135 Perlen arabischer Erzählkunst
Umrahmt
wird die wunderschöne Geschichtensammlung, auf die ich gleich näher eingehe,
von einer autofiktionalen Rahmenhandlung, in der der Erzähler von seinem
bücherliebenden Vater berichtet, aus dessen Bestand er ein handgeschriebenes
Buch bewahrt, welches anonym verfasst worden ist und aus dem Jahr 1890 stammt.
Der Erzähler möchte seinen Leserinnen und Lesern den Inhalt dieses Werks
zugänglich machen, in dem einige Perlen arabischer Erzählkunst versammelt sind.
Die
Erzählsammlung, die dann präsentiert wird, ist abermals von einer
Rahmenhandlung umgeben. Der Erzählton wechselt ins märchenhafte. Wir lernen die
Prinzessin Jasmin kennen, die im Alter von 17 Jahren ihr eigenes Land und die
umliegenden Länder des Königreichs bereist. Dabei lernt sie den Fischer Amir
kennen, in den sie sich verliebt. Vor ihren Eltern hält sie die Liebe zu Amir
zunächst noch geheim. Und dann geschieht ein Unglück. Kurz bevor Jasmin ihren
Eltern von ihrem Glück berichten möchte, wird ihre Mutter von einem Attentäter
getötet.
Jasmin
versinkt in tiefer Trauer und ihr Gesundheitszustand verschlechtet sich
zusehends. Sie wird apathisch, redet mit niemandem und verlässt ihre Wohnung
nicht mehr. Der Plan ihres Vaters, sie zur Königin zu krönen, ist unmöglich
geworden. Aus Verzweiflung fasst König Salih einen wagemutigen Entschluss und
verkündet, dass derjenige, der seine Tochter heilt, zum Fürsten geadelt wird
und seine Tochter heiraten darf. Eines Tages kommt Karam, der
Kaffeehauserzähler, in die Hauptstadt. Er ist bekannt als großer
Geschichtenerzähler und hat schon einiges an Leid hinter sich. Als er von dem
Schicksal der Prinzessin hört, beschließt er, ihr zu helfen. Mit großer Geduld
widmet er sich ihrer Heilung. Er plant Jasmin mit Erzählungen Abend für Abend aufzumuntern
und auf diese Weise, ins Leben zurückzuführen. Wird ihm dies gelingen? Und
welche Geschichten wird er erzählen?
Anschließend
folgt die Präsentation der zahlreichen, unterschiedlich langen Erzählungen, die
an zehn Abenden zu verschiedenen Themen von Karam und anderen Zuhörerinnen und
Zuhörern beigetragen werden. Die Erzählabende werden zu einem
gesellschaftlichen Ereignis. Die Leute versammeln sich, hören zu, lassen sich
unterhalten und kommen so auf andere Gedanken. Den Inhalt der Erzählungen (ich
habe 135 gezählt) kann ich im Rahmen dieser Rezension nicht im Detail wiedergeben,
die möge sich jede und jeder selbst erschließen. Es handelt sich in erster
Linie um Märchen und Fabeln.
Aber
die einzelnen Themen, zu denen erzählt wird, möchte ich benennen: 1. Von
Gaunern, Lügnern und deren Widersachern (S. 49-89), 2. Von Mut und Feigheit (S.
90-130), 3. Von Schlauköpfen und Einfaltspinseln (S. 131-171), 4. Von Geiz,
Neid, Gier und ihren Erzfeinden (S. 172-214), 5. Von Gerechtigkeit und
Ungerechtigkeit (S. 215-255), 6. Vom Aberglauben und seiner Todfeindin, der
Vernunft (S. 256-292), 7. Von Freundschaft und Feindschaft (S. 293-339), 8.
Frei wie eine Schwalbe und frech wie ein Spatz (S. 340-380), 9. Liebe oder
Weisheit des Herzens (S. 381-424), 10. Von der Liebe und der blühenden Wüste
(S. 425-470).
Der
Erzählton ist oft heiter und der Inhalt der Geschichten lehrreich (ohne
erhobenen Zeigefinger). Werte des menschlichen Miteinanders werden geschickt
und unterhaltsam vermittelt. Oft werden Konflikte zwischen verschiedenen
Parteien in den Blick genommen, am Ende der Erzählungen siegt häufig die
Gerechtigkeit, das Unrecht wird bestraft und es wird eine Moral vermittelt. Die
inhaltliche Bandbreite ist weit. Die Geschichten bieten sich auch als Gesprächsanlässe
an und eine vertiefende Nachbetrachtung bietet sich an.
In
meinen Augen eine großartige, kreative Sammlung von Erzählungen, die zudem auch
noch einen Einblick in die arabische Kultur geben. Viele Geschichten erfüllen
eine Art „reinigende“ Funktion. Die Zuhörerinnen und Zuhörer werden von
negativen Gefühlen wie Trauer, Wut und Zorn befreit. An die Stelle dieser
Gefühle rückt Zuversicht. Einige Erzählungen sind nicht ganz jugendfrei und
haben einen frivolen Charakter, andere Erzählungen (v.a. die Fabeln) kann man
aber auch Kindern vorlesen. Um die vielen Geschichten angemessen in ihrer
Pracht zu erleben und nachwirken zu lassen, empfiehlt es sich in meinen Augen
immer einmal wieder Lesepausen einzulegen.
Rafik
Schami legt ein Werk mit einer sehr wichtigen Botschaft vor, wie ich finde. Den
Leserinnen und Lesern wird die heilende Kraft des Erzählens vorgeführt. Das Erzählen
erscheint als Möglichkeit, dem Alltag zu entfliehen. Das einzige, was ich
während der Lektüre vermisst habe, waren ausführlichere Schilderungen des
Erlebens der Prinzessin Jasmin. Über ihre Reaktionen und den voranschreitenden Heilungsprozess
erfährt man leider vergleichsweise wenig, war mein Eindruck.
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