch Emotionslosigkeit aus. Dieser Zustand wird durch die sprachliche Gestaltung des Romans noch unterstrichen. Liv beschreibt ihren Tagesablauf sachlich, nüchtern, distanziert, in einer Art Protokollstil. Zwischen innen und außen scheint eine unsichtbare Mauer zu existieren, auf mich wirkt Liv oft teilnahmslos und unbeteiligt. Ihren Job als Altenpflegerin übt sie mehr mit Pflichtbewusstsein als mit Leidenschaft aus. Ihr Blick auf die Patienten ist reserviert. Sie funktioniert lediglich und fügt sich den zu erledigenden Alltagsroutinen. Nach außen demonstriert sie ein gewisses Maß an Normalität. Und ihr Umfeld scheint von ihrem krisenhaften inneren Zustand überhaupt nichts mitzubekommen, vor allem ihr Mann nicht.

 

Das Innenleben der Protagonistin nimmt viel Raum ein. Und die vielen Gedanken zum Ausdruck zu bringen und das Gedankenkreisen um immer das gleiche Thema zu gestalten, das ist anspruchsvoll. Da ziehe ich vor der Autorin meinen Hut. Die Gedanken von Liv kreisen um sie selbst, Beziehungen zu anderen Figuren werden so gut wie gar nicht geschildert, was ich etwas schade fand. Aber es ist klar, warum die Autorin diesen Weg der Beschreibung gewählt hat. Es wird auf diese Weise deutlich, dass Liv traumatisiert ist und immer noch in der Opferrolle verharrt und sich aus ihrem inneren Gefängnis nicht befreien kann. Die Erinnerung an das Geschehene vereinnahmt sie völlig. Erschütternd! Kritische Leser:innen mögen beanstanden, dass sich der Inhalt recht schleppend liest und dass sich vieles wiederholt. Und ja, die Lektüre ist anstrengend. Das Thema der Vergewaltigung kehrt immer wieder und das erlebte Trauma wird immer wieder in neue Worte gekleidet und vertieft. Doch ich bin mir sicher, dass die Autorin dies bewusst so gestaltet hat, um das Gedankenkarrussell von Liv auf diese Weise zu veranschaulichen. Die Erinnerung lässt sie nicht los, verfolgt sie. Sie lässt sich einfach nicht unterdrücken. Und das wiederum ist realistisch!

 

Als Leser:innen sind wir sehr stark an die Perspektive von Liv gewunden. Was um sie herum passiert, das bekommt man kaum mit. Zu sehr ist sie mit ihrem inneren Erleben beschäftigt. Der innere Monolog überwiegt, die Selbstreflexion nimmt viel Raum ein. Die Auseinandersetzung mit den vergangenen Dämonen ist das, was den Roman ausmacht. Darauf muss man sich einlassen wollen. Keine leichte Lektüre. Auf Dauer ist die Lektüre schon auch anstrengend. Kritische Leser:innen mögen bemängeln, dass auf diese Weise das Thema „sexualisierte Gewalt“ womöglich überreizt wird. Auch wird der ein- oder andere Leser womöglich kritisieren, dass es unrealistisch ist, dass Livs Umwelt von ihrem inneren Zustand nichts mitbekommt. Doch ich würde diesen Kritikpunkten widersprechen. Erst durch das immer Wiederkehrende wird klar, wie sehr Liv in der Opferrolle verharrt. Und tatsächlich ist es bei psychischen Krisen häufig so, dass das unmittelbare Umfeld nichts mitbekommt, weil die Betroffenen nach außen den Schein wahren. Natürlich habe ich mir auch gewünscht, dass Liv Hilfe erhält. Aber die Initiative dafür muss von ihr selbst ausgehen.

 

Im Klappentext ist von einem „Befreiungsschlag“ der Protagonistin die Rede. Soweit würde ich nicht gehen. Man merkt zwar Liv an, dass sie sich nicht länger mit ihrer Opferrolle zufrieden geben will. Sie stellt Überlegungen an, wie sie selbst die Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnt und sie stellt erste Schritte dazu an. Aber von einer Befreiung ist sie noch weit entfernt. Deshalb hat mich das Ende auch etwas unbefriedigt zurückgelassen. Ich fand es wenig hoffnungsvoll. Für mich hat Liv noch einen sehr langen Weg vor sich, bis ihre Wunden heilen. Hier hätte ich mir eine andere Botschaft gewünscht. Das innere Leiden ist bis zum Schluss des Buchs spürbar. Ich hätte Liv eine deutlich positivere Entwicklung gewünscht.

 

Fazit

Ein Roman, der den Leidensweg eines Vergewaltigungsopfers thematisiert. Keine leichte Lektüre. Liv wird völlig von ihrem vergangen Trauma vereinnahmt und verharrt in der Opferrolle. Viel Raum nehmen Selbstreflexionen und Gedankenkreisen um das wiederkehrende Thema der erlebten Gewalt ein. Der psychische Zustand von Liv wird auf diese Weise gut deutlich. Man wünscht ihr Hilfe und dass sie die Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnt. Leider ist der Roman wenig hoffnungsvoll. Ich hätte Liv eine positivere Entwicklung gewünscht. Ich empfehle das Buch solchen Leser:innen, die nicht vor dem schwierigen Thema „sexualisierte Gewalt“ zurückschrecken und die sich auf die ausführliche Beschreibung des inneren Leidens der Protagonistin einlassen wollen.

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