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Freitag, 24. November 2023

Macintyre, Ben - Der Spion und der Verräter




4 von 5 Sternen




Einblick in eine geheime Parallelwelt


Normalerweise sind Agenten-Geschichten nicht so mein bevorzugtes Terrain, v.a. wenn es um Thriller geht. Doch bei „Der Spion und der Verräter“ von Ben Macintyre habe ich eine Ausnahme gemacht. Warum? Weil es um eine „echte“ Geheimdienstgeschichte aus der Zeit des Kalten Kriegs geht, die vom Autor in mühevoller Detailarbeit nachgezeichnet worden ist. Macintyre hat innerhalb von drei Jahren mit Oleg Gordijewski 20 Interviews geführt und dabei 100 Stunden an Aufnahmen gesammelt und ausgewertet. Und auch mit allen MI6-Mitarbeitern, die an dem Fall beteiligt waren, konnte er sprechen. Zusätzliche erhielt er Unterstützung durch ehemalige KGB- und CIA-Beamte. Lediglich ein Zugang zu den Akten des Intelligence Service blieb Macintyre verwehrt (vgl. dazu die Danksagungen, S. 475). Und genau diese Recherchearbeit macht für mich den Reiz dieses Buchs aus. Wir erhalten als Leser:in so die Möglichkeit, am Beispiel der Geschichte des Doppelagenten Oleg Gordijewski einen Einblick in eine geheime Parallelwelt von Geheimdiensten zu werfen und lernen dabei noch etwas über den Verlauf des Kalten Krieges kennen, das im Verborgenen ablief, unbemerkt von der normalen Bevölkerung.

 

Was ich besonders interessant fand, war die Darstellung des Innenlebens des KGB. So findet man zu Beginn einige Passagen, in denen es um die Rekrutierungspraxis und die Arten der Spionage im Ausland geht. So gibt es z.B. legale und „illegale“ Spione: „Die ersten arbeiteten unter offizieller Tarnung als Angehörige des sowjetischen diplomatischen oder konsularischen Personals (…) im Gegensatz dazu hatte ein ‚illegaler Spion‘ (…) keinen offiziellen Status, reiste normalerweise unter falschem Namen mit falschen Papieren und fügte sich unauffällig und unsichtbar in das jeweilige Land ein“ (S. 23). Auch das Spionage-Instrument der Observation wird am Beispiel von Gordijewski sehr anschaulich und nachvollziehbar deutlich.

 

Den roten Faden des Werks bildet die Biographie Gordijewskis. Wir verfolgen als Leser:in mit, wie er vom KGB rekrutiert wird, und erfahren, dass es sein Ziel ist, ins Ausland zu gelangen. 1965 gelangte er dann z.B. nach Dänemark, wo er als Konsularbeamter arbeitete. Es wird gut deutlich, dass Oleg die Freiheit in Dänemark genießt und es allmählich zu einer Entfremdung von der Sowjetunion kommt. Insbesondere die Geschehnisse um den Prager Frühling 1968 ließen ihn an seiner Heimat zweifeln und führten letztlich zu einem Bruch mit dem kommunistischen System. Er entschließt sich zu einem nach seinem Empfinden gerechten Verrat, es kommt zur Anwerbung durch den MI6 und Gordijewski entschließt sich, zwei geheime Leben parallel zu führen. 1982 wird er dann als KGB-Mann in London eingesetzt. Und im Verlauf des Buchs wird klar, welche Leistungen Oleg vollbracht hat. Er sammelte wichtige Informationen, die er dem Westen zukommen ließ. Damit konnte er teilweise krisenhafte Konfrontationen zwischen den Großmächten verhindern (vgl. dazu das Projekt ABLE ARCHER, S. 247 ff.).

 

Der Erzählstil war nach meinem Empfinden überwiegend sachlich und gerade zu Beginn nicht sehr packend. Die Informationsdichte war stellenweise immens. Ich musste mich stellenweise ganz schön durch den Text „durchackern“, wenn ich jeden Fakt gedanklich aufnehmen wollte. Macintrye ist ein unglaublich detailversessener Autor. Das ist fordernd. Darauf sollte man sich im Vorfeld einstellen. Gleichzeitig beweist es die unglaublich exakte Recherche des Autors. Erst gegen Ende des Buchs, als es um die drohende Enttarnung Gordijewskis geht und er vom MI6 aus Moskau gerettet werden muss, wird es mitreißend und spannend. Bei der Schilderung dieser Momente wird die Anspannung gut spürbar, die Oleg durchlebt haben muss. Er muss in einer großen Notsituation gewesen sein, wenn er sogar seine Frau und die beiden Töchter in Russland zurückließ.

 

Was ich auch gelungen finde: Der Autor widmet sich beiläufig der Frage, warum jemand überhaupt spioniert und die eigene Sicherheit aufs Spiel setzt. Was für ein Typ Mensch muss man sein, um ein solches Risiko einzugehen? Wie ist man gestrickt, wenn man ein Doppelleben führt und sogar seiner Ehefrau nicht verrät, dass man ein Spion ist? Am Beispiel von Gordijewski kommt die Mentalität eines Agenten gut zum Ausdruck, wie ich finde. Oleg begibt sich immer wieder in Gefahr, riskiert sein Leben, bleibt trotz aller Observation und Bedrohung nervenstark. Sein Agieren ist oft heikel. Dennoch fiel es mir schwer, mich in ein solches Leben hineinzudenken und es zu verstehen. Zu fremdartig ist diese Welt. Für mich bleibt es rätselhaft, wie jemand sich dazu entschließen kann, ein solches Dasein zu führen, konfrontiert mit ständigem Misstrauen und selbst unaufrichtig gegenüber anderen. Noch dazu das ständige Risiko, entdeckt zu werden, dem Gefühl der Überwachung fortlaufend ausgesetzt zu sein.

 

Was ebenfalls deutlich wird: Die Überwachung ist allgegenwärtig, auch innerhalb des KGB selbst. Unvorstellbar, wie das Lebensgefühl in der Sowjetunion ausgesehen haben mag. 280 Mio. Menschen innerhalb schwer bewachter Grenzen mit über 1 Mio. KGB-Offizieren und Informanten als Aufpasser (vgl. S. 125). Und hinzu kommt das Gefühl von Angst und von Paranoia, was sich vor allem an der Reaktion auf das NATO-Manöver (Codename ABLE ARCHER) von 1983 zeigt. Noch heute findet man dieses Gefühl des Misstrauens gegenüber dem Westen ja in der russischen Propaganda wieder, wenn man Reden des russischen Präsidenten hört. Es zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Putin bedient damit heute wieder ein Gefühl, das noch aus der Zeit des Kalten Kriegs stammt und im kollektiven Gedächtnis der Russen gespeichert ist. Gleichzeitig forderte das „Muskelspiel“ der NATO die Sowjetunion auch immer wieder heraus und ängstigte sie. Wie lässt sich dieser Teufelskreis nur durchbrechen?

 

Ein kleiner zusätzlicher Bonus sind 48 kleinformatige schwarz-weiße Fotos aus dem Leben von Oleg Gordijewski, die an zwei Stellen im Buch gebündelt präsentiert werden. So hat man zu den Namen aus dem Buch auch die dazugehörigen Gesichter. Das fand ich sehr hilfreich. Auch das Nachwort ist gelungen. Darin wird auf die unterschiedliche Wahrnehmung von Gordijewski hingewiesen. Während er in Großbritannien große Wertschätzung erfährt und zahlreiche Ehrungen erhielt, gilt er in Russland vielen noch als Hassfigur, als ein Verräter aus den eigenen Reihen. Sein Leben muss bis heute ständig geschützt werden, weil ein Anschlag auf sein Leben nicht ausgeschlossen ist. Ich gebe diesem Buch 4 Sterne. Warum nicht 5 Sterne? Weil es mir zu Beginn dann doch stellenweise zu kompakt und dicht geschrieben war. Die Lektüre war dann manchmal mehr „Arbeit“ als Vergnügen.

1 Kommentar:

Volker Kaiser hat gesagt…

Eine gelungene Rezension. Man kann sich ein Bild davon machen, worauf man sich einlässt, wenn man dieses Buch lesen möchte.
Wie du den Bogen zu Putin spannst, ist ebenfalls gut gelungen. Ich gebe dir 5 Sterne 👍 VG

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