Einblick in die russische Gesellschaft
Warum ist die russische Zivilgesellschaft so schwach? Diese Frage
treibt mich um. Zuletzt habe ich aus diesem Grund den Sammelband „Die
Erinnerung nicht vergessen“ von Ljudmila Ulitzkaja und das Buch „Zeitenwende“
von Rüdiger von Fritsch gelesen (vgl. frühere Rezensionen). Nun ist ein Buch im
Herder-Verlag erschienen, das sich dieser Frage endlich einmal ausführlicher
widmet. Es trägt den Titel „Jenseits von Putin“. Geschrieben wurde es von
Gesine Dornblüth (promovierte Slavistin) und Thomas Franke, der von 2012 bis
2017 in Moskau lebte.
Und was mir gut gefallen hat, soviel kann ich einleitend bereits
vorwegnehmen, ist die Tatsache, dass in diesem Buch viele Interviewausschnitte
vorkommen und am Beispiel von Einzelmeinungen der Frage nachgegangen wird, wie
die Gesellschaft tickt. Viele Bücher, die ich bisher gelesen haben, widmeten
sich eher der Makroebene, häufig ging es um Putin, hier aber geht es einmal um
die Mikroebene, normale Leute und auch solche, die sich gegenüber den
gesellschaftlichen Missständen zur Wehr setzen, kommen zu Wort. Dieses Buch war
überfällig. Denn inzwischen muss man ja sagen, der Krieg wird von breiten
Teilen der Bevölkerung in Russland offenbar toleriert (vielleicht sogar
befürwortet?). Eine Opposition, eine Antikriegsbewegung, zivilgesellschaftlicher
Widerstand, all das bleibt aus. Und es stellt sich die Frage, wie das kommt.
Hier setzt das Buch von Dornblüth und Franke an und sucht nach Erklärungen. Ich
gebe im Folgenden nur Einblick in eine Auswahl von wenigen Kapiteln und
beschränke mich auch auf Dinge, die mir persönlich bei der Lektüre wichtig
erschienen. Wer Genaueres wissen möchte, der sollte selbst einen Blick in das
sehr lesenswerte Buch werfen.
Kapitel 3 – Sie brauchen einen Führer – Putins jugendliche
Machtressource
In diesem Kapitel werden vor allem die kremlnahen Jugendorganisationen
in den Blick genommen. So gebe es die „Naschi“, eine Art Putin-Jugend. Sie
ähnele dem Komsomol, der Jugendorganisation des KPdSU und stelle eine
Fortführung dieser Tradition dar. Wer bei den „Naschi“ mitmachen wolle, müsse
verschiedene Theorieseminare absolvieren, in denen den Mitgliedern die richtige
patriotische Einstellung beigebracht werde. Neben den „Naschi“ existiere zudem
noch die „Molodaja Gwardia“, die Junge Garde. Sie stelle eine weitere
Nachwuchsorganisation der Regierung dar und sei direkt an die Regierungspartei
„Einiges Russland“ angeschlossen. Weiterhin erschließe die Organisation „Setj“
(dt. Netz) vor allem elitäre Zielgruppen. In ihr sammelten sich vor allem
Designer, Graffiti-Sprayer, Bildhauer, Journalisten, Fotografen und
Videokünstler. Nicht zuletzt existiere noch die „Junarmia“, die Junge Armee,
die beim Kriegsministerium angesiedelt ist. Dort machten sich die jungen Leute
mit Waffengattungen vertraut, trieben Kampfsport und übten schießen.
Kapitel 4 – Sie wollen keinen Führer
Die Autoren beschäftigen sich in diesem Kapitel mit der Frage, ob ein
Machtwechsel in Russland durch gewaltfreien Widerstand überhaupt möglich ist
und schildern unter Bezugnahme auf den Politikwissenschaftler Jaschin, dass
viele Hürden zivilgesellschaftliches Engagement behinderten. Die Opposition
habe z.B. kaum noch Zugang zu landesweiten Massenmedien. Und das Parlament sei
kein Ort für Debatten mehr. Für oppositionelle Bewegungen gebe es nur noch sehr
wenige Möglichkeiten, um auf sich aufmerksam zu machen. Auch am Beispiel der
Bewegungen „Oborona“ und „Smena“ machen die Autoren deutlich, dass dem Kreml
zivilgesellschaftliches Engagement zuwider sei und ihn beunruhigten. Eine
wichtige Gelegenheit sei 2011 verstrichen, als rund 100 000 Menschen gegen die
gefälschten Parlamentswahlen auf die Straße gegangen sind. Putin habe diesen
Widerstand in den letzten Jahren durch zahlreiche repressive Maßnahmen
gebrochen. Auch gewähren die Autoren Einblick in die schwierige Arbeit von
Oppositionspolitikern, die z.B. Unterstützerunterschriften in sehr großer Anzahl
benötigten, um überhaupt antreten zu dürfen.
Kapitel 6 – Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Hier widmen sich die Autoren der Frage, ob die Russen den Krieg
überhaupt selbst wollen und ihn unterstützen. Oder wird ihnen irgendwann klar,
dass sie einen Angriffskrieg führen und dass jeder einzelne gefordert ist, sich
dagegen zur Wehr zu setzen? Die Autoren weisen darauf hin, dass der Krieg als
solcher aufgrund der Erfahrungen im Großen Vaterländischen Krieg eigentlich
mehrheitlich abgelehnt werde. Im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung sei
dieser geschichtliche Abschnitt bis heute weiterhin gespeichert. Nicht umsonst
gebe es in Russland das geflügelte Wort: „Lisch by ne woina“ (dt. Bloß kein
Krieg). Es habe allerdings in der Sowjetunion keine solche Antikriegsbewegung
wie im Westen gegeben. Die Autoren meinen, dass man in Russland vom Wort Krieg
scheinbar nur dann Gebrauch mache, wenn man selbst angegriffen werde. Die
Menschen in Russland verhielten sich so, als ob der Krieg wie eine
Naturkatastrophe über sie käme, gegen die sie wehrlos seien. Nach Einschätzung
von Dornblüth und Franke verhalte sich die Bevölkerung in Russland nicht
fanatisch, sondern apathisch und verängstigt.
Kapitel 7 – „Enkel von Opfern und Henkern“
In diesem Kapitel geht es um ein zentrales Trauma der russischen
Gesellschaft: Die Stalinzeit. Auch diese Ära hat sich ins kollektive Gedächtnis
eingebrannt, so die Autoren. Fast in jeder Familie hätte es Opfer gegeben. Das
Regime unter Putin setze alles daran, Vergangenheitsbewältigung zu verhindern.
Eine Entstalinisierung habe nie stattgefunden. Stattdessen sei der Sieg über
den Faschismus zum Identifikationspunkt Russlands geworden. Und Putin
profitiere von diesem unbewältigten Trauma. Er spiele heute erneut mit den
gleichen Ängsten.
Kapitel 9 – Der kleine Bruder mit dem Down-Syndrom
Hier setzen sich die Autoren mit dem Mythos der Ukraine als Brudervolk
auseinander, von dem in der russischen Propaganda häufig die Rede ist. Die
Russen bezeichneten die Ukrainer zwar als ihre Brüder, doch der kleine Bruder
stehe unter dem Diktat des großen und dürfe sich nicht emanzipieren. Viele
Russen würden die Ansicht vertreten, dass die Ukraine keine Nation sei und auch
keine eigene Kultur habe. In ihrer Darlegung nehmen Dornblüth und Franke auch
auf das Ereignis des „Holodomor“ Bezug. Dieses sei für die Ukrainer in ihrem
Bestreben nach Unabhängigkeit zentral gewesen. In Russland hingegen versuchten
Wissenschaftler und Politiker zu verhindern, dass die Ukraine eine eigene Sicht
auf die Geschichte entwickele. Auf der Krim werde die ukrainische Kultur seit
2014 systematisch ausgelöscht, je länger die Halbinsel besetzt sei, desto
weniger Ukrainisch höre man.
Kapitel 10 – „Orthodoxe Taliban“
Hier geht es um die gesellschaftspolitische Rolle der orthodoxen
Kirche. So propagiere Kirill z.B., dass derjenige, der sich für das Vaterland
opfere, sich damit von allen Sünden reinwasche. Es bestehe eine Allianz von
Kirche und Kreml und das Oberhaupt der russischen Kirche spiele dabei eine
tragende Rolle. Die Autoren stellen sogar die These in den Raum, dass Kirill
früher für den KGB tätig gewesen ist. Einen Beweis dafür bleiben sie jedoch
schuldig. Auf jeden Fall habe er Putin im Jahr 2012 wichtige Wahlkampfhilfe geleistet
und stelle sich nun in den Dienst der Propaganda.
Kapitel 11 – Dem Vaterland dienen – Schulalltag 2022
In diesem Kapitel geht es um den russischen Schulalltag im Jahr 2022
(ein für mich sehr bitteres und trauriges Kapitel). Fahnenappelle gehörten nun
ebenso dazu wie ein neues Schulfach („Gespräche über Wichtiges“). In diesem
Schulfach werde den Schülern vor allem der Stolz auf das eigene Vaterland und
die Liebe zur Heimat vermittelt. Die Schulen ermöglichten dem Kreml auf diese
Weise flächendeckend Manipulation und politische Indoktrination. Und das größte
Problem dabei: Die große Mehrheit der Lehrkräfte mache mit. Die Lehrkräfte
erhielten Handreichungen dazu, wie sie den Krieg mit der Ukraine zu
thematisieren hätten. Gleichzeitig habe es bereits Fälle von Entlassungen
gegeben, weil Lehrkräfte sich nicht an die Vorgabe gehalten haben. Auch führen
die Autoren Beispiele für Denunziationen an. Schüler verwickelten Lehrer in
Gespräche über den Krieg und hätten dann Mitschnitte kritischer Aussagen von
Lehrkräften an die zuständigen Behörden weitergegeben.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass man natürlich auch an die
Autoren die Frage richten kann, warum sie genau die Leute haben zu Wort kommen
lassen, die hier ihre Meinung äußern. Auch kann man sich fragen, inwieweit die
präsentierten Beispiele repräsentativ für die Gesamtgesellschaft sind. Das
lässt sich leider nicht beantworten. Ich vertraue aber darauf, dass die Autoren
diesen Umstand beim Schreiben ihres Buchs im Blick hatten. Letztlich ist das
Gesellschaftsporträt, das die Autoren in diesem Buch zeichnen sehr düster und
auch beängstigend. Wie sollen sich die gesellschaftlichen Strukturen jemals
ändern? Das scheint eine schier unlösbare Aufgabe zu sein. Der Wunsch nach
Veränderungen kann ja eigentlich nur aus der russischen Bevölkerung selbst
kommen. Doch wie kann das überhaupt gelingen, wenn so viele Sphären der
Gesellschaft von Propaganda durchdrungen sind? Ich bin nach der Lektüre dieses
Buchs bestürzt und ratlos.
Fazit:
Dieses Buch gewährt einen beklemmenden Blick in die russische
Gesellschaft, die von Angst, Traumata, Repression, Gleichgültigkeit und
Intoleranz geprägt zu sein scheint. Die Propaganda erfasst nahezu alle Sphären
der Gesellschaft. Wie will man zu den Leuten in Russland durchdringen, damit
sie endlich aufwachen? Diese Frage bleibt für mich offen und beschäftigt mich
sehr. Ich empfehle dieses Buch denjenigen, die nicht nur die Makroebene
betrachten wollen, sondern die sich einmal mit der Mikroebene beschäftigen
wollen, d.h. mit den normalen Menschen in Russland selbst. Denn nach einem Jahr
Krieg muss man leider auch kritisch konstatieren, dass die russische
Bevölkerung Putin möglich gemacht hat und weiter zu ihm steht. Ein wichtiges
Buch, von mir 5 Sterne!
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