Glücksmomente
Doch
der Protagonist wirkt auf mich selbstreflektiert und ist seinem Stress nicht
hilflos ausgeliefert. Er nimmt ihn schließlich wahr, treibt Sport und findet zwischendurch
immer auch Ruhemomente. Er weiß, wie er aus seinem stressigen Alltag ausbrechen
kann. Aber dennoch ist er mit seinem Leben nicht zufrieden. Auf einer
morgendlichen Jogging-Runde begegnet er Karl, mit dem er ins Gespräch kommt und
von dem er einen alternativen Lebensentwurf kennen lernt. Beim gemeinsamen
Kaffee verwickelt Karl den Erzähler in ein Gespräch, in dem er am Leben seines
Gegenübers Anteil nimmt. Er und Karl lernen sich nicht nur oberflächlich
kennen: „Karl wusste nach einer Stunde mehr
von mir als mein Chef nach zehn gemeinsamen Jahren Bürotür an Bürotür“ (S. 22).
Karl
berichtet von seinem Leben und wie er ihm eine glückliche Wendung gab.
Irgendwann stellte er sich die entscheidenden Fragen: „Warum habe ich nicht
viel mehr mein eigenes Leben gelebt, warum war es mir so wichtig, die
Erwartungen anderer zu erfüllen? Warum hab ich so viel Zeit mit Arbeit
verbracht, anstatt mit Menschen und Dingen, die mir wirklich etwas bedeuten?
Aber auch: Warum hab ich mir selbst nicht oft genug erlaubt, einfach das zu
tun, was mir guttut? Und warum hab ich nicht mehr im Leben gewagt? Was hätte
schon passieren sollen“ (S. 33-34).
Es
macht den Eindruck, als ruhe Karl in sich selbst und habe sein Glück gefunden.
Auch die Rolle des Smartphones wird stellenweise immer einmal wieder kritisch
beleuchtet. Karl lässt den Erzähler für einen Tag an seinem Leben teilhaben.
Und der Lebensstil imponiert seinem Gast. Die Herzlichkeit, Güte und
Gelassenheit von Karl werden zu einem Glücksmoment, zu einem Innehalten. Raus
aus dem alltäglichen „Hamsterrad“, hinein ins Glück und in die Zufriedenheit.
Der Kontrast zwischen dem beruflichen Aussteiger Karl einerseits und dem Erzähler
als städtischen Berufsmenschen andererseits wird nur allzu deutlich. Karl hat
sich seinen Lebenstraum erfüllt. Er ist Landwirt und Selbstversorger geworden,
lebt von seiner eigenen Hände Arbeit.
Der
Erzähler öffnet sich gegenüber seinem Gastgeber. Etwas, das ihm bei anderen
Menschen nicht so leicht möglich ist. Zwischen beiden Gesprächspartnern, die
sich ja kaum kennen, entsteht innerhalb kürzester Zeit eine große
Verbundenheit. Und der Protagonist lernt im Gespräch einiges dazu. So berichtet
ihm Karl auch von seinen Reisen durch die Welt, wo ihm Mohamed begegnete.
Dieser gab ihm folgende Kriterien mit auf den Weg, wenn es darum geht,
schwierige Lebensentscheidungen für oder gegen etwas zu treffen: „Erstens: Gibt
es dir Liebe und Frieden? Zweitens: Gibt es dir Lebensfreude und Energie?
Drittens: Gibt es dir Freiheit und Selbstbestimmung? Viertens: Gibt es dir Ruhe
und Halt?“ Der Hof und Karls Leben werden für den Erzähler zu einem
Sehnsuchtsort. Das ist deutlich spürbar. Anders als sein Gast ist der Landwirt
aus dem „höher-schneller-weiter-Karussell“ ausgestiegen und genießt den
Müßiggang.
Im
Gespräch wird am Beispiel des Tennisspiels auch der Leistungsgedanke
diskutiert. Nach Ansicht des Erzählers bringe dieser nicht nur Vorteile mit
sich. Bücher, Musik und Kunst gehören hingegen für Karl als Ausdruck von
Emotionalität zum Leben dazu. Wir erfahren auch, dass Karl krank ist. Er leidet
unter eine chronisch-entzündlichen Autoimmunerkrankung, die fortschreitend
verläuft und unheilbar ist. Und für den Umgang mit der Krankheit hat Karl
abermals einen weisen Rat: „Es ginge nicht darum, sich zu fragen: Warum ich?
Sondern: Warum nicht ich? Die Krankheit sei jetzt Teil von mir. Ich dürfe ihr
nicht zu viel Beachtung schenken. Auch nicht in schwachen Momenten. Eine andere
Existenz würde ich nun mal nicht bekommen“ (S.160-161). Das Treffen des Erzählers
mit Karl führt zu einer neuen Freundschaft. Ein weises Buch, das Schäfer
vorlegt. Eines mit vielen lebenswichtigen Botschaften. Ich wünschte mir, dass die Leserschaft in ihrem Leben auch jemanden wie Karl kennen lernt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen