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Donnerstag, 13. Juni 2024

Schami, Rafik - Wenn du erzählst, erblüht die Wüste


135 Perlen arabischer Erzählkunst



Auf der Göttinger Frühjahrslese im April 2024 habe ich eine Lesung von Rafik Schami besucht (vgl. meinen Beitrag vom 08.04.24), dessen Werk ich sehr schätze (vgl. dazu frühere Rezensionen), und habe dort auch sein neuestes Buch „Wenn du erzählst, erblüht die Wüste“ (2023) erstanden. Ich hatte damals auch versprochen, dass ich es rezensiere. Nun möchte ich mein Versprechen einlösen.


Umrahmt wird die wunderschöne Geschichtensammlung, auf die ich gleich näher eingehe, von einer autofiktionalen Rahmenhandlung, in der der Erzähler von seinem bücherliebenden Vater berichtet, aus dessen Bestand er ein handgeschriebenes Buch bewahrt, welches anonym verfasst worden ist und aus dem Jahr 1890 stammt. Der Erzähler möchte seinen Leserinnen und Lesern den Inhalt dieses Werks zugänglich machen, in dem einige Perlen arabischer Erzählkunst versammelt sind.

 

Die Erzählsammlung, die dann präsentiert wird, ist abermals von einer Rahmenhandlung umgeben. Der Erzählton wechselt ins märchenhafte. Wir lernen die Prinzessin Jasmin kennen, die im Alter von 17 Jahren ihr eigenes Land und die umliegenden Länder des Königreichs bereist. Dabei lernt sie den Fischer Amir kennen, in den sie sich verliebt. Vor ihren Eltern hält sie die Liebe zu Amir zunächst noch geheim. Und dann geschieht ein Unglück. Kurz bevor Jasmin ihren Eltern von ihrem Glück berichten möchte, wird ihre Mutter von einem Attentäter getötet.

 

Jasmin versinkt in tiefer Trauer und ihr Gesundheitszustand verschlechtet sich zusehends. Sie wird apathisch, redet mit niemandem und verlässt ihre Wohnung nicht mehr. Der Plan ihres Vaters, sie zur Königin zu krönen, ist unmöglich geworden. Aus Verzweiflung fasst König Salih einen wagemutigen Entschluss und verkündet, dass derjenige, der seine Tochter heilt, zum Fürsten geadelt wird und seine Tochter heiraten darf. Eines Tages kommt Karam, der Kaffeehauserzähler, in die Hauptstadt. Er ist bekannt als großer Geschichtenerzähler und hat schon einiges an Leid hinter sich. Als er von dem Schicksal der Prinzessin hört, beschließt er, ihr zu helfen. Mit großer Geduld widmet er sich ihrer Heilung. Er plant Jasmin mit Erzählungen Abend für Abend aufzumuntern und auf diese Weise, ins Leben zurückzuführen. Wird ihm dies gelingen? Und welche Geschichten wird er erzählen?

 

Anschließend folgt die Präsentation der zahlreichen, unterschiedlich langen Erzählungen, die an zehn Abenden zu verschiedenen Themen von Karam und anderen Zuhörerinnen und Zuhörern beigetragen werden. Die Erzählabende werden zu einem gesellschaftlichen Ereignis. Die Leute versammeln sich, hören zu, lassen sich unterhalten und kommen so auf andere Gedanken. Den Inhalt der Erzählungen (ich habe 135 gezählt) kann ich im Rahmen dieser Rezension nicht im Detail wiedergeben, die möge sich jede und jeder selbst erschließen. Es handelt sich in erster Linie um Märchen und Fabeln.

 

Aber die einzelnen Themen, zu denen erzählt wird, möchte ich benennen: 1. Von Gaunern, Lügnern und deren Widersachern (S. 49-89), 2. Von Mut und Feigheit (S. 90-130), 3. Von Schlauköpfen und Einfaltspinseln (S. 131-171), 4. Von Geiz, Neid, Gier und ihren Erzfeinden (S. 172-214), 5. Von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit (S. 215-255), 6. Vom Aberglauben und seiner Todfeindin, der Vernunft (S. 256-292), 7. Von Freundschaft und Feindschaft (S. 293-339), 8. Frei wie eine Schwalbe und frech wie ein Spatz (S. 340-380), 9. Liebe oder Weisheit des Herzens (S. 381-424), 10. Von der Liebe und der blühenden Wüste (S. 425-470).

 

Der Erzählton ist oft heiter und der Inhalt der Geschichten lehrreich (ohne erhobenen Zeigefinger). Werte des menschlichen Miteinanders werden geschickt und unterhaltsam vermittelt. Oft werden Konflikte zwischen verschiedenen Parteien in den Blick genommen, am Ende der Erzählungen siegt häufig die Gerechtigkeit, das Unrecht wird bestraft und es wird eine Moral vermittelt. Die inhaltliche Bandbreite ist weit. Die Geschichten bieten sich auch als Gesprächsanlässe an und eine vertiefende Nachbetrachtung bietet sich an.

 

In meinen Augen eine großartige, kreative Sammlung von Erzählungen, die zudem auch noch einen Einblick in die arabische Kultur geben. Viele Geschichten erfüllen eine Art „reinigende“ Funktion. Die Zuhörerinnen und Zuhörer werden von negativen Gefühlen wie Trauer, Wut und Zorn befreit. An die Stelle dieser Gefühle rückt Zuversicht. Einige Erzählungen sind nicht ganz jugendfrei und haben einen frivolen Charakter, andere Erzählungen (v.a. die Fabeln) kann man aber auch Kindern vorlesen. Um die vielen Geschichten angemessen in ihrer Pracht zu erleben und nachwirken zu lassen, empfiehlt es sich in meinen Augen immer einmal wieder Lesepausen einzulegen.

 

Rafik Schami legt ein Werk mit einer sehr wichtigen Botschaft vor, wie ich finde. Den Leserinnen und Lesern wird die heilende Kraft des Erzählens vorgeführt. Das Erzählen erscheint als Möglichkeit, dem Alltag zu entfliehen. Das einzige, was ich während der Lektüre vermisst habe, waren ausführlichere Schilderungen des Erlebens der Prinzessin Jasmin. Über ihre Reaktionen und den voranschreitenden Heilungsprozess erfährt man leider vergleichsweise wenig, war mein Eindruck.

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