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Sonntag, 5. März 2023

Dornblüth, Gesine und Thomas Franke - Jenseits von Putin


5 von 5 Sternen


Einblick in die russische Gesellschaft


Warum ist die russische Zivilgesellschaft so schwach? Diese Frage treibt mich um. Zuletzt habe ich aus diesem Grund den Sammelband „Die Erinnerung nicht vergessen“ von Ljudmila Ulitzkaja und das Buch „Zeitenwende“ von Rüdiger von Fritsch gelesen (vgl. frühere Rezensionen). Nun ist ein Buch im Herder-Verlag erschienen, das sich dieser Frage endlich einmal ausführlicher widmet. Es trägt den Titel „Jenseits von Putin“. Geschrieben wurde es von Gesine Dornblüth (promovierte Slavistin) und Thomas Franke, der von 2012 bis 2017 in Moskau lebte.

 

Und was mir gut gefallen hat, soviel kann ich einleitend bereits vorwegnehmen, ist die Tatsache, dass in diesem Buch viele Interviewausschnitte vorkommen und am Beispiel von Einzelmeinungen der Frage nachgegangen wird, wie die Gesellschaft tickt. Viele Bücher, die ich bisher gelesen haben, widmeten sich eher der Makroebene, häufig ging es um Putin, hier aber geht es einmal um die Mikroebene, normale Leute und auch solche, die sich gegenüber den gesellschaftlichen Missständen zur Wehr setzen, kommen zu Wort. Dieses Buch war überfällig. Denn inzwischen muss man ja sagen, der Krieg wird von breiten Teilen der Bevölkerung in Russland offenbar toleriert (vielleicht sogar befürwortet?). Eine Opposition, eine Antikriegsbewegung, zivilgesellschaftlicher Widerstand, all das bleibt aus. Und es stellt sich die Frage, wie das kommt. Hier setzt das Buch von Dornblüth und Franke an und sucht nach Erklärungen. Ich gebe im Folgenden nur Einblick in eine Auswahl von wenigen Kapiteln und beschränke mich auch auf Dinge, die mir persönlich bei der Lektüre wichtig erschienen. Wer Genaueres wissen möchte, der sollte selbst einen Blick in das sehr lesenswerte Buch werfen.

 

Kapitel 3 – Sie brauchen einen Führer – Putins jugendliche Machtressource

In diesem Kapitel werden vor allem die kremlnahen Jugendorganisationen in den Blick genommen. So gebe es die „Naschi“, eine Art Putin-Jugend. Sie ähnele dem Komsomol, der Jugendorganisation des KPdSU und stelle eine Fortführung dieser Tradition dar. Wer bei den „Naschi“ mitmachen wolle, müsse verschiedene Theorieseminare absolvieren, in denen den Mitgliedern die richtige patriotische Einstellung beigebracht werde. Neben den „Naschi“ existiere zudem noch die „Molodaja Gwardia“, die Junge Garde. Sie stelle eine weitere Nachwuchsorganisation der Regierung dar und sei direkt an die Regierungspartei „Einiges Russland“ angeschlossen. Weiterhin erschließe die Organisation „Setj“ (dt. Netz) vor allem elitäre Zielgruppen. In ihr sammelten sich vor allem Designer, Graffiti-Sprayer, Bildhauer, Journalisten, Fotografen und Videokünstler. Nicht zuletzt existiere noch die „Junarmia“, die Junge Armee, die beim Kriegsministerium angesiedelt ist. Dort machten sich die jungen Leute mit Waffengattungen vertraut, trieben Kampfsport und übten schießen.

 

Kapitel 4 – Sie wollen keinen Führer

Die Autoren beschäftigen sich in diesem Kapitel mit der Frage, ob ein Machtwechsel in Russland durch gewaltfreien Widerstand überhaupt möglich ist und schildern unter Bezugnahme auf den Politikwissenschaftler Jaschin, dass viele Hürden zivilgesellschaftliches Engagement behinderten. Die Opposition habe z.B. kaum noch Zugang zu landesweiten Massenmedien. Und das Parlament sei kein Ort für Debatten mehr. Für oppositionelle Bewegungen gebe es nur noch sehr wenige Möglichkeiten, um auf sich aufmerksam zu machen. Auch am Beispiel der Bewegungen „Oborona“ und „Smena“ machen die Autoren deutlich, dass dem Kreml zivilgesellschaftliches Engagement zuwider sei und ihn beunruhigten. Eine wichtige Gelegenheit sei 2011 verstrichen, als rund 100 000 Menschen gegen die gefälschten Parlamentswahlen auf die Straße gegangen sind. Putin habe diesen Widerstand in den letzten Jahren durch zahlreiche repressive Maßnahmen gebrochen. Auch gewähren die Autoren Einblick in die schwierige Arbeit von Oppositionspolitikern, die z.B. Unterstützerunterschriften in sehr großer Anzahl benötigten, um überhaupt antreten zu dürfen.

 

Kapitel 6 – Meinst du, die Russen wollen Krieg?

Hier widmen sich die Autoren der Frage, ob die Russen den Krieg überhaupt selbst wollen und ihn unterstützen. Oder wird ihnen irgendwann klar, dass sie einen Angriffskrieg führen und dass jeder einzelne gefordert ist, sich dagegen zur Wehr zu setzen? Die Autoren weisen darauf hin, dass der Krieg als solcher aufgrund der Erfahrungen im Großen Vaterländischen Krieg eigentlich mehrheitlich abgelehnt werde. Im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung sei dieser geschichtliche Abschnitt bis heute weiterhin gespeichert. Nicht umsonst gebe es in Russland das geflügelte Wort: „Lisch by ne woina“ (dt. Bloß kein Krieg). Es habe allerdings in der Sowjetunion keine solche Antikriegsbewegung wie im Westen gegeben. Die Autoren meinen, dass man in Russland vom Wort Krieg scheinbar nur dann Gebrauch mache, wenn man selbst angegriffen werde. Die Menschen in Russland verhielten sich so, als ob der Krieg wie eine Naturkatastrophe über sie käme, gegen die sie wehrlos seien. Nach Einschätzung von Dornblüth und Franke verhalte sich die Bevölkerung in Russland nicht fanatisch, sondern apathisch und verängstigt.

 

Kapitel 7 – „Enkel von Opfern und Henkern“

In diesem Kapitel geht es um ein zentrales Trauma der russischen Gesellschaft: Die Stalinzeit. Auch diese Ära hat sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, so die Autoren. Fast in jeder Familie hätte es Opfer gegeben. Das Regime unter Putin setze alles daran, Vergangenheitsbewältigung zu verhindern. Eine Entstalinisierung habe nie stattgefunden. Stattdessen sei der Sieg über den Faschismus zum Identifikationspunkt Russlands geworden. Und Putin profitiere von diesem unbewältigten Trauma. Er spiele heute erneut mit den gleichen Ängsten.

 

Kapitel 9 – Der kleine Bruder mit dem Down-Syndrom

Hier setzen sich die Autoren mit dem Mythos der Ukraine als Brudervolk auseinander, von dem in der russischen Propaganda häufig die Rede ist. Die Russen bezeichneten die Ukrainer zwar als ihre Brüder, doch der kleine Bruder stehe unter dem Diktat des großen und dürfe sich nicht emanzipieren. Viele Russen würden die Ansicht vertreten, dass die Ukraine keine Nation sei und auch keine eigene Kultur habe. In ihrer Darlegung nehmen Dornblüth und Franke auch auf das Ereignis des „Holodomor“ Bezug. Dieses sei für die Ukrainer in ihrem Bestreben nach Unabhängigkeit zentral gewesen. In Russland hingegen versuchten Wissenschaftler und Politiker zu verhindern, dass die Ukraine eine eigene Sicht auf die Geschichte entwickele. Auf der Krim werde die ukrainische Kultur seit 2014 systematisch ausgelöscht, je länger die Halbinsel besetzt sei, desto weniger Ukrainisch höre man.

 

Kapitel 10 – „Orthodoxe Taliban“

Hier geht es um die gesellschaftspolitische Rolle der orthodoxen Kirche. So propagiere Kirill z.B., dass derjenige, der sich für das Vaterland opfere, sich damit von allen Sünden reinwasche. Es bestehe eine Allianz von Kirche und Kreml und das Oberhaupt der russischen Kirche spiele dabei eine tragende Rolle. Die Autoren stellen sogar die These in den Raum, dass Kirill früher für den KGB tätig gewesen ist. Einen Beweis dafür bleiben sie jedoch schuldig. Auf jeden Fall habe er Putin im Jahr 2012 wichtige Wahlkampfhilfe geleistet und stelle sich nun in den Dienst der Propaganda.

 

Kapitel 11 – Dem Vaterland dienen – Schulalltag 2022

In diesem Kapitel geht es um den russischen Schulalltag im Jahr 2022 (ein für mich sehr bitteres und trauriges Kapitel). Fahnenappelle gehörten nun ebenso dazu wie ein neues Schulfach („Gespräche über Wichtiges“). In diesem Schulfach werde den Schülern vor allem der Stolz auf das eigene Vaterland und die Liebe zur Heimat vermittelt. Die Schulen ermöglichten dem Kreml auf diese Weise flächendeckend Manipulation und politische Indoktrination. Und das größte Problem dabei: Die große Mehrheit der Lehrkräfte mache mit. Die Lehrkräfte erhielten Handreichungen dazu, wie sie den Krieg mit der Ukraine zu thematisieren hätten. Gleichzeitig habe es bereits Fälle von Entlassungen gegeben, weil Lehrkräfte sich nicht an die Vorgabe gehalten haben. Auch führen die Autoren Beispiele für Denunziationen an. Schüler verwickelten Lehrer in Gespräche über den Krieg und hätten dann Mitschnitte kritischer Aussagen von Lehrkräften an die zuständigen Behörden weitergegeben.

 

Abschließend bleibt festzuhalten, dass man natürlich auch an die Autoren die Frage richten kann, warum sie genau die Leute haben zu Wort kommen lassen, die hier ihre Meinung äußern. Auch kann man sich fragen, inwieweit die präsentierten Beispiele repräsentativ für die Gesamtgesellschaft sind. Das lässt sich leider nicht beantworten. Ich vertraue aber darauf, dass die Autoren diesen Umstand beim Schreiben ihres Buchs im Blick hatten. Letztlich ist das Gesellschaftsporträt, das die Autoren in diesem Buch zeichnen sehr düster und auch beängstigend. Wie sollen sich die gesellschaftlichen Strukturen jemals ändern? Das scheint eine schier unlösbare Aufgabe zu sein. Der Wunsch nach Veränderungen kann ja eigentlich nur aus der russischen Bevölkerung selbst kommen. Doch wie kann das überhaupt gelingen, wenn so viele Sphären der Gesellschaft von Propaganda durchdrungen sind? Ich bin nach der Lektüre dieses Buchs bestürzt und ratlos. 

 

Fazit

Dieses Buch gewährt einen beklemmenden Blick in die russische Gesellschaft, die von Angst, Traumata, Repression, Gleichgültigkeit und Intoleranz geprägt zu sein scheint. Die Propaganda erfasst nahezu alle Sphären der Gesellschaft. Wie will man zu den Leuten in Russland durchdringen, damit sie endlich aufwachen? Diese Frage bleibt für mich offen und beschäftigt mich sehr. Ich empfehle dieses Buch denjenigen, die nicht nur die Makroebene betrachten wollen, sondern die sich einmal mit der Mikroebene beschäftigen wollen, d.h. mit den normalen Menschen in Russland selbst. Denn nach einem Jahr Krieg muss man leider auch kritisch konstatieren, dass die russische Bevölkerung Putin möglich gemacht hat und weiter zu ihm steht. Ein wichtiges Buch, von mir 5 Sterne!

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