Evie – eine „Wahrheits-Zauberin“
Der Psychothriller „Schweige still“ von Michael Robotham zeichnet sich
in meinen Augen durch eine zentrale Stärke aus: Die Konzeption der Figur Evie
Cormac, die in der Lage ist ihre Mitmenschen zu durchschauen und Lügen zu
erkennen. Sie ist eine sogenannte „Wahrheits-Zauberin“. Und was ich besonders
spannend finde. Diese Idee basiert auf einem realen Forschungsprojekt aus dem
Jahr 2006 (vgl. engl. truth wizard).
Der Thriller macht auf mich einen psychologisch fundierten Eindruck
und die Zeichnung von Evie ist absolut gelungen. Ich habe nun schon einige
Thriller gelesen, aber ein solch interessanter Charakter ist mir selten bei der
Lektüre begegnet. Evie, auch genannt „Angel Face“, hat ein besonderes Talent,
doch aufgrund ihres durchlittenen Traumas (vgl. Klappentext) agiert sie launenhaft
und nicht immer vorhersehbar. Mit ihrer besonderen Begabung verstört sie ihr
Umfeld. Sie provoziert, testet Grenzen und sie ist durch ihre Erfahrungen mit
Therapie psychologisch geschult. Sie ist ein unbequemer Geist und fühlt sich in
der staatlichen Obhut wie in einem Gefängnis.
Neben Evie agiert mit Cyrus Haven, einem Psychologen, eine zweite facettenreich
angelegte Figur in diesem Thriller. Besonders die Interaktion zwischen Cyrus
und Evie ist gelungen, es entwickelt sich anfangs eine Art Psychoduell zwischen
beiden, später dann wird Cyrus zu Evies Retter und zu einer wichtigen
Bezugsperson für sie. Durch ihn kann befreit sich Evie aus der Amtsfürsorge und
kann ein selbstbestimmtes Leben führen. Er nimmt sie als Pflegekind bei sich
auf. Und auch das gemeinsame Zusammenleben und Zueinanderfinden wird gut
erzählerisch entwickelt.
Cyrus und Evie sind unheimlich anziehende Figuren, die viel Reiz auf
mich als Leser ausübten. Vor allem Evies Wunsch nach Selbstbestimmung ist so nachvollziehbar
für mich! Gleichzeitig macht sie sich durch ihre emotionalen Ausbrüche selbst
das Leben unnötig schwer. Sie trägt eine ungeheure Wut auf die Welt mit sich
herum.
Als besonderes Highlight habe ich es immer empfunden, wenn Evies
Weltwahrnehmung intensiver geschildert wird. Richtig Spaß gemacht hat mir das
Buch an der Stelle, als sie in einem Casino pokert und die Bluffs ihrer Gegner
ohne Probleme durchschauen kann.
Auch die erzählerische Gestaltung hat mir sehr gut gefallen. Durch die
Ich-Perspektive sind wir sehr nah an den Figuren dran, wir tauchen tief ein in
ihre Gedankenwelt, die auf mich durchdacht und plausibel wirkte. Absolut
lobenswert! Und in der zweiten Hälfte des Buchs zieht die Spannung noch einmal
spürbar an.
Das einzige, was ich an diesem Thriller kritisieren kann, ist der
Umstand, dass ich mir gewünscht hätte, dass Jodie aufgrund ihres Talents noch mehr
in die Ermittlungen von Cyrus einbezogen wird. Ich vermute, dass das in den
Nachfolgebänden stärker der Fall sein wird. Ich werde diese Reihe auf jeden
Fall weiter verfolgen.
Fazit:
Ein Psychothriller, der seine Gattungsbezeichnung wirklich
verdient. Die Figuren sind reizvoll konzipiert und fundiert psychologisch
unterfüttert. Insbesondere Evie ist ein interessanter Charakter, der auch eine spannende
Entwicklung durchläuft. Ich vergebe knappe 5 Sterne, weil die Spannung noch
etwas höher hätte ausfallen können.
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