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Mittwoch, 5. März 2025

Harvey, Samantha - Umlaufbahnen


„Es werde Licht“



Wir befinden uns in der faszinierenden Gedankenwelt von Astronauten, die von oben auf die Erde blicken und eine völlig veränderte Zeitwahrnehmung erfahren, weil sie einen anderen kosmischen Rhythmus erleben. An einem Arbeitstag im All geht die Sonne 16-mal auf und unter. Gleichzeitig wird deutlich, wie verletzlich und zerbrechlich die Erde ist. Inmitten des unendlichen Nichts eine Kugel voll von Leben, winzig und schutzlos den Kräften des Alls ausgeliefert.


Der Aufenthalt auf der Raumstation erfüllt die Astronauten mit Glückseligkeit, doch gleichzeitig sind sie nicht für diese lebensfeindliche Umwelt gemacht. Täglich müssen sie viel Sport treiben, um dem Muskelschwund zu begegnen, der durch die Schwerelosigkeit verursacht wird. Und auch die Wahrnehmung von Raum verändert sich dort oben. Die Welt erscheint als Ganzes, sie wird holistisch wahrgenommen. Länder rasen vorbei. Und von den Spuren des Lebens auf der Erde sieht man nur etwas im Dunkeln der Nacht, wenn sich die Menschen durch Beleuchtung verraten. Im Hinterkopf auch stets die Frage, ob wir allein im Universum sind und was der eigentliche Zweck der Raumfahrt ist.  


Der Tagesablauf auf der Raumstation wird beschrieben. Er ist eng getaktet, unterbrochen nur von Kontaktaufnahmen zu Angehörigen auf der Erde und den Mahlzeiten, und die Astronauten sind ständig eingebunden in Aufgaben. Wissenschaftliche Untersuchungen und meteorologische Beobachtungen müssen durchgeführt werden. U.a. wird die Erde spektrografisch vermessen. Und herausfordernd ist auch das Fehlen von Privatsphäre. Ständiges Zusammensein mit anderen, wenig Rückzugsmöglichkeiten, beschränkt auf einen kleinen Raum. Ein Leben mit vielen Entbehrungen. Sehnsucht nach den Liebsten auf der Erde und unter ständiger Kontrolle und Beobachtung. Der psychologische Druck ist hoch.


Was mir an diesem Buch außerordentlich gut gefallen hat, ist, dass man sich an das Leben auf der Raumstation einfühlen kann. Und die Autorin schafft es hervorragend, die verschiedenartigen Lichteffekte, die von der Erdoberfläche ausgehen, und das kosmische Farbenspiel in Worte zu fassen und zu beschreiben. Es ist beachtlich, wie kreativ und gelungen die Formulierungen sind, um das visuelle Erleben einzufangen. Interessant ist auch, dass die fiktive Handlung des Buchs wenige Jahre in der Zukunft verortet ist. Es ist die Rede von der ersten Astronautin auf dem Weg zum Mond (ein Vorgriff auf die kommende Artemis-Mission).


Der Erzählton dieses Buchs ist ruhig, auf Handlungsebene passiert nicht viel. Im Zentrum stehen v.a. die Schilderungen des Lebens an Bord der Station sowie die Beschreibung der Wahrnehmung der Astronauten. Faszination übt z.B. auch das Schauspiel des Wetters auf der Erde aus. Es wird wenig geredet. Trotzdem gibt es zwischendurch immer wieder einige Highlights, so z.B. die Darstellung des Erlebens eines Außenbordeinsatzes oder ein kurzer Abriss der kosmischen Evolution: „Im kosmischen Kalender des Universums und des Lebens, demzufolge der Urknall am 1. Januar vor fast vierzehn Milliarden Jahren stattfand (…) wurden die ersten Galaxien gegen Ende Januar geboren (…) am 14. September vor vier Milliarden Jahren (das meinen zumindest einige) bildete sich dann eine Art Leben auf der Erde (…) Der erste Weihnachtstag (…) da betraten die Dinosaurier für ihre fünf Tage Ruhm die Bühne. (…) Sechs Sekunden vor Mitternacht kam Buddha (…) In der letzten Sekunde des kosmischen Jahres folgen die Industrialisierung, Faschismus, der Verbrennungsmotor (…)“ (S. 182-185).


Das Buch ist für solche Leserinnen und Leser geeignet, die sich in das innere Erleben von Astronauten auf einer Raumstation hineinversetzen wollen und sich dabei auf poetische Sprache einlassen können. Es gibt keine spannungserregenden Impulse oder einen roten Faden. Die Beschreibungen zeichnen sich durch Handlungsarmut aus. Daran sollte man sich nicht stören. Mir persönlich hat das Buch sehr gut gefallen, weil man sich, wie schon oben erwähnt, gut in das Leben an Bord der Station einfühlen konnte.

Samstag, 1. März 2025

Esipov, Vladimir - Die russische Tragödie


Russische Mentalitätsgeschichte 



Der Autor des Buchs „Die russische Tragödie“ ist selbst in Russland geboren und aufgewachsen und kennt die Kultur des Landes somit aus erster Hand. Er wirft einen kritischen Blick auf seine eigene Heimat und berichtet davon, wie sich Russland in den letzten dreißig Jahren verändert hat. Dabei ist er sehr gut in der Lage, Zusammenhänge zu verdeutlichen und mögliche Gründe aufzuzeigen, warum aus Russland eine Nation geworden ist, die sogar vor einem Angriffskrieg auf die Ukraine nicht mehr zurückgeschreckt hat. Seine Analyse der russischen Gesellschaft wirkt auf mich kenntnisreich und weitestgehend sehr plausibel (soweit ich das selbst überhaupt aus der Ferne beurteilen kann). Die Darstellung liest sich insgesamt sehr eingängig. Die Sprache ist klar. Und er stellt in seinem Vorwort eine wichtige Frage: „Was tun mit dem größten Land des Kontinents, das sich in den letzten dreißig Jahren in mancher Hinsicht stärker verändert hat als einige europäische Länder in den letzten zweihundert Jahren?“ (S. 10)


Kapitel 1 – Die „starke Hand“

Der Autor wirft einen Blick zurück in das Jahr 1999, das seiner Meinung nach ein schicksalhaftes Jahr gewesen ist. Einerseits hat die NATO trotz des Protests aus Moskau in den Jugoslawien-Konflikt eingegriffen, andererseits ist nach der Absetzung Primakovs durch Jelzin ein Machtvakuum im Kreml entstanden (wer erinnert sich heute noch an Primakov und Stepaschin?), an dessen Ende sich Putin durchsetzte, obwohl er zum damaligen Zeitpunkt völlig unbekannt war und man ihm keine großen Chancen bei der Präsidentschaftswahl zutraute. Des Weiteren verweist der Autor auf die schwierigen demokratischen Anfänge und großen wirtschaftlichen Probleme in Russland in den 1990er Jahren, die viel Unsicherheit erzeugten. Den Menschen ist durch die Inflation immer wieder unmöglich gemacht worden, Geld zu sparen bzw. Vermögen zu bilden. Und die Russen haben schnell gemerkt, dass die Demokratie nicht dazu führte, dass es ihnen spürbar besser ging. Die Freiheit der postsowjetischen Zeit ist zu wenig von Rechtsstaatlichkeit gestützt worden, so Esipov. Es haben anarchistische Zustände geherrscht, bei denen sich die Stärksten auf Kosten der Allgemeinheit bereichert haben. Eine starke moralische Desorientierung in der Gesellschaft ist spürbar gewesen. Die Menschen in Russland bringen die demokratischen Anfänge noch heute v.a. mit Existenzängsten in Verbindung. Inflation und Lebensmittelknappheit haben den Alltag der Russen in den 1990er Jahren beherrscht. Noch dazu hat Jelzin in der Öffentlichkeit kein gutes Bild abgegeben, was viele Russen im Inland verstörte. Hartnäckig hielten sich Gerüchte darüber, ob er zu viel trinkt.

 

Kapitel 2 – Der Untergang

Der Autor widmet sich den chaotischen Zuständen Anfang der 1990er Jahre. Er erläutert, dass aus der Sowjetunion 15 neue Nationalstaaten mit einer eigenen nationalen Identität und einer eigenen Amtssprache hervorgegangen sind. Neue Grenzen sind entstanden, Grenzkontrollen sind eingeführt worden. In den baltischen Staaten hat plötzlich eine Visapflicht für Russen gegolten. Und viele Länder haben möglichst rasch aus der Sowjetunion austreten und eigenständig werden wollen. Eigene Armeen und Währungen sind gegründet bzw. eingeführt worden. Gleichzeitig hat sich in vielen Nationalstaaten ein neues Nationalbewusstsein entwickelt. Und dennoch hat es in vielen Ländern russische Minderheiten gegeben, die weder der neuen Amtssprache mächtig waren noch mit den neuen Entwicklungen zufrieden waren. Teilweise haben diese Minderheiten ihrerseits wieder nach Unabhängigkeit gestrebt. Kurzum: Ethnische Konflikte sind vorprogrammiert gewesen.

Diese beschriebenen geopolitischen Verwerfungen waren aber nicht der einzige Grund dafür, warum Chaos herrschte. Auch die Lebensmittelversorgung ist problematisch gewesen. Anfang der 1990er Jahre musste der Lebensmittelverkauf rationiert werden. Diese Erfahrungen haben sich tief ins kollektive Gedächtnis der Russen eingebrannt. Das einstmals stolze Russland hat in einer tiefen Versorgungskrise gesteckt. Kein Wunder, dass sich die Russen (auch heute noch) v.a. nach Stabilität und Ordnung sehnen.

Weiterhin hat es politische Umwälzungen sowie eine Hyperinflation zu Beginn der 1990er Jahre gegeben. Letztere hat zur Enteignung der Bürgerinnen und Bürger geführt. Anhand der Analyse des Autors wird in meinen Augen gut deutlich, wie die Sowjetunion nach 1990 als einstige Supermacht plötzlich „implodierte“ und politisches und wirtschaftliches Chaos herrschte. Der Preis, den die Bürger für ihre Freiheit zahlen mussten, war hoch. Armutsgefährdung griff um sich. Kriminalität entstand, weil der Rechtsstaat nicht souverän genug agieren konnte. Esipov spricht von einer „Bereicherungsmentalität“. Kurzum: Keine gute Grundlage für eine Vertrauensbildung in die Demokratie.

 

Kapitel 3 – Die Wahlen

In diesem Kapitel rückt das Thema „Wahlen“ in den Fokus. Esipov wirft einen Blick zurück auf das Jahr 1996, als Boris Jelzin sich für eine zweite Amtszeit bewarb. Jelzins Gegner war ein Kommunist namens Zjuganov, der in den Umfragen führte. Niemand hat gewusst, wie die Wahl ausgeht. Doch Jelzin hat es geschafft, die öffentliche Meinung mit einer Kampagne zu drehen. Dafür hat er eine unglaubliche TV-Präsenz an den Tag gelegt und auf das Mittel der Dämonisierung seines Gegners zurückgegriffen. Jelzin hat gar die Angst vor einem Bürgerkrieg geschürt. Nach Ansicht des Autors öffnete dieser Wahlkampf der öffentlichen Meinungsmanipulation Tür und Tor. In medialer Hinsicht ist alles unternommen worden, um den kommunistischen Gegenkandidaten zu verhindern. Sowohl die Oligarchen als auch die Journalisten waren klar auf der Seite Jelzins. Von einer objektiven Berichterstattung konnte nicht die Red sein, so Esipov. In der Bevölkerung hat dies eine negative Signalwirkung gehabt und die Politikverdrossenheit hat zugenommen. Die Medien, so die Auffassung der Russen, könnten nicht unabhängig berichten.

Und der Autor stellt weitere Analysen dazu an. Er meint, dass die Wahlen in Russland nie wirklich demokratisch gewesen sind. Bei keiner Präsidentschaftswahl hat es z.B. öffentliche TV-Debatten gegeben. Und auch die geringe Wahlbeteiligung ist Ausdruck von Politikverdrossenheit (hier hätte ich mir mehr Zahlen als Belege gewünscht).

Eine weitere Zäsur, auf die Esipov in diesem Kapitel eingeht, ist das Jahr 2012. Proteste haben Putins Wiederwahl begleitet. Danach hat eine Verschärfung von Gesetzen stattgefunden. In den Augen des Autors ist die Zivilgesellschaft vor allem mit folgenden Maßnahmen angegriffen worden: Die Verschärfung des Demonstrations- und Versammlungsrechts sowie eine deutlich stärkere behördliche Kontrolle von Stiftungen, Medien und nicht-staatlichen Organisationen.

 

Kapitel 4 – Die USA

In diesem Kapitel dreht sich alles um den einstigen Gegner der Sowjetunion: Die USA. Schon was die Popkultur Ende der 1980er Jahre betraf, ist die Sowjetunion dem Opponenten klar unterlegen gewesen. Der Lebensstil der Amerikaner ist auch vielen Sowjetbürgerinnen und -bürgern äußerst attraktiv erschienen. Man hat den Klassenfeind als äußerst kreatives und wohlhabendes Land wahrgenommen. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR hat Amerika einige Anstrengungen unternommen, um den einstigen Gegner zu unterstützen. Luftbrücken sind eingerichtet worden, mit denen Medikamente und Lebensmittel nach Russland transportiert worden sind. Es hat einige Initiativen humanitärer Hilfe gegeben, so Esipov. Auch ist Russland Geld geliehen worden, damit es Kredite aufnehmen konnte. Man hat es bei seinem wirtschaftlichen Transformationsprozess beraten. 1996 hat Jelzin im Wahlkampf sogar Unterstützung von amerikanischen PR-Strategen erhalten. Doch bei aller Hilfe gab es nach der Analyse des Autors auch Erniedrigungen. So hat Russland 1998 Zahlungsunfähigkeit anmelden müssen. Und Russlands Protest beim Kosovo-Krieg im Jahr 1999 ist überhört worden. Russland hat sich jahrelang nicht in der Position befunden, Stärke zu demonstrieren. Im Laufe der Jahre hat sich sogar immer mehr die Ansicht durchgesetzt, dass die USA Russland destabilisieren will. Nach Ansicht Esipovs knüpft man unter Putin wieder an das alte Feindbild an und stilisiert Amerika zum Gegner (wie zu Sowjetzeiten). Es macht fast den Eindruck, als hat Russland eine tiefe Kränkung erfahren und will sich nun für die erlittenen Erniedrigungen rächen. Inzwischen lehnt man das amerikanische Modell der individuellen Freiheit wieder ab und Russland will sich wieder als Gegenmodell zu den USA positionieren. Dies ist ein Akt der Selbstbehauptung, so der Autor. Wie zu Sowjetzeiten isoliert sich Russland damit v.a. wieder selbst. Und die Unterstützung der Amerikaner für die Ukraine wird als Bestätigung für die genannte These angesehen, dass die USA Russland schaden und es zerstören will.

 

Kapitel 5 – Die Presse

Esipov verweist darauf, dass Journalisten in Russland sehr gefährlich leben. Dies verdeutlicht er am Beispiel von Anna Politkovskaja, die 2006 ermordet wurde. Dabei hat der kritische Journalismus zu Beginn der 1990er Jahre eine kurze Blütephase erlebt. Die Medien haben die Arbeit von Politikern kritisch begleitet und sind eine wichtige Stütze der Zivilgesellschaft gewesen. Doch die wirtschaftlichen Verwerfungen und die Not der Menschen, die mit ihren eigenen Problemen beschäftigt waren, haben verhindert, dass ein kritischer Journalismus dauerhaft Fuß fassen konnte. Der Autor zählt die vielen Opfer namentlich auf, die im Laufe der Zeit (und noch vor Politkovskaja) ermordet worden sind. Freie Medien werden vom Staat als Gefahr für die gesellschaftliche Stabilität und Ordnung angesehen. Esipov erläutert auch die schwierigen Ausbildungsverhältnisse von Journalisten. Die Ausbildungsstandards haben zu wünschen übriggelassen. Dementsprechend ist die Qualität der journalistischen Arbeit auch nicht immer tadellos gewesen, so der Autor. Es hat jede Menge Falschmeldungen gegeben. Und der Journalismus ist aufgrund seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit nicht frei von Einflussnahme von außen gewesen. Aus diesem Grund begegnen viele Russen der Berichterstattungen immer auch mit einer gewissen Skepsis. Gleichzeitig hat der Staat die Pressefreiheit nach und nach weiter ausgehöhlt und die freie Meinungsäußerung Schritt für Schritt stärker eingeschränkt. Eine weitere negative Entwicklung ist gewesen, dass sich europäische Verlage nach einem Zwischenhoch allmählich vom russischen Markt zurückgezogen haben. Zwar hat es eine Zeit lang für russische Journalistinnen und Journalisten das Angebot von Fortbildungen im Ausland gegeben, doch mit der Zeit sind diese Bemühungen vom russischen Staat immer weiter beschnitten worden. Die ausländischen Fortbildungsveranstaltungen und Programme sind nach und nach eingestellt worden. Und der Autor zählt weitere Gründe auf, warum sich eine freie Presse in Russland nicht etablieren konnte: das Fehlen von Rechtsstaatlichkeit und einer unabhängigen Justiz sowie eines kaufkräftigen Publikums. Seit den 2000er Jahren ist die staatliche Kontrolle über Medien und Zeitungen immer größer geworden. Mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Gleichschaltung der Medien ihren Höhepunkt erreicht und es wird wieder an die sowjetische Berichterstattung der 1970er Jahre angeknüpft, so Esipov. Es ist wieder die Rede von Militär und präventiven Atomschlägen, von Waffen und von westlicher Bedrohung. Kritische Massenmedien werden als ausländische Agenten eingestuft, um ihnen die Legitimität abzusprechen. Nun ist die Meinungsbildung wieder verstaatlicht und die Propaganda agiert ganz im Sinne des Kremls.

 

Kapitel 6 – Das Geld

Esipov erläutert, dass einige wenige, die Reichtum angehäuft haben, diesen auch zur Schau stellen. In Russland herrscht eine unglaubliche Dekadenz. Das macht der Autor am Beispiel der Gastronomie deutlich. Reichtum in Russland geht immer auch mit einer gewissen Prunksucht einher. Man zeigt nach außen, was man hat. Moskau ist eine der teuersten Städte der Welt, unterscheidet sich aber vom Rest des Landes. Es existiert eine riesige Kluft zwischen den Preisen in der Hauptstadt und den Löhnen, die normalen Leuten auf dem Land gezahlt werden. Esipov erklärt das teilweise auch damit, dass nach den Jahren des Verzichtes zu Sowjetzeiten ein regelrechter Konsumwahn nach deren Zusammenbruch ausgebrochen ist. Nach den schwierigen 90er Jahren haben sich die Russen allmählich immer mehr leisten können. Ein wichtiger Grund für die Vermehrung des Wohlstands ist auch der steigende Ölpreis gewesen (ab den 2000er Jahren ist das BIP jedes Jahr um 7% gestiegen, erst ab 2012 ist diese rasante Entwicklung gestoppt worden). Sogar Auslandsurlaube sind möglich geworden. Und noch eine These äußert Esipov: Der Besitz von Statussymbolen ist den Russen wichtiger als politischer Aktivismus. Und der Autor geht noch auf einen weiteren interessanten Aspekt ein: Er vergleicht die Sparquote der Russen mit der der Deutschen. Dabei stellt er heraus, dass die Russen so gut wie überhaupt keine Affinität zum Sparen haben (vermutlich auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus den 1990er Jahren). Weiterhin beschreibt Esipov die tief verankerte Ungerechtigkeit im postsowjetischen Russland und erläutert auch das Steuermodell. Dabei zeigt sich die ganze Härte des Systems. So etwas wie ein Prinzip der Solidarität existiert nicht. Der Spitzensteuersatz liegt bei unglaublichen 15% und die Korruption spielt nach wie vor eine große Rolle (v.a. Bestechungsgelder an Beamte).

 

Kapitel 7 – Das Image im Ausland

In diesem Kapitel beschreibt der Autor zunächst eine persönliche Erfahrung, die er in den 90er Jahren gemacht hat. Er wird bei Deutschen während eines Abendessens mit vielen Klischees zu Russland konfrontiert. Dabei stellt er fest, dass die Ansichten der Gastgeber zu seiner Heimat sehr negativ waren. Doch Esipov wollte nicht bemitleidet, sondern gleichbehandelt werden. Und seiner Einschätzung nach mag es vielen Russen in den 1990er Jahren ebenfalls so gegangen sein. Die Hoffnungen des Auslands, die damals an Russland gerichtet worden sind, sind immens gewesen. Man hat erwartet, dass Russland sich wie Estland entwickelt. Doch eine wirkliche Wende hat es in Russland nicht gegeben, so der Autor. Viele Strukturen sind erhalten geblieben. Das Land hat zwar mit dem Westen eine strategische Partnerschaft angestrebt, aber nicht den Wunsch verspürt, der NATO beizutreten. In Deutschland ist das Bild von Russland darüber hinaus völlig romantisiert worden. Und gleichzeitig haben viele Deutsche gedacht, dass es in Russland überaus gefährlich ist (als Beleg führt der Autor Dokumentationen an, die damals im Fernsehen gezeigt wurden). In den 2000er Jahren ist auch aus diesem Grund in Russland ein Gegengewicht entstanden. Man hat die Deutungshoheit über die Informationen zum Land behalten und ein anderes Bild ins Ausland vermitteln wollen. Der Kreml hat die Medien auch deswegen staatlich kontrollieren wollen, weil man einen angeblich ausländisch geführten Informationskrieg entgegentreten wollte. Russlands Image im Ausland sollte auf diese Weise verbessert werden und gleichzeitig wollte man die eigene Bevölkerung gegen Einflüsse von außen immunisieren. Dabei sind auch die deutschen Medien ins Visier des Kremls geraten. So warf man ihnen vor, ein zu negatives Bild von Russland zu zeichnen. Doch letztlich haben sich mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine alle Hoffnungen, die das Ausland in Russland gesetzt hat, zerschlagen. Es hat eine neue Zeitrechnung begonnen, so Esipov. Und Russland hat mit Butscha sein wahres Gesicht gezeigt.

 

Kapitel 8 – Die Armee

Vladimir Esipov beschreibt einleitend seine Erfahrungen mit dem Militärunterricht zu Sowjetzeiten. Dieser ist 1990 abgeschafft worden. Doch seit dem September 2023 hat das Thema der militärischen Ausbildung wieder in den Schulen Einzug gehalten. Auf diese Weise will man den Grad an Militarisierung im Alltag deutlich erhöhen. Der Staat wendet viel Geld auf, um in die patriotische Erziehung seiner Jugend zu investieren. Darüber hinaus sind inzwischen im ganzen Land sog. militärpatriotische Parks entstanden, die die Bevölkerung in Form von Freilichtausstellungen über die Militärgeschichte des Landes informieren. Das Militär ist zu einem Kernelement der nationalen Identität geworden, so der Autor. Für das Nationalbewusstsein spielen militärische Siege eine große Rolle. Putin hat v.a. in Alexander III ein großes Vorbild gefunden. Es gilt wieder das Prinzip der Abschottung nach außen und der Repression nach innen. Erfolgreiche kriegerische Auseinandersetzungen werden glorifiziert. In diesem Zusammenhang verweist der Autor auch auf das einschneidende Erlebnis des Untergangs der Kursk, bei der die Führung des Landes völlig versagt hat. Die russische Flotte hat sich damals vor den Augen der Öffentlichkeit blamiert. Der eigene Nationalstolz hat sehr darunter gelitten. Man ist nicht in der Lage gewesen, die Seeleute zu retten, und hat auch keine Hilfe aus dem Ausland annehmen wollen. Die damals noch freien Medien haben sehr kritisch über den Vorfall berichtet. Nach Einschätzung des Autors hat das Militär durch dieses Ereignis an Bedeutung gewonnen und Präsident Putin hat daraus gelernt, wie gefährlich ihm eine kritische Berichterstattung werden kann. Abschließend beschreibt der Autor seinen Besuch beim Moskauer Themenpark „Patriot“. V.a. dem Gedenken an den Zweiten Weltkrieg kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Auf einem Schießstand kann man sogar restaurierte Waffen aus dieser Zeit abfeuern. Der Krieg wird als Unterhaltung vermarktet. Für Familien ist er ein beliebtes Ausflugsziel. Und es wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs oberflächlich ist. Man beschränkt sich v.a. auf glamouröse Aspekte. Die dunklen Seiten bleiben ausgeblendet.

 

Kapitel 9 – Der S*x (Pst!)

Hier thematisiert der Autor die intolerante Haltung vieler russischen Bürgerinnen und Bürger zur LGBTQIA+ Bewegung. Durch die siebzigjährige Selbstisolation hat sich keine weltoffene Haltung entwickeln können, so Esipov. Zudem sind die Russen konservativ und prüde. Sexualität ist während der Zeit des Totalitarismus ein Tabuthema gewesen (auch in der Öffentlichkeit). Sexualkundeunterricht z.B. hat es damals an den Schulen nicht gegeben. V.a. rechtsradikale Kräfte agieren heute offen homophob. Der Staat hat zudem einige diskriminierende Gesetze verabschiedet. Der Zusammenbruch der UdSSR hat also letztlich nicht zu einer toleranteren Gesellschaft geführt. Das Gegenteil ist der Fall. Die liberale Haltung des Westens wird strikt abgelehnt. Gleichzeitig hat die sexuelle Befreiung zu Beginn der 1990er Jahre einen starken Geburtenrückgang zur Folge gehabt. Russland kämpft seit Jahren mit einem demographischen Wandel. Die Gesellschaft altert und es gibt immer weniger Nachwuchs. Aus heutiger Sicht ist es erstaunlich, dass dieses Land eine Popgruppe wie T.A.T.u. hervorbrachte, die 2003 sogar am Eurovision Song Contest teilnahm. Nach Einschätzung des Autors ist das Auftauchen dieser Popgruppe der Anfang vom Ende gewesen. Konservative Kräfte haben einige Anstrengungen unternommen, diese popkulturelle Strömung zu unterbinden. Ende 2022 hat die ablehnende Haltung dann ihren Höhepunkt erreicht. Putin hat ein Gesetz verabschiedet, dass die Erwähnung von Homosexualität in den Medien verbietet. Aus den Regalen öffentlicher Bibliotheken sind sogar einige Buchtitel verschwunden, die vermeintlich anrüchigen Inhalt thematisieren. Und an die Stelle des Sexualkundeunterrichts in den Schulen ist nun die Militärausbildung gerückt, so der Autor.

 

Kapitel 10 – Die Sehnsüchte der Mittelschicht

Mit Beginn des Angriffskriegs in der Ukraine haben über 1000 Firmen Russland verlassen (dazu zählen z.B. auch IKEA und Adidas sowie VW). Insbesondere IKEA ist ein Symbol für westlichen Lebensstandard und hat einen unglaublichen Boom erlebt. Die erste Filiale wurde im Jahr 2000 in Moskau eröffnet. Doch anders als erwartet, haben die russischen Bürgerinnen und Bürger nicht geschockt auf den Rückzug von IKEA reagiert. Die Bevölkerung hält bis heute still. Eine Revolution bleibt nach wie vor aus. Auch wenn sich der Westen vielleicht etwas anderes erhofft hat, reagieren die Russen nicht wütend. Stattdessen fügen sie sich ihrem Schicksal und meiden weiterhin die Politik als Betätigungsfeld. Krisen werden von der Bevölkerung als gegeben hingenommen, die sich sowieso nicht ändern lassen. Es gibt keine Bereitschaft zum Protest. Der Autor stellt die These in den Raum, dass die Russen mit der Öffnung des Landes überfordert gewesen sind. Vermutlich ist sie zu schnell verlaufen. An die Stelle von Modernität rückt nun Rückwärtsgewandheit. Das Verlangen nach Demokratie ist nicht größer geworden, obwohl die Kaufkraft im Laufe der Jahre zugenommen hat. Zwar haben die Sanktionen dazu geführt, dass aus den heimischen Regalen viele Produkte verschwunden sind, aber sie sind durch heimische Produkte ersetzt worden. Die Sanktionen sind letztlich wirkungslos geblieben. Es ist kein Widerstand entstanden. In den Augen des Autors sind die Russen äußerst resilient und anpassungsfähig. Und die Mittelschicht tickt anders als in anderen Ländern. Sie ist Unsicherheit gewohnt. Die Sparquoten sind gering, es wird nicht weit in die Zukunft geplant und sie erwartet nicht viel vom Staat. Auch die Korruption wird hingenommen. Ernsthafte Bemühungen, diese in den Griff zu kriegen, gibt es nicht. Zwar hat der Wunsch nach Konsum zugenommen, nicht aber das Verlangen nach Freiheit.

 

Kapitel 11 – Die Nachbarn und ihre Revolutionen

In diesem Kapitel betrachtet der Autor u.a. das Verhältnis Russlands zur Ukraine genauer. Den Anfang bildet eine Erzählung zu einem Fußballspiel von 1999, bei dem Russland im Spiel gegen die Ukraine wegen eines Eigentors nicht an der EM teilnahm. Das problematische Verhältnis zwischen beiden Ländern ist schon damals deutlich geworden, so Esipov.

Des Weiteren thematisiert der Autor die Ereignisse um die Machtübernahme in Georgien durch Saakaschwili. Georgien ist ein Vorreiter gewesen, was die Orientierung am Westen betrifft. Georgien hat sich von der Kontrolle durch Moskau befreien wollen. Doch nach der Machtübernahme hat sich die Beziehung zwischen beiden Ländern verschlechtert. Die Differenzen mündeten im 5-Tage-Krieg um Südossetien und Abchasien. Das Verhältnis beider Länder ist bis heute angespannt.

In der Ukraine ist die Präsidentschaftswahl von 2004 entscheidend gewesen. Damals haben sich die Ukrainer schon zwischen einem westlich (= Juschtschenko) und einem östlich (= Janukowitsch) orientierten Kandidaten entscheiden müssen. Janukowitsch gewann zwar die Wahl, aber man ging von einem Wahlbetrug aus und ein Protest begann. Die sog. Orangene Revolution. Es kam zu einer schweren innenpolitischen Krise, die Moskau überhaupt nicht gefiel. Das Land war tief gespalten und zerstritten. Das oberste Gericht entschied, dass die Stichwahl wiederholt werden musste und diese entschied Juschtschenko für sich. Der Kreml ist entsetzt gewesen. Russland hat sich abgelehnt gefühlt. Der zivilgesellschaftliche Protest in der Ukraine hat den Kreml so verängstigt, dass Gesetze verabschiedet worden sind, mit denen man verhindern wollte, dass in Russland so etwas wie in der Ukraine geschehen kann.

Und auch das Jahr 2013 ist ein wichtiger Einschnitt gewesen. Damals hat sich die Ukraine zwischen einer Annäherung an die EU oder an Russland entscheiden müssen. Eine Zustimmung zum Assoziierungsabkommen bedeutete eine Absage an die Zollunion mit Russland. Als das Abkommen der EU im letzten Moment abgelehnt werden sollte, kam es zu neuerlichen Protesten im Land. Die Situation eskalierte. Es kam zu Todesfällen und Janukowitsch musste fliehen. Die Ukrainer hatten damals keine Angst sich gegen die Gewaltanwendung zur Wehr zu setzen, die gegen sie eingesetzt wurden. Gleichzeitig hat Russland damals Gegenmaßnahmen ergriffen und die Krim annektiert. Der Krieg mit der Ukraine begann…

Auch die Ereignisse in Kirgisistan nimmt der Autor in den Blick. Auch dort ist es angesichts des Vorwurfs einer Wahlfälschung zu Tumulten gekommen. In Russland hat sich die Ansicht verbreitet, dass die Revolutionen von außen gesteuert werden (v.a. von den USA). Nach Esipov hat Russland folgende Lehre aus den Ereignissen in Georgien, der Ukraine und Kirgisistan gezogen: Die Schwächung der Zivilgesellschaft! Am Beispiel von Belarus erläutert der Autor aber auch, dass die Proteste nicht überall in sog. postsowjetischen Ländern zu Erfolg geführt haben. Lukaschenko hat sich mit massiver Gewaltanwendung an der Macht gehalten (unterstützt auch durch Russland). Dort ist die Opposition brutal „niedergeknüppelt“ worden.

 

Kapitel 12 – Der allgegenwärtige Tod

Der Autor beschreibt eine Verrohung des medialen Alltags. Im Fernsehen werden häufig Gewaltverbrechen gezeigt. Mord und Totschlag bestimmen das Programm, und das zu jeder Sendezeit. V.a. drei Ereignisse sind medial ausgeschlachtet worden und haben die Gesellschaft in einen lethargischen Ohnmachtszustand versetzt: 1. Der Untergang der Kursk, 2. Die Geiselnahme im Bolschoi-Theater und 3. Das Attentat auf eine Schule in Beslan. Diese nationalen Tragödien sind von der Bevölkerung hoffnungsvoll am Fernseher verfolgt worden. Die Russen haben auf einen guten Ausgang gehofft und sind dann doch enttäuscht worden.

Hinzu kommen die vielen Auftragsmorde, die v.a. in den 1990er Jahren ihren Höhepunkt erreichten. Immer wieder hat es prominente Opfer gegeben (Journalisten, Politiker, Bänker, Geschäftsleute etc.).

 

Kapitel 13 – Die unerträgliche Gemütlichkeit des Seins

Der Autor erläutert, dass die Sanktionen des Westens kaum Wirkung zeigen. Auf illegalen Umwegen finden viele Markenprodukte doch ihren Weg in die Regale. In der russischen Gesellschaft machen sich zudem Ohnmacht und Apathie breit. Das Gespräch über die Ukraine wird gemieden. Die Hoffnung, dass die Sanktionen die Bevölkerung kritischer gegenüber dem Regime werden lassen, hat sich nicht erfüllt. Die Leidensfähigkeit und das Improvisationstalent der Russen ist immens.