Identität und Zugehörigkeit
Der Erzähler berichtet auch von
den ersten Jahren in Deutschland und davon, wie seine Eltern ein sog. „magasin“
eröffneten, in dem sie russische Spezialitäten verkauften. So konnten sie sich
ein Stück Heimat in der Fremde bewahren. Geschildert wird v.a. das Treiben im
Laden und Ansichten zum politischen Geschehen in Russland werden auch immer
wieder miteingeflochten. Später dann bricht der Ich-Erzähler nach Kiew auf, um
sich einen eigenen Eindruck vom Geschehen in der Fremde zu verschaffen und seine
Mutter davon zu überzeugen, dass sie den Fernsehlügen nicht mehr glaubt. Ob ihm
das gelingt, möchte ich an dieser Stelle aber nicht verraten…
Der Erzählton ist ironisch-humorvoll (am Ende des Buchs wird der Ton aber ernsthafter) und punktuell entdeckt man immer wieder kreative Wortspielereien und Wortneuschöpfungen (z.B. „zwangsberusste(n) Leute aus der DDR“, S. 17; „wiederenteinigte Länder“, S. 18; „der sich eine ordentliche Plauze anpelmenit hat“, S. 79; „zu meinen eigenen Wahrheiten umatmend“, S. 81). Zudem findet man immer wieder russischsprachige Einsprengsel in den Dialogen. Dabei ist mir jedoch aufgefallen, dass nicht immer alle Wörter übersetzt oder transliteriert werden (z.B. auch die Vulgarismen). Mich hat das zwar nicht gestört, ich könnte mir aber vorstellen, dass Leserinnen und Leser, die der russischen Sprache nicht mächtig sind, ab und zu darüber stolpern. Besonders gefallen haben mir auch solche Passagen, in denen der Ich-Erzähler über die russischen Wortbedeutungen philosophiert: „Im Russischen gibt es keinen Singular für die Uhr. Es gibt nur die Chessi, die Uhren, ganz egal, ob man nur eine oder 36,7 Millionen Uhren besitzt. Vielleicht steckt darin der Hinweis, dass die Menschen es sich nicht so einfach machen sollten, zu glauben, dass sie lediglich eine Zeit an der Hand hätten. Dass sie immer gleichmäßig ginge. Und nicht durch Gewalt unzählige Male gekrümmt, gestohlen, gebrochen oder zertrümmert werden kann" (S.104).
Das Buch ist für solche Leserinnen und Leser geeignet, die auf humorvolle Weise ein Stück migrantische Lebenswirklichkeit in Deutschland kennen lernen möchten und die sich dafür interessieren, was der Krieg in der Ukraine für Auswirkungen auf das familiäre Zusammenleben von Menschen mit einer osteuropäischen Einwanderungsgeschichte hat. Nicht zuletzt wird den Leserinnen und Lesern am Beispiel der Reise des Ich-Erzählers nach Kiew nahegebracht, wie der Kriegsalltag in der Ukraine verläuft. Überall erkennt der Erzähler Spuren des Krieges im Leben der Ukrainerinnen und Ukrainer. Es ist erstaunlich, wie die Menschen sich inmitten der täglichen Bedrohung durch Raketenangriffe in ihren Alltag einrichten und versuchen, Normalität aufrechtzuerhalten. Ein wichtiges Thema ist das der Mobilisierung. Schreckliche Gerüchte über den Militärdienst verbreiten sich. Und noch etwas fällt auf: Der Gebrauch des Russischen ruft in Kiew Ablehnung hervor. Nicht zuletzt vertieft der Roman wichtige Themen wie „Zugehörigkeit“ und „Identität“. So wird z.B. deutlich, dass bei allen Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Ich-Erzähler und seinen Eltern die russische Sprache das verbindende Element bleibt (auch wenn er oft an sich feststellt, dass ihm die russischen Wörter fehlen und er stockt). Es wird gut deutlich, wie sich der Ich-Erzähler zwischen den Kulturen bewegt und sich nicht völlig zugehörig fühlt. Ein Identitätskonflikt wird greifbar.
Das Einzige, was mich beim Lesen manchmal etwas aus dem Takt gebracht hat, waren die verschiedenen Zeitebenen, auf denen sich der Ich-Erzähler bewegt. Ich musste mich bei den Rückblicken stellenweise erst zurechtfinden, um zu erkennen, ob über die frühe Vergangenheit oder die erst kürzlich vergangene Vergangenheit berichtet wird. Der Ich-Erzähler springt bei seinen Erinnerungen etwas hin und her. Aber es war an keiner Stelle verständnishinderlich. Deshalb ziehe ich dafür auch keinen Stern ab.
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