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Sonntag, 16. Juni 2024

Carter, Chris - Blutige Stufen


Der Mentor



Bisher habe ich noch nichts von Chris Carter gelesen. Ja, ich habe sogar einen Bogen um diesen Autor gemacht. Aus Sorge, dass mir die drastischen Gewaltdarstellungen zu sehr unter die Haut gehen. Und allen, die (so wie ich) nicht viel „Blut“ brauchen, um spannungsmäßig auf ihre Kosten zu kommen, sei Folgendes gesagt: Die Szenen, die Carter in „Blutige Stufen“ liefert, sind heftig. V.a. der geschilderte Sadismus war für mich sehr, sehr nah an der Grenze des aushaltbaren. Allerdings beschränken sich diese Darstellungen auf die Schilderung des Tatorts und die Ereignisse kurz vor der Tat. Kurz vor den Morden bricht der Autor sogar die Schilderung ab und es folgt ein Schwenk zu einem neuen Kapitel. Die drastischen Gewaltdarstellungen kommen also nur punktuell vor und nehmen nicht so viel Raum ein. Man könnte sie sogar überblättern, ohne etwas zu verpassen (meine Wahrnehmung). Und den Vergleich mit den Filmen „Saw“, die ich persönlich schon nach dem ersten Teil abgebrochen habe, finde ich zu weit hergeholt (einige Rezensenten stellen diesen Vergleich an). So überladen von Gewalt war dieses Buch nach meinem Empfinden nicht.

 

Den Rezensionen zu Chris Carters neuestem Werk „Totenarzt“ habe ich sogar entnommen, dass es „unblutiger“ sein soll. Das werde ich bestimmt bei nächster Gelegenheit einmal überprüfen. Für mich war v.a. der dargestellte Sadismus des Täters das, was unter die Haut geht. Und ob auch das in dem neuen Carter weniger geworden ist, bleibt für mich abzuwarten. Und eigentlich finde ich es schade, dass es vor allem die Gewaltdarstellungen sind, über die man bei Carters Werk spricht. Denn in meinen Augen hätte es die gar nicht nötig. Der Thriller wäre auch ohne diese Passagen spannend, weil der Autor packend schreibt und auch ohne das Mittel von starker Brutalität Spannung erzeugen würde, wie ich finde. Gleichzeitig ist die drastische Gewaltdarstellung aber auch ein Merkmal, das Carters Thriller auszeichnet. Letztlich muss jede und jeder selbst entscheiden, was er sich zumuten will.

 

Doch nun erst einmal zum Inhalt: Man wird direkt von der ersten Seite an mitgerissen. Die Handlung setzt sofort ein. Eine betrunkene Frau kehrt zurück und erhält auf ihr Handy bedrohliche Nachrichten von einem Unbekannten. Er hat sich scheinbar Zugang zu ihrer Wohnung verschafft und lauert ihr auf. Man kann sich denken, wie das ausgeht… Die Ermittler Hunter und Garcia, die für besonders brutale Verbrechen zuständig sind, nehmen sich der Sache an. Was sie am Tatort sehen müssen, übersteigt alles, was sie bisher in ihrer beruflichen Laufbahn zu sehen bekommen haben (da ich die übrigen Bände nicht kenne, kann ich das nicht überprüfen). Und für alle Leserinnen und Leser von Cosy Crime kann ich diese Passage wirklich nicht empfehlen. Es werden keine drastischen Details bei der Schilderung ausgelassen.

 

Die Vorstellung, mit welcher sadistischen Veranlagung der Täter den Mord ausgeführt haben muss, geht unter die Haut. Danach werden dann die verschiedenen Abläufe der Polizeiarbeit geschildert und es geschehen noch weitere Morde (ganz klassisch). Ein Serienmörder treibt sein Unwesen. Und er verfährt immer wieder nach einem ähnlichen Muster. Bei allen Geschehnissen legt der Autor Wert auf eine detaillierte Beschreibung und zeigt, dass er sich gut in den verschiedenen Arbeitsbereichen auskennt. Auch die psychologische Ebene, die durchscheint, wenn z.B. der Täter näher charakterisiert wird oder wenn die Krankheit der Depression, die stellenweise eine Rolle spielt, thematisiert wird, ist profund ausgearbeitet, gelungen und plausibel. Carter bringt Expertise mit, das merkt man.

 

Der Spannungsbogen ist durchweg hoch. Es wird schnell getaktet und mit hoher Ereignishaftigkeit erzählt. Ständig passiert etwas Neues, neue Erkenntnisse kommen zum Vorschein, ein neues Opfer wird gefunden oder die Zeugen liefern wichtige Aussagen, die die Handlung wieder vorantreiben. Bei Carter gibt es keinen Stillstand und keine Längen. Er versteht es auch hervorragend, immer wieder bestimmte Erwartungshaltungen zum weiteren Handlungsverlauf bei den Leserinnen und Lesern aufzubauen und dann zu bedienen oder zu durchbrechen. Die Ermittlungen schreiten stetig voran. Und die Mordserie, die über den Roman hinweg ausgebreitet wird, ist ausgeklügelt, ausgefallen, abwechslungsreich und durchdacht. Und das alles kommt mir persönlich entgegen. Ich mag es, wenn Thriller temporeich und kreativ gestaltet sind. Das ist hier definitiv der Fall. Und hier ähnelt Chris Carter mit seiner dynamischen Schreibweise einem Arno Strobel oder einem Max Bentow.

 

Und noch etwas ist mir positiv aufgefallen: Die Auflösung. Am Ende fügt sich bei Carter alles schlüssig zusammen. Alles greift logisch und nachvollziehbar ineinander. Kein Handlungselement bleibt offen. Das ist geschickt arrangiert und beweist einmal mehr, dass der Autor seinen Plot sehr gut durchdacht hat. Und noch etwas: Das Prinzip des Thrillers verändert sich gegen Ende von einem „whodunit“ zu einem „howcatchem“-Thriller. Ab einem gewissen Punkt, weiß man, wer der Täter ist. Von diesem Zeitpunkt an, liest man gebannt, ob und wie Hunter und Garcia den Mörder erwischen werden. Auch das ist außerordentlich gelungen arrangiert, wie ich finde.


Was ich an positiven Punkten benannt habe (Tempo, Dynamik, Ereignishaftigkeit), hat aber seinen Preis, was die Charakterzeichnung angeht. Hunter und Garcia kommen in diesem einen Band etwas konturenlos daher. Vielleicht ist das anders, wenn man die anderen Bände kennt. Aber in „Blutige Stufen“ empfand ich die Individualität der Ermittler nicht stark ausgeprägt, sie sind in ihrer jeweiligen Charakteristik kaum unterscheidbar. Das Privatleben der Ermittler spielt in diesem Band keine Rolle (und das hat mich auch nicht gestört). Aber für die beiden Hauptfiguren hätte ich mir doch mehr (individuelles) Profil und noch ein wenig mehr Tiefgründigkeit gewünscht.

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