Innere Echokammer
Der Roman „Macht“ ist das Debut von der norwegischen Autorin Heidi
Furre und widmet sich sehr eindringlich dem Thema „sexualisierte Gewalt“. Im
Zentrum steht ausschließlich die Protagonistin Liv, die gedanklich völlig von
dem Trauma, das sie erlebt hat, vereinnahmt wird. Nach außen wahrt sie den
Schein und funktioniert, doch in ihr drinnen sieht es dramatisch aus. Sie macht
auf mich einen depressiven Eindruck und zeichnet sich durch Emotionslosigkeit
aus. Dieser Zustand wird durch die sprachliche Gestaltung des Romans noch
unterstrichen. Liv beschreibt ihren Tagesablauf sachlich, nüchtern,
distanziert, in einer Art Protokollstil. Zwischen innen und außen scheint eine
unsichtbare Mauer zu existieren, auf mich wirkt Liv oft teilnahmslos und
unbeteiligt. Ihren Job als Altenpflegerin übt sie mehr mit Pflichtbewusstsein
als mit Leidenschaft aus. Ihr Blick auf die Patienten ist reserviert. Sie
funktioniert lediglich und fügt sich den zu erledigenden Alltagsroutinen. Nach
außen demonstriert sie ein gewisses Maß an Normalität. Und ihr Umfeld scheint
von ihrem krisenhaften inneren Zustand überhaupt nichts mitzubekommen, vor
allem ihr Mann nicht.
Das Innenleben der Protagonistin nimmt viel Raum ein. Und die vielen
Gedanken zum Ausdruck zu bringen und das Gedankenkreisen um immer das gleiche
Thema zu gestalten, das ist anspruchsvoll. Da ziehe ich vor der Autorin meinen
Hut. Die Gedanken von Liv kreisen um sie selbst, Beziehungen zu anderen Figuren
werden so gut wie gar nicht geschildert, was ich etwas schade fand. Aber es ist
klar, warum die Autorin diesen Weg der Beschreibung gewählt hat. Es wird auf
diese Weise deutlich, dass Liv traumatisiert ist und immer noch in der
Opferrolle verharrt und sich aus ihrem inneren Gefängnis nicht befreien kann. Die
Erinnerung an das Geschehene vereinnahmt sie völlig. Erschütternd! Kritische
Leser:innen mögen beanstanden, dass sich der Inhalt recht schleppend liest und
dass sich vieles wiederholt. Und ja, die Lektüre ist anstrengend. Das Thema der
Vergewaltigung kehrt immer wieder und das erlebte Trauma wird immer wieder in
neue Worte gekleidet und vertieft. Doch ich bin mir sicher, dass die Autorin
dies bewusst so gestaltet hat, um das Gedankenkarrussell von Liv auf diese
Weise zu veranschaulichen. Die Erinnerung lässt sie nicht los, verfolgt sie. Sie
lässt sich einfach nicht unterdrücken. Und das wiederum ist realistisch!
Als Leser:innen sind wir sehr stark an die Perspektive von Liv
gewunden. Was um sie herum passiert, das bekommt man kaum mit. Zu sehr ist sie
mit ihrem inneren Erleben beschäftigt. Der innere Monolog überwiegt, die Selbstreflexion
nimmt viel Raum ein. Die Auseinandersetzung mit den vergangenen Dämonen ist
das, was den Roman ausmacht. Darauf muss man sich einlassen wollen. Keine
leichte Lektüre. Auf Dauer ist die Lektüre schon auch anstrengend. Kritische
Leser:innen mögen bemängeln, dass auf diese Weise das Thema „sexualisierte
Gewalt“ womöglich überreizt wird. Auch wird der ein- oder andere Leser
womöglich kritisieren, dass es unrealistisch ist, dass Livs Umwelt von ihrem
inneren Zustand nichts mitbekommt. Doch ich würde diesen Kritikpunkten
widersprechen. Erst durch das immer Wiederkehrende wird klar, wie sehr Liv in
der Opferrolle verharrt. Und tatsächlich ist es bei psychischen Krisen häufig
so, dass das unmittelbare Umfeld nichts mitbekommt, weil die Betroffenen nach
außen den Schein wahren. Natürlich habe ich mir auch gewünscht, dass Liv Hilfe
erhält. Aber die Initiative dafür muss von ihr selbst ausgehen.
Im Klappentext ist von einem „Befreiungsschlag“ der Protagonistin die
Rede. Soweit würde ich nicht gehen. Man merkt zwar Liv an, dass sie sich nicht
länger mit ihrer Opferrolle zufrieden geben will. Sie stellt Überlegungen an, wie
sie selbst die Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnt und sie stellt erste
Schritte dazu an. Aber von einer Befreiung ist sie noch weit entfernt. Deshalb
hat mich das Ende auch etwas unbefriedigt zurückgelassen. Ich fand es wenig
hoffnungsvoll. Für mich hat Liv noch einen sehr langen Weg vor sich, bis ihre
Wunden heilen. Hier hätte ich mir eine andere Botschaft gewünscht. Das innere
Leiden ist bis zum Schluss des Buchs spürbar. Ich hätte Liv eine deutlich
positivere Entwicklung gewünscht.
Fazit:
Ein Roman, der den Leidensweg eines Vergewaltigungsopfers thematisiert.
Keine leichte Lektüre. Liv wird völlig von ihrem vergangen Trauma vereinnahmt
und verharrt in der Opferrolle. Viel Raum nehmen Selbstreflexionen und
Gedankenkreisen um das wiederkehrende Thema der erlebten Gewalt ein. Der
psychische Zustand von Liv wird auf diese Weise gut deutlich. Man wünscht ihr
Hilfe und dass sie die Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnt. Leider ist der
Roman wenig hoffnungsvoll. Ich hätte Liv eine positivere Entwicklung gewünscht.
Ich empfehle das Buch solchen Leser:innen, die nicht vor dem schwierigen Thema „sexualisierte
Gewalt“ zurückschrecken und die sich auf die ausführliche Beschreibung des
inneren Leidens der Protagonistin einlassen wollen.
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