Russische Mentalitätsgeschichte

Der Autor des Buchs „Die russische Tragödie“ ist selbst in Russland geboren und aufgewachsen und kennt die Kultur des Landes somit aus erster Hand. Er wirft einen kritischen Blick auf seine eigene Heimat und berichtet davon, wie sich Russland in den letzten dreißig Jahren verändert hat. Dabei ist er sehr gut in der Lage, Zusammenhänge zu verdeutlichen und mögliche Gründe aufzuzeigen, warum aus Russland eine Nation geworden ist, die sogar vor einem Angriffskrieg auf die Ukraine nicht mehr zurückgeschreckt hat. Seine Analyse der russischen Gesellschaft wirkt auf mich kenntnisreich und weitestgehend sehr plausibel (soweit ich das selbst überhaupt aus der Ferne beurteilen kann). Die Darstellung liest sich insgesamt sehr eingängig. Die Sprache ist klar. Und er stellt in seinem Vorwort eine wichtige Frage: „Was tun mit dem größten Land des Kontinents, das sich in den letzten dreißig Jahren in mancher Hinsicht stärker verändert hat als einige europäische Länder in den letzten zweihundert Jahren?“ (S. 10)
Kapitel 1 –
Die „starke Hand“
Der Autor
wirft einen Blick zurück in das Jahr 1999, das seiner Meinung nach ein
schicksalhaftes Jahr gewesen ist. Einerseits hat die NATO trotz des Protests
aus Moskau in den Jugoslawien-Konflikt eingegriffen, andererseits ist nach der
Absetzung Primakovs durch Jelzin ein Machtvakuum im Kreml entstanden (wer
erinnert sich heute noch an Primakov und Stepaschin?), an dessen Ende sich
Putin durchsetzte, obwohl er zum damaligen Zeitpunkt völlig unbekannt war und
man ihm keine großen Chancen bei der Präsidentschaftswahl zutraute. Des
Weiteren verweist der Autor auf die schwierigen demokratischen Anfänge und
großen wirtschaftlichen Probleme in Russland in den 1990er Jahren, die viel
Unsicherheit erzeugten. Den Menschen ist durch die Inflation immer wieder unmöglich
gemacht worden, Geld zu sparen bzw. Vermögen zu bilden. Und die Russen haben schnell gemerkt, dass die Demokratie nicht dazu führte, dass es ihnen spürbar
besser ging. Die Freiheit der postsowjetischen Zeit ist zu wenig von
Rechtsstaatlichkeit gestützt worden, so Esipov. Es haben anarchistische
Zustände geherrscht, bei denen sich die Stärksten auf Kosten der Allgemeinheit
bereichert haben. Eine starke moralische Desorientierung in der Gesellschaft
ist spürbar gewesen. Die Menschen in Russland bringen die demokratischen Anfänge
noch heute v.a. mit Existenzängsten in Verbindung. Inflation und
Lebensmittelknappheit haben den Alltag der Russen in den 1990er Jahren
beherrscht. Noch dazu hat Jelzin in der Öffentlichkeit kein gutes Bild
abgegeben, was viele Russen im Inland verstörte. Hartnäckig hielten sich
Gerüchte darüber, ob er zu viel trinkt.
Kapitel 2 –
Der Untergang
Der Autor
widmet sich den chaotischen Zuständen Anfang der 1990er Jahre. Er erläutert,
dass aus der Sowjetunion 15 neue Nationalstaaten mit einer eigenen nationalen
Identität und einer eigenen Amtssprache hervorgegangen sind. Neue Grenzen sind entstanden, Grenzkontrollen sind eingeführt worden. In den baltischen Staaten
hat plötzlich eine Visapflicht für Russen gegolten. Und viele Länder haben möglichst rasch aus der Sowjetunion austreten und eigenständig werden wollen.
Eigene Armeen und Währungen sind gegründet bzw. eingeführt worden.
Gleichzeitig hat sich in vielen Nationalstaaten ein neues Nationalbewusstsein
entwickelt. Und dennoch hat es in vielen Ländern russische Minderheiten
gegeben, die weder der neuen Amtssprache mächtig waren noch mit den neuen
Entwicklungen zufrieden waren. Teilweise haben diese Minderheiten
ihrerseits wieder nach Unabhängigkeit gestrebt. Kurzum: Ethnische Konflikte
sind vorprogrammiert gewesen.
Diese
beschriebenen geopolitischen Verwerfungen waren aber nicht der einzige Grund
dafür, warum Chaos herrschte. Auch die Lebensmittelversorgung ist problematisch
gewesen. Anfang der 1990er Jahre musste der Lebensmittelverkauf rationiert
werden. Diese Erfahrungen haben sich tief ins kollektive Gedächtnis der Russen
eingebrannt. Das einstmals stolze Russland hat in einer tiefen
Versorgungskrise gesteckt. Kein Wunder, dass sich die Russen (auch heute noch)
v.a. nach Stabilität und Ordnung sehnen.
Weiterhin
hat es politische Umwälzungen sowie eine Hyperinflation zu Beginn der 1990er
Jahre gegeben. Letztere hat zur Enteignung der Bürgerinnen und Bürger
geführt. Anhand der Analyse des Autors wird in meinen Augen gut deutlich, wie
die Sowjetunion nach 1990 als einstige Supermacht plötzlich „implodierte“ und politisches
und wirtschaftliches Chaos herrschte. Der Preis, den die Bürger für ihre
Freiheit zahlen mussten, war hoch. Armutsgefährdung griff um sich. Kriminalität
entstand, weil der Rechtsstaat nicht souverän genug agieren konnte. Esipov
spricht von einer „Bereicherungsmentalität“. Kurzum: Keine gute Grundlage für
eine Vertrauensbildung in die Demokratie.
Kapitel 3 –
Die Wahlen
In diesem
Kapitel rückt das Thema „Wahlen“ in den Fokus. Esipov wirft einen Blick zurück
auf das Jahr 1996, als Boris Jelzin sich für eine zweite Amtszeit bewarb.
Jelzins Gegner war ein Kommunist namens Zjuganov, der in den Umfragen führte.
Niemand hat gewusst, wie die Wahl ausgeht. Doch Jelzin hat es geschafft,
die öffentliche Meinung mit einer Kampagne zu drehen. Dafür hat er eine
unglaubliche TV-Präsenz an den Tag gelegt und auf das Mittel der Dämonisierung
seines Gegners zurückgegriffen. Jelzin hat gar die Angst vor einem
Bürgerkrieg geschürt. Nach Ansicht des Autors öffnete dieser Wahlkampf der
öffentlichen Meinungsmanipulation Tür und Tor. In medialer Hinsicht ist alles
unternommen worden, um den kommunistischen Gegenkandidaten zu verhindern. Sowohl
die Oligarchen als auch die Journalisten waren klar auf der Seite Jelzins. Von einer objektiven Berichterstattung konnte nicht die Red sein, so
Esipov. In der Bevölkerung hat dies eine negative Signalwirkung gehabt und
die Politikverdrossenheit hat zugenommen. Die Medien, so die Auffassung der
Russen, könnten nicht unabhängig berichten.
Und der
Autor stellt weitere Analysen dazu an. Er meint, dass die Wahlen in Russland
nie wirklich demokratisch gewesen sind. Bei keiner Präsidentschaftswahl hat es z.B. öffentliche TV-Debatten gegeben. Und auch die geringe Wahlbeteiligung
ist Ausdruck von Politikverdrossenheit (hier hätte ich mir mehr Zahlen als
Belege gewünscht).
Eine weitere
Zäsur, auf die Esipov in diesem Kapitel eingeht, ist das Jahr 2012. Proteste
haben Putins Wiederwahl begleitet. Danach hat eine Verschärfung von Gesetzen
stattgefunden. In den Augen des Autors ist die Zivilgesellschaft vor allem mit
folgenden Maßnahmen angegriffen worden: Die Verschärfung des Demonstrations-
und Versammlungsrechts sowie eine deutlich stärkere behördliche Kontrolle von
Stiftungen, Medien und nicht-staatlichen Organisationen.
Kapitel 4 –
Die USA
In diesem
Kapitel dreht sich alles um den einstigen Gegner der Sowjetunion: Die USA.
Schon was die Popkultur Ende der 1980er Jahre betraf, ist die Sowjetunion dem
Opponenten klar unterlegen gewesen. Der Lebensstil der Amerikaner ist auch
vielen Sowjetbürgerinnen und -bürgern äußerst attraktiv erschienen. Man hat den Klassenfeind als äußerst kreatives und wohlhabendes Land wahrgenommen. Nach
dem Zusammenbruch der UdSSR hat Amerika einige Anstrengungen unternommen, um
den einstigen Gegner zu unterstützen. Luftbrücken sind eingerichtet worden,
mit denen Medikamente und Lebensmittel nach Russland transportiert worden sind.
Es hat einige Initiativen humanitärer Hilfe gegeben, so Esipov. Auch ist Russland Geld geliehen worden, damit es Kredite aufnehmen konnte. Man hat es
bei seinem wirtschaftlichen Transformationsprozess beraten. 1996 hat Jelzin im
Wahlkampf sogar Unterstützung von amerikanischen PR-Strategen erhalten. Doch
bei aller Hilfe gab es nach der Analyse des Autors auch Erniedrigungen. So hat Russland 1998 Zahlungsunfähigkeit anmelden müssen. Und Russlands Protest beim
Kosovo-Krieg im Jahr 1999 ist überhört worden. Russland hat sich jahrelang
nicht in der Position befunden, Stärke zu demonstrieren. Im Laufe der Jahre
hat sich sogar immer mehr die Ansicht durchgesetzt, dass die USA Russland
destabilisieren will. Nach Ansicht Esipovs knüpft man unter Putin wieder an
das alte Feindbild an und stilisiert Amerika zum Gegner (wie zu Sowjetzeiten).
Es macht fast den Eindruck, als hat Russland eine tiefe Kränkung erfahren und
will sich nun für die erlittenen Erniedrigungen rächen. Inzwischen lehnt man
das amerikanische Modell der individuellen Freiheit wieder ab und Russland
will sich wieder als Gegenmodell zu den USA positionieren. Dies ist ein Akt der
Selbstbehauptung, so der Autor. Wie zu Sowjetzeiten isoliert sich Russland
damit v.a. wieder selbst. Und die Unterstützung der Amerikaner für die Ukraine
wird als Bestätigung für die genannte These angesehen, dass die USA Russland
schaden und es zerstören will.
Kapitel 5 –
Die Presse
Esipov
verweist darauf, dass Journalisten in Russland sehr gefährlich leben. Dies
verdeutlicht er am Beispiel von Anna Politkovskaja, die 2006 ermordet wurde.
Dabei hat der kritische Journalismus zu Beginn der 1990er Jahre eine kurze
Blütephase erlebt. Die Medien haben die Arbeit von Politikern kritisch
begleitet und sind eine wichtige Stütze der Zivilgesellschaft gewesen. Doch
die wirtschaftlichen Verwerfungen und die Not der Menschen, die mit ihren
eigenen Problemen beschäftigt waren, haben verhindert, dass ein kritischer
Journalismus dauerhaft Fuß fassen konnte. Der Autor zählt die vielen Opfer
namentlich auf, die im Laufe der Zeit (und noch vor Politkovskaja) ermordet
worden sind. Freie Medien werden vom Staat als Gefahr für die gesellschaftliche
Stabilität und Ordnung angesehen. Esipov erläutert auch die schwierigen
Ausbildungsverhältnisse von Journalisten. Die Ausbildungsstandards haben zu
wünschen übriggelassen. Dementsprechend ist die Qualität der journalistischen
Arbeit auch nicht immer tadellos gewesen, so der Autor. Es hat jede Menge
Falschmeldungen gegeben. Und der Journalismus ist aufgrund seiner
wirtschaftlichen Abhängigkeit nicht frei von Einflussnahme von außen gewesen.
Aus diesem Grund begegnen viele Russen der Berichterstattungen immer auch mit
einer gewissen Skepsis. Gleichzeitig hat der Staat die
Pressefreiheit nach und nach weiter ausgehöhlt und die freie Meinungsäußerung
Schritt für Schritt stärker eingeschränkt. Eine weitere negative Entwicklung
ist gewesen, dass sich europäische Verlage nach einem Zwischenhoch allmählich
vom russischen Markt zurückgezogen haben. Zwar hat es eine Zeit lang für
russische Journalistinnen und Journalisten das Angebot von Fortbildungen im
Ausland gegeben, doch mit der Zeit sind diese Bemühungen vom russischen Staat immer
weiter beschnitten worden. Die ausländischen Fortbildungsveranstaltungen und
Programme sind nach und nach eingestellt worden. Und der Autor zählt weitere
Gründe auf, warum sich eine freie Presse in Russland nicht etablieren konnte:
das Fehlen von Rechtsstaatlichkeit und einer unabhängigen Justiz sowie eines
kaufkräftigen Publikums. Seit den 2000er Jahren ist die staatliche Kontrolle
über Medien und Zeitungen immer größer geworden. Mit dem Angriffskrieg auf die
Ukraine hat die Gleichschaltung der Medien ihren Höhepunkt erreicht und es
wird wieder an die sowjetische Berichterstattung der 1970er Jahre angeknüpft,
so Esipov. Es ist wieder die Rede von Militär und präventiven Atomschlägen, von
Waffen und von westlicher Bedrohung. Kritische Massenmedien werden als
ausländische Agenten eingestuft, um ihnen die Legitimität abzusprechen. Nun ist die Meinungsbildung wieder verstaatlicht und die Propaganda agiert ganz im
Sinne des Kremls.
Kapitel 6 –
Das Geld
Esipov
erläutert, dass einige wenige, die Reichtum angehäuft haben, diesen auch zur
Schau stellen. In Russland herrscht eine unglaubliche Dekadenz. Das macht der
Autor am Beispiel der Gastronomie deutlich. Reichtum in Russland geht immer
auch mit einer gewissen Prunksucht einher. Man zeigt nach außen, was man hat.
Moskau ist eine der teuersten Städte der Welt, unterscheidet sich aber vom Rest
des Landes. Es existiert eine riesige Kluft zwischen den Preisen in der
Hauptstadt und den Löhnen, die normalen Leuten auf dem Land gezahlt werden.
Esipov erklärt das teilweise auch damit, dass nach den Jahren des Verzichtes zu
Sowjetzeiten ein regelrechter Konsumwahn nach deren Zusammenbruch ausgebrochen
ist. Nach den schwierigen 90er Jahren haben sich die Russen allmählich immer
mehr leisten können. Ein wichtiger Grund für die Vermehrung des Wohlstands ist auch der steigende Ölpreis gewesen (ab den 2000er Jahren ist das BIP jedes Jahr
um 7% gestiegen, erst ab 2012 ist diese rasante Entwicklung gestoppt worden). Sogar
Auslandsurlaube sind möglich geworden. Und noch eine These äußert Esipov: Der
Besitz von Statussymbolen ist den Russen wichtiger als politischer Aktivismus. Und
der Autor geht noch auf einen weiteren interessanten Aspekt ein: Er vergleicht
die Sparquote der Russen mit der der Deutschen. Dabei stellt er heraus, dass
die Russen so gut wie überhaupt keine Affinität zum Sparen haben (vermutlich
auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus den 1990er Jahren). Weiterhin
beschreibt Esipov die tief verankerte Ungerechtigkeit im postsowjetischen
Russland und erläutert auch das Steuermodell. Dabei zeigt sich die ganze Härte
des Systems. So etwas wie ein Prinzip der Solidarität existiert nicht. Der
Spitzensteuersatz liegt bei unglaublichen 15% und die Korruption spielt nach
wie vor eine große Rolle (v.a. Bestechungsgelder an Beamte).
Kapitel 7 –
Das Image im Ausland
In diesem
Kapitel beschreibt der Autor zunächst eine persönliche Erfahrung, die er in den
90er Jahren gemacht hat. Er wird bei Deutschen während eines Abendessens mit
vielen Klischees zu Russland konfrontiert. Dabei stellt er fest, dass die
Ansichten der Gastgeber zu seiner Heimat sehr negativ waren. Doch Esipov wollte
nicht bemitleidet, sondern gleichbehandelt werden. Und seiner Einschätzung nach
mag es vielen Russen in den 1990er Jahren ebenfalls so gegangen sein. Die
Hoffnungen des Auslands, die damals an Russland gerichtet worden sind, sind immens gewesen. Man hat erwartet, dass Russland sich wie Estland entwickelt.
Doch eine wirkliche Wende hat es in Russland nicht gegeben, so der Autor.
Viele Strukturen sind erhalten geblieben. Das Land hat zwar mit dem Westen
eine strategische Partnerschaft angestrebt, aber nicht den Wunsch verspürt, der
NATO beizutreten. In Deutschland ist das Bild von Russland darüber hinaus
völlig romantisiert worden. Und gleichzeitig haben viele Deutsche gedacht,
dass es in Russland überaus gefährlich ist (als Beleg führt der Autor
Dokumentationen an, die damals im Fernsehen gezeigt wurden). In den 2000er
Jahren ist auch aus diesem Grund in Russland ein Gegengewicht entstanden. Man
hat die Deutungshoheit über die Informationen zum Land behalten und ein
anderes Bild ins Ausland vermitteln wollen. Der Kreml hat die Medien auch
deswegen staatlich kontrollieren wollen, weil man einen angeblich ausländisch
geführten Informationskrieg entgegentreten wollte. Russlands Image im Ausland
sollte auf diese Weise verbessert werden und gleichzeitig wollte man die eigene
Bevölkerung gegen Einflüsse von außen immunisieren. Dabei sind auch die
deutschen Medien ins Visier des Kremls geraten. So warf man ihnen vor, ein zu
negatives Bild von Russland zu zeichnen. Doch letztlich haben sich mit dem
Beginn des Krieges in der Ukraine alle Hoffnungen, die das Ausland in Russland
gesetzt hat, zerschlagen. Es hat eine neue Zeitrechnung begonnen, so Esipov.
Und Russland hat mit Butscha sein wahres Gesicht gezeigt.
Kapitel 8 – Die
Armee
Vladimir
Esipov beschreibt einleitend seine Erfahrungen mit dem Militärunterricht zu
Sowjetzeiten. Dieser ist 1990 abgeschafft worden. Doch seit dem September 2023
hat das Thema der militärischen Ausbildung wieder in den Schulen Einzug
gehalten. Auf diese Weise will man den Grad an Militarisierung im Alltag
deutlich erhöhen. Der Staat wendet viel Geld auf, um in die patriotische
Erziehung seiner Jugend zu investieren. Darüber hinaus sind inzwischen im
ganzen Land sog. militärpatriotische Parks entstanden, die die Bevölkerung in
Form von Freilichtausstellungen über die Militärgeschichte des Landes
informieren. Das Militär ist zu einem Kernelement der nationalen Identität
geworden, so der Autor. Für das Nationalbewusstsein spielen militärische Siege
eine große Rolle. Putin hat v.a. in Alexander III ein großes Vorbild gefunden.
Es gilt wieder das Prinzip der Abschottung nach außen und der Repression nach
innen. Erfolgreiche kriegerische Auseinandersetzungen werden glorifiziert. In
diesem Zusammenhang verweist der Autor auch auf das einschneidende Erlebnis des
Untergangs der Kursk, bei der die Führung des Landes völlig versagt hat. Die
russische Flotte hat sich damals vor den Augen der Öffentlichkeit blamiert.
Der eigene Nationalstolz hat sehr darunter gelitten. Man ist nicht in der Lage
gewesen, die Seeleute zu retten, und hat auch keine Hilfe aus dem Ausland
annehmen wollen. Die damals noch freien Medien haben sehr kritisch über den
Vorfall berichtet. Nach Einschätzung des Autors hat das Militär durch dieses Ereignis an
Bedeutung gewonnen und Präsident Putin hat daraus gelernt, wie gefährlich ihm
eine kritische Berichterstattung werden kann. Abschließend beschreibt der Autor
seinen Besuch beim Moskauer Themenpark „Patriot“. V.a. dem Gedenken an den
Zweiten Weltkrieg kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Auf einem Schießstand
kann man sogar restaurierte Waffen aus dieser Zeit abfeuern. Der Krieg wird als Unterhaltung vermarktet. Für Familien ist er ein beliebtes Ausflugsziel.
Und es wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit der Zeit des Zweiten
Weltkriegs oberflächlich ist. Man beschränkt sich v.a. auf glamouröse Aspekte.
Die dunklen Seiten bleiben ausgeblendet.
Kapitel 9 –
Der S*x (Pst!)
Hier
thematisiert der Autor die intolerante Haltung vieler russischen Bürgerinnen
und Bürger zur LGBTQIA+ Bewegung. Durch die siebzigjährige Selbstisolation hat sich keine weltoffene Haltung entwickeln können, so Esipov. Zudem sind die
Russen konservativ und prüde. Sexualität ist während der Zeit des
Totalitarismus ein Tabuthema gewesen (auch in der Öffentlichkeit).
Sexualkundeunterricht z.B. hat es damals an den Schulen nicht gegeben. V.a.
rechtsradikale Kräfte agieren heute offen homophob. Der Staat hat zudem
einige diskriminierende Gesetze verabschiedet. Der Zusammenbruch der UdSSR hat also letztlich nicht zu einer toleranteren Gesellschaft geführt. Das Gegenteil
ist der Fall. Die liberale Haltung des Westens wird strikt abgelehnt.
Gleichzeitig hat die sexuelle Befreiung zu Beginn der 1990er Jahre einen
starken Geburtenrückgang zur Folge gehabt. Russland kämpft seit Jahren mit
einem demographischen Wandel. Die Gesellschaft altert und es gibt immer weniger
Nachwuchs. Aus heutiger Sicht ist es erstaunlich, dass dieses Land eine
Popgruppe wie T.A.T.u. hervorbrachte, die 2003 sogar am Eurovision Song Contest
teilnahm. Nach Einschätzung des Autors ist das Auftauchen dieser Popgruppe der
Anfang vom Ende gewesen. Konservative Kräfte haben einige Anstrengungen
unternommen, diese popkulturelle Strömung zu unterbinden. Ende 2022 hat die
ablehnende Haltung dann ihren Höhepunkt erreicht. Putin hat ein Gesetz
verabschiedet, dass die Erwähnung von Homosexualität in den Medien verbietet.
Aus den Regalen öffentlicher Bibliotheken sind sogar einige Buchtitel verschwunden,
die vermeintlich anrüchigen Inhalt thematisieren. Und an die Stelle des
Sexualkundeunterrichts in den Schulen ist nun die Militärausbildung gerückt, so
der Autor.
Kapitel 10 –
Die Sehnsüchte der Mittelschicht
Mit Beginn
des Angriffskriegs in der Ukraine haben über 1000 Firmen Russland verlassen
(dazu zählen z.B. auch IKEA und Adidas sowie VW). Insbesondere IKEA ist ein
Symbol für westlichen Lebensstandard und hat einen unglaublichen Boom
erlebt. Die erste Filiale wurde im Jahr 2000 in Moskau eröffnet. Doch anders
als erwartet, haben die russischen Bürgerinnen und Bürger nicht geschockt auf
den Rückzug von IKEA reagiert. Die Bevölkerung hält bis heute still. Eine
Revolution bleibt nach wie vor aus. Auch wenn sich der Westen vielleicht etwas
anderes erhofft hat, reagieren die Russen nicht wütend. Stattdessen fügen
sie sich ihrem Schicksal und meiden weiterhin die Politik als Betätigungsfeld. Krisen werden von der Bevölkerung als gegeben hingenommen, die sich
sowieso nicht ändern lassen. Es gibt keine Bereitschaft zum Protest. Der Autor
stellt die These in den Raum, dass die Russen mit der Öffnung des Landes überfordert
gewesen sind. Vermutlich ist sie zu schnell verlaufen. An die Stelle von
Modernität rückt nun Rückwärtsgewandheit. Das Verlangen nach Demokratie ist nicht größer geworden, obwohl die Kaufkraft im Laufe der Jahre zugenommen
hat. Zwar haben die Sanktionen dazu geführt, dass aus den heimischen Regalen
viele Produkte verschwunden sind, aber sie sind durch heimische Produkte
ersetzt worden. Die Sanktionen sind letztlich wirkungslos geblieben. Es ist kein Widerstand entstanden. In den Augen des Autors sind die Russen äußerst
resilient und anpassungsfähig. Und die Mittelschicht tickt anders als in
anderen Ländern. Sie ist Unsicherheit gewohnt. Die Sparquoten sind gering, es
wird nicht weit in die Zukunft geplant und sie erwartet nicht viel vom Staat.
Auch die Korruption wird hingenommen. Ernsthafte Bemühungen, diese in den
Griff zu kriegen, gibt es nicht. Zwar hat der Wunsch nach Konsum zugenommen,
nicht aber das Verlangen nach Freiheit.
Kapitel 11 –
Die Nachbarn und ihre Revolutionen
In diesem
Kapitel betrachtet der Autor u.a. das Verhältnis Russlands zur Ukraine genauer.
Den Anfang bildet eine Erzählung zu einem Fußballspiel von 1999, bei dem
Russland im Spiel gegen die Ukraine wegen eines Eigentors nicht an der EM
teilnahm. Das problematische Verhältnis zwischen beiden Ländern ist schon
damals deutlich geworden, so Esipov.
Des Weiteren
thematisiert der Autor die Ereignisse um die Machtübernahme in Georgien durch
Saakaschwili. Georgien ist ein Vorreiter gewesen, was die Orientierung am Westen
betrifft. Georgien hat sich von der Kontrolle durch Moskau befreien wollen.
Doch nach der Machtübernahme hat sich die Beziehung zwischen beiden Ländern
verschlechtert. Die Differenzen mündeten im 5-Tage-Krieg um Südossetien und
Abchasien. Das Verhältnis beider Länder ist bis heute angespannt.
In der
Ukraine ist die Präsidentschaftswahl von 2004 entscheidend gewesen. Damals
haben sich die Ukrainer schon zwischen einem westlich (= Juschtschenko) und
einem östlich (= Janukowitsch) orientierten Kandidaten entscheiden müssen. Janukowitsch
gewann zwar die Wahl, aber man ging von einem Wahlbetrug aus und ein Protest begann.
Die sog. Orangene Revolution. Es kam zu einer schweren innenpolitischen Krise,
die Moskau überhaupt nicht gefiel. Das Land war tief gespalten und zerstritten.
Das oberste Gericht entschied, dass die Stichwahl wiederholt werden musste und
diese entschied Juschtschenko für sich. Der Kreml ist entsetzt gewesen. Russland
hat sich abgelehnt gefühlt. Der zivilgesellschaftliche Protest in der Ukraine
hat den Kreml so verängstigt, dass Gesetze verabschiedet worden sind, mit
denen man verhindern wollte, dass in Russland so etwas wie in der Ukraine geschehen
kann.
Und auch das
Jahr 2013 ist ein wichtiger Einschnitt gewesen. Damals hat sich die Ukraine zwischen
einer Annäherung an die EU oder an Russland entscheiden müssen. Eine Zustimmung
zum Assoziierungsabkommen bedeutete eine Absage an die Zollunion mit Russland. Als
das Abkommen der EU im letzten Moment abgelehnt werden sollte, kam es zu
neuerlichen Protesten im Land. Die Situation eskalierte. Es kam zu Todesfällen
und Janukowitsch musste fliehen. Die Ukrainer hatten damals keine Angst sich
gegen die Gewaltanwendung zur Wehr zu setzen, die gegen sie eingesetzt wurden. Gleichzeitig
hat Russland damals Gegenmaßnahmen ergriffen und die Krim annektiert. Der Krieg
mit der Ukraine begann…
Auch die
Ereignisse in Kirgisistan nimmt der Autor in den Blick. Auch dort ist es
angesichts des Vorwurfs einer Wahlfälschung zu Tumulten gekommen. In Russland
hat sich die Ansicht verbreitet, dass die Revolutionen von außen gesteuert
werden (v.a. von den USA). Nach Esipov hat Russland folgende Lehre aus den
Ereignissen in Georgien, der Ukraine und Kirgisistan gezogen: Die Schwächung
der Zivilgesellschaft! Am Beispiel von Belarus erläutert der Autor aber auch,
dass die Proteste nicht überall in sog. postsowjetischen Ländern zu Erfolg geführt
haben. Lukaschenko hat sich mit massiver Gewaltanwendung an der Macht
gehalten (unterstützt auch durch Russland). Dort ist die Opposition brutal „niedergeknüppelt“
worden.
Kapitel 12 –
Der allgegenwärtige Tod
Der Autor
beschreibt eine Verrohung des medialen Alltags. Im Fernsehen werden häufig
Gewaltverbrechen gezeigt. Mord und Totschlag bestimmen das Programm, und
das zu jeder Sendezeit. V.a. drei Ereignisse sind medial ausgeschlachtet
worden und haben die Gesellschaft in einen lethargischen Ohnmachtszustand
versetzt: 1. Der Untergang der Kursk, 2. Die Geiselnahme im Bolschoi-Theater
und 3. Das Attentat auf eine Schule in Beslan. Diese nationalen Tragödien sind von der Bevölkerung hoffnungsvoll am Fernseher verfolgt worden. Die Russen
haben auf einen guten Ausgang gehofft und sind dann doch enttäuscht worden.
Hinzu kommen die vielen Auftragsmorde, die v.a. in den 1990er Jahren ihren Höhepunkt erreichten.
Immer wieder hat es prominente Opfer gegeben (Journalisten, Politiker, Bänker,
Geschäftsleute etc.).
Kapitel 13 –
Die unerträgliche Gemütlichkeit des Seins
Der Autor
erläutert, dass die Sanktionen des Westens kaum Wirkung zeigen. Auf illegalen
Umwegen finden viele Markenprodukte doch ihren Weg in die Regale. In der
russischen Gesellschaft machen sich zudem Ohnmacht und Apathie breit. Das Gespräch
über die Ukraine wird gemieden. Die Hoffnung, dass die Sanktionen die
Bevölkerung kritischer gegenüber dem Regime werden lassen, hat sich nicht
erfüllt. Die Leidensfähigkeit und das Improvisationstalent der Russen ist immens.